Schöne Interferenzen entstehen gelegentlich: «Ich muss Ihnen sagen, dass ich regelmäßig ein Vergnügen dabei habe, die Worte in dem Sinne, wie meine bescheidene Bildung ihn mir in einem Schatzkästlein mitgegeben hat, zu verwenden und sie daneben schillern zu lassen in der Art, wie unsere Zeit sie verwendet — es kommen die schönsten Interferenzen zu Tage.»An dem Punkt des lustvoll-freien Umgangs mit Sprache will ich ja gerne rechtgeben und auch zustimmen. Ich selbst widersetze mich ja auch ganz gerne den Sprachgesetzgebern, oft aus Spaß am freien Umgang, aber auch nicht selten aus Gründen der Schludrigkeit. Und so etwas wie ein Sprachpolizist will ich zuallerletzt sein. Mir wäre im konkreten Fall vorzuwerfen, bei Ihrer Äußerung nicht ausreichend nachgedacht zu haben. So gesehen bin ich Ihrer fröhlichen Fliegenfängerei ja auch prompt auf den Leim geflogen. Wahrscheinlich spülte sich das aus meinem Hinterkopf nach vorn: Da gibt es beispielsweise «aufklärerische» Beiträge im Sinn der Wissensverbreitung durch öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder Fernsehen; von dem ich nicht mehr zu verjüngender Idylliker nach wie vor meine, daß er auch einen weiter- oder tiefergehenden* (Bildungs-)Auftrag hat, wie ihn etwa der früher geschmähte Bayerische Buntfunk erfüllt und gerade die «Kinder der heutigen Zeit» ihm deshalb Glauben schenken dürften, müßten, sollten. Dort (von ArteRD bis ZDF) werden in letzter Zeit immer häufiger Begriffe mangels Wissen (woran nicht alleine der EU-gemeine Bachelor schuld ist) falsch eingesetzt. Dann darf ich mich nicht wundern, daß es zu Bedeutungsverschiebungen kommt, die weit über die allgemeine Anpassung ans Umgangssprachliche hinausgehen. So kam es zum Beispiel dazu, daß ich, in der Runde um unseren Jüngsten sitzend, der sich vor einiger Zeit der Privatglotze ab- und dem sogenannten Bildungsfernsehen zugewandt hat, diesen verdutzt fragend anschaute, als er mir und seinen Freunden etwas von der autarken Linken erzählte. Er hat den Begriff aus einer arteigen «Dokumentation» und findet ihn fortan «kuhler» als autonom. Und die mittendrin sitzende universitätsdiplomierte junge Frau sowie ihr Doktorand nickten dazu. Da komme ich dann irgendwie ein wenig durcheinander. Allerdings ist eine elektronische Kladde ohnehin oder auch glücklicherweise keinem Rundfunkstaatsvertrag unterworfen ... * Rundfunkstaatsvertrag: 15. unter Bildung insbesondere Folgendes zu verstehen: Wissenschaft und Technik, Alltag und Ratgeber, Theologie und Ethik, Tiere und Natur, Gesellschaft, Kinder und Jugend, Erziehung, Geschichte und andere Länder
Pseudo- und Synonym
VG Wort heißt in Kurzform die Gesellschaft, die meine zu Worten verketteten Wörter verwertet. Die geschriebenen, nicht die gesungenen. Für die ist die GEMA zuständig. Und für die gemalten die VG Bild-Kunst. Wenn ich mich recht erinnere, bin ich seit 1975 «Wahrnehmungsberechtigter» dieses Vereins; so genau weiß ich es nicht mehr. Damals habe ich — unfähig, leserlich zu schreiben — noch Kärtchen im DIN-A5-Format in meine damalige elektrische Olympia eingespannt und gerade über den Äther gegangene eigene Ergüsse fein säuberlich Buchstaben für Buchstaben in Kästchen für Kästchen hineingehackt: Name, Wahrnehmungsberechtigtennummer, Titel des Beitrags, jeweilige Anstalt des öffentlichen Rechts und was sonst noch gefragt war, das obere Blatt für mein Archiv abgezogen, auf die Karte selbst ein Briefmärkchen geklebt und es postalisch auf den Weg gebracht, auf daß es mir im Jahr darauf ein Gutteil der Gesamtausschüttung bringe. Ja, bringe. Durch den Briefträger, dieser freundliche ältere Herr, der damals an der Wohnungstür klingelte, sein Postfüllhorn öffnete und das sozusagen im Schlaf verdiente Geld über mich schüttete; zu dieser Zeit erhielt ich sogar Honorare noch aus der Brieftasche des Postbeamten. Als ich etwas später diese ausgefüllten Kärtchen stapelweise in einen Umschlag steckte und in die VG Wort-Zentrale expedieren ließ, hatte der Postmeister ordentlich was zu liefern. Den einen oder anderen Kurzurlaub hat mir das finanziert. Aus den Kärtchen wurden leichter in die Maschine* einzuspannende Formulare aus Thermopapier, auf deren zu archivierenden Durchschlägen man in der Regel nach einem Jahr nicht mehr lesen konnte, was man geleistet beziehungsweise in den Äther gesprochen hatte. Egal, wesende Formulare gehören ohnehin nicht eben zu meiner bevorzugten Lektüre, und auf die VG Wort war immer Verlaß, was die Abrechnung betrifft; jedenfalls habe ich allen Grund, das anzunehmen. Als ich einige Jahre danach von der gesprochenen Kultur zur gedruckten übergelaufen war, überwiegend abseits der Aktualität agierte und nur noch seltener funkte**, sahen die Formulare anders aus. Die Abteilung Wissenschaft präsentierte dann wieder andere Vordrucke. Jeder Disziplin eine eigene Ordnung. Die letzten Jahre habe ich allerdings gar nichts mehr gemeldet, weil meine zunehmende Formularphobie Ausmaße angenommen hatte, die in keinem Verhältnis mehr zum Ertrag stand. Vermutlich verhielt der sich ohnehin wie die Honorare des Rundfunks zu denen des Blätterwaldes. Letztere waren immer vergleichsweise mickrig. Das gedruckte Wort erfuhr eine höhere ideelle Wertung, weshalb die Autoren mit fetten Würsten in die Funkhäuser gelockt wurden. Allerdings wollte das indirekte Staatsgebilde Hörfunk in fürsorglicher Weise auch Verdienstmöglichkeiten bieten. Hinzu kam, daß man ein aktuelles Thema immer wieder umgeschrieben auch schonmal fünf- oder gar zehnfach verkaufen und davon eine Woche recht gut leben konnte. Man kassierte jeweils «Werk»- und «Sendehonorar». Es wurde stillschweigend geduldet. Heutzutage handeln die einzelnen Rundfunkanstalten das untereinander aus, der Autor erhält lediglich das Sendehonorar, also die Hälfte. So reime ich mir das mal zusammen, denn auf dem laufenden bin ich nicht. Ich bin ja seit langem raus, zudem lasse ich es schon seit ewigen Zeiten sein mit dem Formularwesen. Wieviel Geld ich auf diese Weise anderen überlassen habe, ahne ich nicht einmal, aber ich gönne es den Kolleginnen und Kollegen. Einer von diesen ist mein Weggefährte seit den siebziger Jahren, Hans Pfitzinger, der, der seit vergangenem Jahr mit seinem tazblog eine gewisse tageszeitung gegen ihren Anspruch alternativer Wahrheit bürstet. Der teilte mir vor einiger Zeit mit, die VG Wort vergüte mittlerweile auch im Internet veröffentlichte Texte. Wenigstens die Verwertungsgesellschaft Wort reagierte zeitgemäß und ausgleichend — etwa gegenüber den Verlagen, die zwar auch auf neue Techniken setzten, aber für jeden winzigen Schritt an Investition die Honorare minderten. Und zwar lange, bevor die Finanzen die Krise kamen, eigentlich bereits seit der Übernahme der Ostzone durch das westdeutsche Kapital. Da das allesamt die östlichen Regionen zu schmieren hatte oder zumindest so tat, war kein Geld mehr da für die Butter, die die Lieferanten der Inhalte sich aufs Brot schmieren wollten. Wenn ihr kein Geld für Butter habt, dann müßt ihr eben Margarine essen. Oder so. Nun denn, die VG Wort schüttet auch an diejenigen aus, die im Bereich Druck oder germslangig Print ausgehungert werden sollten und deshalb in die elektrischen Verlautbarungsmöglichkeiten geflüchtet waren, um wenigstens noch wahrgenommen zu werden; schließlich haben die Presseagenturen nur begrenzte Beschäftigungskapazitäten. Allerdings verdrängte meine Formularfurcht diesen eventuellen Nebenverdienst; zumal ich befürchtete, meine bescheidenen Computerkenntnisse könnten mir Niederlagen einbringen bei den Meldungen der vielen Texte. Vorgestern nun erhielt ich eine verzagende eMail, in der geschrieben stand: «... wenn ich so etwas sehe, komm ich mir vor wie der letzte oder vorletzte Dödel. Aber vielleicht schaust du's dir mal an und meldest mir rück, ob du da auch auf dem Schlauch stehst.» Ich wäre normalerweise bereits im zweiten Absatz ausgestiegen; schon alleine deshalb, da «Technologien» eingesetzt werden statt Techniken. Aber auf die Bitte von hap hin habe ich versucht weiterzulesen in diesem Kanzleitextquallendeutsch. Nun stehe ich nicht nur auf dem Schlauch, sondern kopfschüttelnd da und frage mich: Will die VG Wort am Ende gar nicht mit dem Geld rausrücken, das den Autorinnen und Autoren zusteht? Denn wenn einer wie ich bereits von gedruckten Formularen abgeschreckt wird, wie wird er dann erst handeln, wenn er solches vor sich hat: Informationen zum MEldesystem für Texte auf Internetseiten Für den einen oder anderen mag sich das ja lesen wie die tägliche Dosis aus dem BILDungsblatt. Aber geistig Unterbelichtete wie unsereiner fragen: Will man uns auf die alten Tage umpolen zu Informatikern, die nach dem Prinzip des Glokal-Journalismus funktionieren, so die Kosten um rund zwei Drittel reduzieren? Oder was reitet die Verantwortlichen dieser altehrwürdigen Institution ansonsten, eine solche Autorenabschreckungsmaschinerie in die Netzwelt zu stellen? Wer profitiert davon, wenn voraussichtlich viele ermattet die Segel streichen, also die Margarine auch weg- und denen die fette Butter überlassen, die es sich leisten können, für VG-Wort-Meldungen einen versierten Hieroglyphenanalytiker zu beschäftigen? Und sei es einer im fernen Indien. Was waren das für selige Zeiten, als es lediglich einer papiernen Brief- und keiner elektronischen Zählmarke bedurfte. * die dann, diese wunderschöne tonnenschwere, von der Firma IBM kam und mehrere Kugelköpfe zur Verfügung hatte, mittels derer man unterschiedliche Schriftbilder gestalten konnte; quasi der Vorläufer des Computers ** dabei aber immer, bis zu ihrem Ende, in alter Liebe der Rundfunk-Fernseh-Film-Union verbunden blieb
Platt und Volkstheater Bei letztgenanntem Begriff, lieber Hanno Erdwein, habe ich zunächst mal meine Bedenken. «Für den Münchner Ober-Grantler Gerhard Polt ist der Begriff Volkstheater ein Widerspruch in sich: Was sei denn, meinte er anläßlich der Diskussion um die Notwendigkeit einer solchen Institution, das Publikum im Parkett eines Theaters anderes sei als das Volk?» Lesen Sie mal in den den Text des Kollegen unter diesem Link hier rein, der ist zwar schon etwas älter, aber das Rad des Thespiskarrens rollt ja auch schon eine ganze Weile. Oder so: Was in der Regel als solches ausgewiesen wird, zähle ich nur bedingt dazu. Wenn Sie jedoch das ursprünglich Mundartliche – das auf diesen sogenannten Volksbühnen in der Regel nichts ist als eine synthetisch gequirlte, für den Tourismus aufbereitete, na ja, Masse ist – meinen, dann rücken wir zusammen. Früher konnte ich gar nichts damit anfangen, vermutlich, weil mir jeder geographische Bezugspunkt fehlte und ich idiomfrei deutsch gelernt hatte. Aber mit der vor etwa zwanzig Jahren einsetzenden Altersweisheit zog bei mir wohl die Erkenntnis ein, daß uns da eine ungemeine kulturelle Vielfalt verlorengeht, wenn die Dialekte zusehends verschwinden. Das dürfte zur Folge haben, daß bald nur noch ein undefinierbarer Kauderwelsch zur Verfügung stehen wird, der keiner Region mehr zuzuordnen ist. Wie beim Essen, das für viele junge Menschen ja heute schon aus der Fabrik kommt und die nicht mehr in der Lage sind, den Geschmacksunterschied zwischen Erbsen und Linsen zu erkennen, da alles unter einer industriell vorgefertigten Gewürzpampe verschwunden ist. Die sich häufenden Kochsendungen dürften damit einhergehen: Das kochende Volk spürt, wie sehr sein Organ verkümmert, da es kaum noch gebraucht wird. Daselbe dürfte auch auf das allgemein angestiegene Interesse an regionalspezifischen Sprachen zutreffen. Das trifft nicht nur auf die deutschen Lande zu. Gut in Erinnerung habe ich noch, welchen außerordentlichen Zulauf beispielsweise im Südwesten Frankreichs etwa seit Anfang der neunziger Jahre das Okzitanische hatte, das vom zentralistischen Paris quasi verboten und wieder zugelassen worden war, als man merkte, wie sehr die EUropäisierung die eigene altsprachliche und literarische (Ur-)Kultur verdrängte. Nicht anders dürfte die Zuwendung zu werten sein, die die deutsche Sprache an sich und die einzelnen Dialekte im besonderen des deutschen Sprachraums erfahren. Koch- und Sprachauftritte diverser Prominenter sind dabei vermutlich bei weitem mehr als Kuriosa; denn ohne die scheint es offensichtlich nicht zu gehen, muß auf ein Problem oder auch Phänomen aufmerksam gemacht werden, und sei es, sie funktionierten als schlichte Aufhänger. Meines Erachtens lugt dabei aus allen Ecken eine Renaissance der Romantik. Das ist nicht einmal bedingt unfreiwillig komisch. Renaissance bedeutet Wiedergeburt, Wiedererwachen; als Epoche die Wiederbelebung der griechischen und römischen Antike in Europa. Nun gut, die alten Römer kannten immerhin Bad, Toilette und Zement. Aber während der Romantik sehnte man sich nach dem Mittelalter — zurück zur quasi naturbelassenen Natur, ungeachtet des Kots und des Unrats, der mitten durch die Dörfer floß. Es war die Angst vor dem Verlust des Lebens durch eine zunehmende Industrialisierung, die viele Menschen in die heimeligen Erdlöcher trieb, aber auch großartige, scharfsinnige Poeten wie E. T. A. Hoffmann, Novalis und zum Ende hin Heinrich Heine hervorbrachte. Ähnliches ist heute wieder zu beobachten. Die einen gehen in den Wald, singen liebliche Lieder, würden in ihrer Not auch auf sanitäre Anlagen verzichten, glauben sinnsuchend wieder vermehrt an den da oben und kämpfen nach dem Freiluftgottesdienst mittelalterliche Schlachten nach. Und am Rand schreiben einmal mehr (nicht ganz so?) große Geistesgrößen wie ich kokett Geschichtchen vom verlorenen besseren Leben auf, die nichts anderes bedeuten als jene klaglose Hoffnungslosigkeit, die den dichterischen Geniussen der Romantik immanent war. Wenn es einen Sprachraum gibt, der mir schon immer wohl in den Ohren klang, dann ist es der norddeutsche. Begründen kann ich das nicht, habe ich doch keinerlei Wurzeln dort. Sprachlich und musikalisch unbegabt, wie ich leider bin*, werde ich auch das nicht lernen, das so köstlich liederlich bei mir ankommt, wenn mir der gerade noch verbliebene Bauer op'n Dörp weise sagt: «Sei moal weck'n Tähn di stött, wenn d' upp d' Kriessoag sittst! — So geiht dat dat Mäk'n ok, de wett ok nich, von wäm se dat Jöör hett!»** Aber ich bin mir dessen gewiß: Wenn wir dieses Theater, das ja das Volk und dessen Kultur spiegelt, nicht festhalten, dann können die in zweitausend Jahren noch so tief graben, aber finden werden sie nichts; nicht einmal die Grabräuber der unbezähmbaren Gold- oder Geldsucherei. Wenn ich also auf solche Seiten verweise wie auf die von Wolfgang Biegemann in Husby, dann nicht nur des Klamauks wegen, der dabei anklingen könnte. «Die richtige Internetseite für alle, die bereits im niederdeutschen Fahrwasser schwimmen», setzt er zwar als Motto ein, «aber», fügt er an, «besonders auch für diejenigen, die noch zögernd am Ufer stehen.» Ich bin ein solcher Zögerling, der sich allerdings bewußt ist, daß er fortgerissen wird, wenn er nicht mitschwimmt, solange es es noch ein Wässerlein ist. Und die gar nicht genug zu lobende Arbeit eines Liebhabers — wie der Dilettant*** früher mal hieß — wie Biegemann (und anderer!) steht für mich zweifelsohne als Synonym auch für andere Sprachregionen. Längst haben sich die Linguisten an den Universitäten der Protokollierung angenommen. Doch ohne Unterstützung aus dem Volk dürfte nichts gehen an diesem Theater. * Auch fast dreißig Jahre Bayern haben mich die unterschiedlichen Landessprachen nicht zu lehren vermocht. ** «Sag mal welchen (Säge-) Zahn du dir stößt, wenn du auf der Kreissäge sitzt! — So geht es dem Mädchen auch, sie weiß auch nicht, von wem sie das Kind hat.» *** So er in diesem Fall überhaupt einer ist und nicht ohnehin Sprachforscher?
Aus dem Osten und nicht aus dem Fernsehen kämen die Leute, meint hap, «die mit zweimal zwei Fingern» ihre «eigene Tütteligkeit apostrophieren». Das würde erklären, weshalb es in letzter Zeit verstärkt zu dieser außergewöhnlich temperamentvollen Weise deutschen Körpersprachenausbruchs kommt. Sie sind ja wirklich überall, nicht nur im Fernsehen. (Wohinein sie's, nach der pfitzingerschen Erkenntnis, getragen haben könnten. Vielleicht war's am Ende gar die TV-Abfragerin an der Seite des oberen Mannes von Magenta?) Stieg ich früher irgendwo auf der Welt aus der Bahn, dem Flugzeug, dem Auto — der Igel Schwabe war unüberhörbar schon da. Aber er scheint, zumindest in den deutschsprachigen Gebieten, verdrängt worden zu sein vom Menschen aus dem Osten. Wobei man den in der Regel nur erkennt, wenn ihm jenes Idiom aus dem nicht ganz so flinken Munde quillt, das zu Herrn Geheimraths Zeiten in Weimar deutsche Hochsprache war (weshalb er mit seinem Frankfodderisch anfänglich auch solche Verständigungsschwierigkeiten hatte). Die aus der nordöstlicheren Geographie sind für den dialekttechnisch Ungeübten auch schonmal mit Schleswigholsteinern oder den ganzen Randberlinern zu verwechseln. Und ständig fragen sie, den Schwaben darin nicht unähnlich, einen nach den eigenen Wünschen. Nur daß diese Wessies das aus offensichtlich angeborener Hilfsbereitschaft und freundlichem Mitteilungsbedürfnis tun, weshalb man ihnen gar nicht böse sein kann ob ihrer nicht endenwollenden Geschwätzigkeit. Während die von weiter rechts auf der Landkarte mit ihrem nicht ganz so ausgeprägten Redefluß überwiegend ihren Lebensunterhalt bestreiten. Deren geographische und, vor allem, mentale Herkunft wird in der Regel erkennbar an der Antwort auf die Frage, worin denn der Unterschied zwischen dem angebotenen und sicher in jedem Fall außerordentlich leckeren Zigeuner- und dem Paprikaschnitzel läge: «Des eene is (zweimal zwei Finger nach oben:) teurer. Mir ist es lieber, vom hinzugekommenen Chef unserer Bedienung aus Apolda ans Händchen genommen und zudem körpersprachenreich in dessen Küche entführt zu werden. Er hat seine vom genuesischen Vater in den sechziger Jahren gegründete pizzerische Trattoria in Trochtelfingen (der Bruder lebt im holsteinischen Preetz gastronomisch noch von Pizze aus dem nahen, überaus preiswerten Supermarkt) zugunsten der Almhütte aufgegeben, da der Mensch seine schmackhaften, in Kirgisien vorgekauten und in Usebekistan konservierten Kartoffelteigtäschchen nicht mehr goutiert, sondern seinen Globalmagen auf japanische Fischröllchen aus der Volksrepublik China umgestellt hat. Nun betreibt er seine Gipfelküche hart an der Grenze nicht nur zu Österreich und bietet unter anderem gemeinverständliche Küche in gesamtdeutscher Tradition an. Anders sei, erläutert er mir in einem von keinem komödiantisch noch so begabten Kabarettisten nachstellbaren italienischen Schwäbisch (das vom türkischen verdrängt zu werden droht), dabei mit den Schultern seine Ohren einklemmend, die Hände auf Brusthöhe anhebend sowie deren Flächen nach oben drehend, anders könne man in dieser hochgebirgigen Geschmackswüste nicht überleben. Für Gäste wie mich hat er immer einige Feld- und Waldfrüchte als Anschauungsobjekte auf der Anrichte liegen, dazu viele Messer und Beile und Scheren und Zangen, überhaupt seine gesamte aus der Alb mit auf die Alm umgezogene batteria da cucina, die den manufactumorischen Charakter seiner mit den Mitteln der arte culinaria hergestellten Zigeuner- und Paprikasaucen belegen. Er bitte um Verständnis, hierbei gehen die Schultern nach oben, wobei die Hände fast bis zur Kopfhöhe aufragen und sich ebenfalls öffnend ein weites Feld symbolisieren, daß man in Ausnahmefällen auf Eingemachtes zurückgreifen müsse, etwa bei den geschälten Tomaten. Aber die kämen selbstverständlich aus bella Italia. Stellt eine dieser Fünfliterbüchsen auf den Tisch, lächelt warmherzig und fuchtelt liebevoll vor dem Aufdruck Made in Nederlands herum, währenddessen mit dem linken Fuß die Tür des Schrankes zuschiebend, in dem all die anderen eingedosten und -geschweißten Köstlichkeiten lagern. Gestenreich begleitet er mich zurück an den Tisch, wo seine Bedienung aus Apolda (immer noch oder schon wieder) mit staunend nichtssagendem Mund verweilt. Kaum am Tisch angelangt, zaubert er mir, die einer Adoption gleichkommenden Umarmung gestenreich ankündigend, erstmal einen Obstler hin. Ausse Südetirole. Auche bella Italia (ohne zweimal zwei Finger oben tüttelnd). Bei so einem esse ich hoch oben auf der Alm am Ende gar Thüringer (mit zweimal zwei Finger oben tüttelnd) Bratwurst. ••• Das mit dem Andenken, sach ich mal, muß ich erst andenken. Auch wenn ich das vor langer Zeit bereits mal angedacht habe, ist das etwas zurückgetreten in meinem Gedenken. Das wird daran liegen, daß ich seit längerem nicht mehr soviel mit diesen ganzen Andenkern zu tun habe. Wobei ich vorsichtig sein muß, daß, sollte ich übers neuerliche Andenken hinauskommen, mir nicht Schaum vor den Mund gerät und mir die Erdenker dieses Andenkens aus dem Werbe- und PR-Deutsch samt Kulturfolgern in den Redaktions- und Amtsstuben nicht ein ewiges Andenken auf die Glocke geben. Gut, die Keule kommt jetzt zunächst aus dem Osten geflogen. Bis ich mich davon erholt habe, denke ich erstmal daran: Ich denke, daß ...
Korinthenzählereien Ich habe ferngeguckt und muß deshalb mal wieder beckmessern. Kategorie Aus meiner Schublade oder mit Franz Villon Ich schrie(b) mir schon die Finger wund ... Darüber vor allem, was an Sprachverunfallungen (auch gerne aus der Schweiz übernommen, ebenso schwer en vogue wie schlußendlich) alleine über die Nachrichtensendungen derer geht, denen viele Menschen vertrauen, da ihnen nach wie vor etwas Seriöses anhaftet: der Öffentlich-Rechtlichen. Auch in den Kultursendungen hält man sich mit Fehldeutsch keineswegs zurück. Das Problem jedoch: Wenn die's sagen, muß es ja wohl richtig sein. (Über inhaltliche ‹Falschheiten› schweigt des Kritikasters Höflichkeit.) Wer einen lebenden Menschen nicht von einem lebendigen unterscheiden kann, der hält die deutsche Sprache für eine Schamhaarspalterei. Er sollte strafversetzt werden in eine (noch zu bildende) Wikipedia-Redaktion, um das Virus zu pflegen, das den Wortschatz wegfrißt und Bedeutungen mutieren läßt. (À propos: Früher gab es in Rundfunkanstalten mal sogenannte Sprachpfleger, die den ganzen Tag nur Radio hörten, um Fehler zu notieren. Sie wurden gerne belächelt. Ich lächelte, kehrten sie zurück.) Nahezu zwanghaft meint mittlerweile jeder, der eine Kamera in der Nähe sieht, mit zweimal zwei Fingern seine eigene Tütteligkeit zu apostrophieren, weil es ihm an Wörtern dazu zu mangeln scheint. Längst hat diese Neurose den gemeinen Zuschaueraffen erreicht. Es mag manch einem müßig erscheinen, sich darüber ärgern. Doch unsereins steht nunmal vor diesem Phänomen, das sich mit dem vielzitierten Wandel, der sogenannt lebenden, durchaus auch lebendigen Sprache eher weniger erkären läßt, sondern doch wohl auf eine fatale Bequemlichkeit zurückzuführen ist, die das geschriebene (und damit gesprochene) Wort solange reduziert, bis sowas wie eins plus eins übrigbleibt. Damit keine Mißverständnisse entstehen: Ich meine nicht die Sprachgesinnungstreue der Altvorderen, denen es allzu häufig um ein fragwürdiges Deutschtum geht, dessen Bodensatz aus nicht ganz ungefährlichen Inhaltstoffen besteht; die sich eben nicht nach einer guten alten Sprache sehnen, wie sie etwa bei den wunderbaren Sauf- und Wirrköpfen E. T. A. Hoffmann oder Jean Paul geschrieben steht. Da käme viel zu viel Phantasie auf. Ich meine auch nicht die deutschen, sich ach so international gebenden Eitelkeiten, die die italienische Bewegung des langsamen Essen und Genießens in bildungsbürgerliches Getöse umwandeln. Die wollen sich doch nur abgrenzen von den Nichtwissenden, sie weiterhin kleinhalten, anstatt sie teilhaben zu lassen an der ursprünglichen (und im Herkunftsland mit eher kastenloser Fröhlichkeit vermittelten) Botschaft: Lebensmittel sind Mittel zum Leben und stellen keine Subvention der chemisch-pharmazeutischen Industrie dar. Wer das Kraut frißt, das uns die Retorte als Wurzel verkauft, wer nicht weiß, daß die Retorte die Wurzel dessen ist, von dem einem schlecht wird, der kann nicht wissen, aus was Leben besteht. Es gilt, Zusammenhänge zu verstehen, auch die Einheit von Inhalt und Form. Wenn das nicht mehr gelernt (das heißt zunächst: gelehrt) wird, dann kommt Unverständnis auf, dann wird eben gnaden- und bedingungslos dahergeplappert. — Mir gehen einfach zuviel Sprachingredienzien verloren. «Als einen entsetzlichen (Kultur-)Verlust» empfindet manch einer das. Man hat keine Zeit mehr für so banale, unbedeutende Kleinigkeiten. Und so berührt die Unterscheidung zwischen Einwurf und Anwurf längst nicht mehr, nein, letzteres kennt das journalistische Bäuerchen nicht, worauf es ihm aufstößt, also für alle Zeiten weggelassen wird. Manchmal wähnt unsereiner sich in der sprachlichen Welt des Fußballspielers und dessen Gegner, den er bei seiner Blutgrätsche «doch gar nicht tangiert» hatte. Ständig müsse man sich diese ganzen Konglomerate anhören, klagte da einer, des vielen Wissens überdrüssig. Was interessiert das endlose Gelaber von tausend Jahre alten Dichtern und Denkern oder gar das altbackene, ewiggestrige Metapherngeraunze um sie herum? Sollen die doch denken, was sie wollen, diese Sprachhaarspalter, wir denken uns unsern Teil. Und der tendiert finanzmarktähnlich. Der ständige fehlerhafte Gebrauch von Worten und Wörtern führt zu einer anderen Art von «Brauchtum». So werden Fakten zu Facts, Informationen zu Infos. Sogar ganze Magazinsendungen werden nach diesen Sprach(hilf)losigkeiten benannt. Da zerbrechen sich auf sich und ihre geistige Reduktionierei stolzen Infotainment-Journalisten die Köpfe darüber, ob der Plural Labore oder Labors lautet und können Laboratorium oder Laboratorien nicht (mehr) aussprechen geschweige denn schreiben. Weiß von den Jüngeren eigentlich noch jemand — es sei denn, er hat Herrn Sick abonniert —, in wievielen Fällen der Dativ dem Genitiv sein Tod is? Er hört's in den ARD-ZDF-Nachrichten oder bei den elektrischen Medienbertelsmännern oder liest es anderswo, und deshalb spricht und schreibt er's auch: Wegen der vielen Lastkraftwagens ... Übers gedruckte Wort als Fehlerquelle mag sich der Erbsenzähler schon gar nicht mehr aufregen. Denn wie entgegnete noch der Doktorand dem hochschullehrenden Freund bereits Mitte der neunziger Jahre, als der eine positive Bewertung dieser Dissertation an einem Germanistischen Institut ablehnte, da sich pro Manuskriptseite etwa fünfzehn orthographische Fehler darin befanden: Er möge sich nicht so haben, er solle doch mal ins Internet schauen ...
Jäff Kuhns und Pol Klee hat sie gerade gesagt, die Ansagerin (= Moderatorin) auf NDR-Kaltjer, meinem Lieblingskulturkanal, der fast so stückchenhaft gut ist wie KlassikRadio. Klar, alles muß internationali-, anglisiert werden, sonst versteht's ja keiner. Aber vielleicht war es ja schweizerisch, so, wie es jenseits des Röschtigrabens gesprochen wird? So ähnlich wie hier.
Analyst vor Ort Das war ja zu erwarten, seit langem rechnete ich damit, und gestern abend bin ich erlöst worden, habe ich's endlich gehört: «Analyst» nannte die resche öffentlich-rechtliche phoenix-Dame im Gespräch mit dem SPD-Herrn (Dreßler) einen Politikwissenschaftler der Universität XY, der die akute Parteilage anal ... — ja, was denn nun, analystiert? klistiert? — hat. Hätte sie nun dem Nachwuchs angehört, der's nicht anders kann, weil im Bachelor-Schnellgang für solche Erbsenzählereien keine Zeit vorhanden ist, weil keiner mehr da ist in den Redaktionen, der's ihm sagen könnte, schulterzuckend resignierend hätte ich's hinnehmen müssen. Aber besagte gestrige Frau Moderatorin dürfte einem Jahrgang angehören, zu dessen Schul- und Studienzeiten man noch nichtmal eine Ahnung davon gehabt haben dürfte, wer oder was so ein deutscher Bachelor (nicht nur sprachlich) alles kaputtmachen kann. Der aus der Weltwirtschaftssprache Englisch zur besseren Unterscheidung oder zur stilvollen Abgrenzung gegenüber allen Unwissenden oder was auch immer erst gar nicht übersetzte Analyst ist immer noch der, der (mittlerweile gerne als Bachelor) alltäglich auf allen Kanälen allen, aber auch wirklich allen, die's nicht wissen wollen, die chaotische Situation an den Finanzmärkten noch mehr verunklart, weil er selber nicht weiß, weshalb die Börse mal wieder rauf- und runterhüpft und deshalb garantiert die Anlagetips gibt, mit denen man ganz schön verunfallen kann (wie uns das Schweizerische als lingua franca der Finanzwelt verundeutlicht). Während der Analytiker analysiert, etwa die Psyche von Bankmanagern, die gerade mal wieder entgegen allen positiven Weissagungen einen völligen Zusammenbruch hingelegt haben und nun gezwungen sind, Schutz zu suchen unter der Fittiche des radikal antikommunistischen Volksvermögensverwalters, sei es den Geisteszustand von Politikern, die behaupten, nur mit ihnen und der christlichen Atomkraft gehe es immerzu aufwärts in die freiheitlichste aller Freiheiten da oben. Wie vor etwa fünfzehn Jahren die Journalisten (samt Politikern) Pütt-Anleihen genommen haben für eine andere sprachliche Fahrt nach unten. Befand der Bergarbeiter sich früher vor dem Fahrstuhl, der ihn in seine finstre Arbeitswelt bringen sollte, dann hieß das: Vor Ort. Heute habe ich immerzu Angst, der Notarzt könnte es nicht schaffen, weil er sich vor Ort befindet, also irgendwo da draußen vorm Dörp herumirrt, weil er sich auf eine dieser satellitischen Landkarten verlassen hat, die heute zur Grundausstattung eines jeden modernen Menschen gehören und die einen überall hinführen, nur nicht an den Ort, an den der Herr Doktor gelangen möchte, um jemanden zu retten. Der Sprache, der kann er nicht mehr helfen, denn die ist gestorben, während er so lange vor Ort nach ihr fahndete.
lingua franca Aus der Serie: Auf der Suche nach verlorener Zeit und Freiheit «Der Marsch nach Kambodscha war ihre Idee gewesen, und nun waren es auf einmal die Amerikaner, die mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit die Leitung übernommen hatten und darüber hinaus auch noch englisch sprachen, ohne daß es ihnen eingefallen wäre, daß Franzosen oder Dänen sie vielleicht nicht verstehen könnten. Die Dänen hatten allerdings schon lange vergessen, daß sie einmal eine Nation gewesen waren, und so konnten sich von allen Europäern nur die Franzosen zu einem Protest aufraffen. Da sie ihre Prinzipien hatten, weigerten sie sich, auf englisch zu protestieren und wandten sich in ihrer Muttersprache an die Amerikaner auf dem Podium. Die Amerikaner reagierten mit freundlichem und beipflichtendem Lächeln, weil sie kein Wort verstanden. Schließlich blieb den Franzosen nichts anderes übrig, als ihren Einwand auf englisch zu formulieren: ‹Warum wird auf dieser Versammlung englisch gesprochen, wenn auch Franzosen anwesend sind?›» Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (Nesnesitelná lehkost Bytí), aus dem Tschechischen übersetzt von Susanna Roth, München 1984, p 248 Grande Nation. Und die rechtsrheinische Republik? Selbstverständlich schimpft auch sie, wenn auf der Sitzung der Europa-Erfinder und ihrer Schraubendreher das Deutsche nicht als offizielle Sprache in das Übersetzungsprogramm aufgenommen wird. Und das neben Englisch und Französisch! Aber die Finnen! Man erinnere sich: anno 2002 hatte dieses kleine Naturvolk am abgelegenen Rand unseres Erdteils die turnusmäßige Nasenringführung des europäischen Stieres durch das Dickicht des Procederes inne. Sie boten den Deutschen auf deren Gegreine hin an, die Protokolle auch in lateinischer Sprache zu drucken. Das hat, bis auf ein paar Esoteriker, natürlich kaum jemand überrissen. Alle haben sie geglotzt wie die alte, aber dennoch unbekalbte Kuh Europa, die vor einem jungen Stier steht und ahnungsvoll die Hinterbeine übereinanderschlägt. Nach der ersten Pisa-Studie — die in deutschen blühenden Landen der überwiegende Teil der angebildeten Bevölkerung für eine Fernsehdokumentation zu italienischen Architektur-Bauschäden hielt — ahnte es dann die Kultusministerialbürokratie — und wollte diesen Lümmel aus der Randlage, diesen Provinzler am liebsten dauerhaft in die Ecke stellen. Aber in diesem kleinen Land singen sogar ordentliche Professoren schlichteste Tangoschlagertexte*, und zwar lateinisch — und stürmen damit die Hitparaden. Aber jetzt! Jetzt, kaum sind sechs Jahre ins deutsche Land gezogen, hat man dort den dritten Pizza-Schock überwunden (oder sich an ihn gewöhnt?), geht ein Ruck durch die Bildungskanzlerin und deren Adepten. Ach was, längst parlieren wir und rappen wir sogar allesamt in der lingua franca des Heiligen Römischen Reiches, das das Land ja erwiesenermaßen schon immer war, und so ist es nur konsequent, daß Informationen öffentlich-rechtlich in der renaissancierten Sprache — O Tempora! — verkündet werden. Amusant war's. Allen voran die sympathische Andrea Meier mit ihrem schweizerischen Akzent (gab's die Schweizer Garde schon bei den Alten Römern?). *«Der Nachmittagstanz im Maestro paßte uns bestens. Die Band war die von Kai Gideon, dem Mann, den ich aus der 1997er Tango-Dynastie am meisten schätze. Er ist, wenn man so sagen kann, geistig den übrigen voraus, und seine innere Ausgeglichenheit kommt auch in seiner nuancenreichen, teils sogar mystischen Stimme zum Ausdruck. Hat vermutlich damit zu tun, daß er im Kloster Valamo am Ladogasee war und heute als orthodoxer Religionslehrer arbeitet. Gideons Stimme hat alles, was ein guter Tangosänger braucht, find ich. Er hat kein Problem mit der Artikulation irgendwelcher Buchstaben — l, r und s bereiten auch einigen der berühmtesten Sänger Schwierigkeiten —, und sein weicher Bariton hat selbst in den höheren Tonlagen ein erstaunliches Volumen. Vielleicht trat er im Wettbewerb zu anspruchslos auf — Stichwort Gesamteindruck. Auf Band habe ich seinen Haaveetango/Traumtango von Raimo Kero und Kari Tapio, auf den ich jetzt wartete. Das Programm war ganz nach meinem Geschmack. Wenn er keinen Tango sang, dann brachte Kai Gideon Musik zum Zuhören so, wie ich sie liebe. Anja und ich tanzten die Tangos. Sie wollte mit keinem anderen tanzen, auch keine Nicht-Tangos, obwohl ich ihr das gern gestattet hätte. Ich hätte am Tisch gesessen und ihr zugesehen: So was von einer Superfrau, was ich da habe. Es folgte Haaretango. Wir wetzten aufs Parkett und preßten uns aneinander. Kai Gideon sang: Du zündetest mein verloschnes Licht wieder an; Traumtango, der nicht enden kann ... M. A. Numminen Tango ist meine Leidenschaft, Zürich 2000, S. 251
Identität durch Sprache «Wer die Sprache für ein bloßes Handwerkszeug hält, hat nichts begriffen und wehrt sich natürlich auch nicht dagegen, daß man seine kulturelle Identität einem kurzfristigen und allzu oft nur vermeintlichen wirtschaftlichen Vorteil opfert.»Der Übersetzerin Gabi Zöttls zentrales, ihr verständlicherweise am nächsten liegendes Thema ist die Sprache (das ist wahrlich nicht bei allen Übersetzern so). Auch ich spreche und schreibe gerne über Sprache. Was uns verbindet, ist nicht die Definition von Sprache als Handwerkszeug, sondern sehr viel mehr die der Sprache als identitätsschaffendes und -bewahrendes Elexier. So kam es zu einem Austausch, auf den hier hingewiesen sein möchte; der Bezug auf die untenstehenden Zeilen kann nur hergestellt werden, wer Sprache ist Identität im Über-Setzer-Logbuch aufschlägt. Ich muß noch einmal auf dieses Philosophenstammtischgeraune eingehen, mit dem die selbsternannte Elite, die ihre klugen Köpfe hinter großen Zeitungen versteckt, pfeilscharf an der Wirklichkeit vorbeitrifft, die nicht wahrhaben will, daß es das Widerstreben gegen sie bereits gegeben hat, bevor das Elektronetz so leicht verfügbar wurde: in gedruckten Zeiten wurde dieser «Pöbel» eben allenfalls in die Papierkörbe hineingeschwiegen, in denen Leserbriefe in der Regel landen. Doch mittlerweile bringen solche Köpfe sogar Sprachintegrationswillige gegen sich auf. Denn ihr Aufbegehren ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als die südspanische Mauer gegen den Mob, der in die eigenen Latifundien eindringen und ihnen die Butter vom Brot nehmen will. Auch wollen sie ja nicht wirklich, daß ihre Sprache gesprochen wird. Sie sollen ruhig unter sich bleiben, in ihrem Gestammel, in ihrer akulturellen Schwitze, wo sie eben hingehören — zurück auf eure Bäume, ihr Affen! In eure arabischen oder afrikanischen oder branden- oder mecklenburgischen Favelas oder wie auch immer eure ärmlichen, faulenden Hütten genannt werden mögen! Theoretisch könnte man sich zumindest annähern. Aber Verständigung interessiert sie nicht wirklich, unsere geistige Elite hoch oben über all den ruhenden Wipfeln des alten guten, wahren und schönen europäischen Geistes. Unglücklicherweise hat dieses Elektronetz nun Verbindungen zum einen oder anderen Dorfschullehrer hergestellt, der ihre Sprache nicht nur versteht, sondern mindestens so gut, wenn nicht gar besser beherrscht als sie, und ihnen so ihre Fehler nachzuweisen vermag, beileibe nicht nur die grammatikalischen ihres aufgeklärten (Katechismus-) Denkens. Früher kannten sie ihn nicht, da der nicht auf ihren Podiumsdiskussionen und Vernissagen und Colloquien herumturnte, weil er seine Zeit lieber damit verbrachte, andere etwas zu lehren und sich damit zugleich selbst den Horizont zu erweitern. Mit einem Mal ist er aufgetaucht aus einer Versenkung, von deren Existenz man ihnen an Universität oder Journalistenhochschule nie etwas erzählt hatte (oder gerne vergessen hat, wie's da unten aussieht?). Es ist vielleicht unser junger Dorfschullehrer aus dem Film Elina.* Zwar kennt er nicht die Sprache der Kinder, aber kurz nach seiner Ankunft lernt er bereits das erste Wort. Doch seine Lernwilligkeit bezieht sich nicht aufs schiere Erfassen eines Handwerkzeugs, mittels dessen er sich möglicherweise Gefühlsressourcen sichern kann. Bereits hier verfügt er über den höheren sogenannten emotionalen Quotienten als seine Vorgesetzte, die weit oben auf dem dreigekrönten Kulturbaum sitzt und nicht erkennt, welches vielfältige Leben da unten herumwuselt. Später spricht sie zwar immer noch nicht Finnisch, diese Untermenschensprache, wird vermutlich auch nie lernen, von welcher außerordentlichen Kultur die genährt ist, aber sie hat immerhin verstanden, daß sie mit ihrem gefühlsbereinigten und monarchieunterwürfigen, aseptischen Kulturschwedisch nicht an die Kinder, also an die Menschen herankommt. Unser Jungdorfschullehrer wußte von Anfang an um die Bedeutung unterschiedlicher Sprachen, die sich nunmal nicht im Labor heranzüchten und dort gentechnisch oder politökonomisch verändern lassen, sondern die über Jahrtausende gewachsen sind und die man lernen muß, um diejenigen zu verstehen, die das ausmachen, was der gute alte Herr Brockhaus mal so gesagt hat: Kultur ist die Gesamtheit der Lebensäußerungen eines Volkes. * Die Besprechung des Films Elina in Wikipedia ist am ehesten zu empfehlen, nicht zuletzt deshalb, da darin auch auf die Sprachen-Problematik hingewiesen wird und aus der Analyse hervorgeht, daß es sich dabei eben nicht ausschließlich um einen reinen (weil menschelnden) Kinderfilm handelt, wie das anderenorts vermittelt wird.
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