Wille zur Macht

Nach einem etwas hitzigen Gespräch, aus mehr oder minder aktuellem Anlaß aus meinem Briefkästchen gehoben und einer jungen Dame zugeeignet.

Glucksmann. Eine Art Idiot? — Aber vielleicht ist er's ja tatsächlich. Ich hab nur lange nicht mehr über ihn nachgedacht. Man hört ja kaum noch was von ihm. Und das mit Tschetschenien mag angehen, da liegen Sie vermutlich richtig. Ich hab tatsächlich das Gefühl, daß der diesen Gaul Tschetschenien reitet, bis er tot ist. Der Gaul. Da braucht's dann keinen Putin mehr, der sie alle erschießen läßt. Da muß ich Ihnen also recht geben. Aber möglicherweise bin ich damit genau einer jener sogenannten Nihilisten, die er angreift.[1] Oder auch Trivial-Nihilist, wie Sie meinen. Glucksmann und ich, die Trivial-Nihilisten, die nicht wirklichen Verneiner aller göttlicher oder ethischer Wirkungen. Es stimmt also nicht, was Sie sagen, Madame. Glucksmann ist schon gar kein Nihilist, er glaubt nämlich an was, an was auch immer. Und auch ich trage noch einen Restfetzen ethisches Gedankengut in mir herum. Wenn ich auch ein Rabauke bin, dem die eigene Haut näher an den gefühllosen Knochen klebt. Vielleicht ist das schlimm und wahr. Doch ich bin desillusionisiert. Und dennoch interessiert mich eben mehr, auf wen dieser Kuhhirte Bush schießt. Den der, wie Sie ihn nennen, trivialnihilistische Glucksmann letzten Endes in Schutz nimmt.[2] Putin ballert da oben oder neben uns Wessis irgendwo rum. Und schreibt nicht überall seinen ganz persönlichen 11. September drauf. Aber: Glucksmann und das Böse, das Mister Bush nicht nennt. Vielleicht bin ich doch ein Nihilist, wenn auch ein trivialer. Wie gesagt. Ich kann diesen moralinsauren Kram nicht mehr hören. Ich halte das für viel gefährlicher. Denn es kommt kriminell gut an bei unseren geistigen Kleingärtnern, aber auch bei diesen Betbrüdern und -schwestern Deutschlands und Frankreichs, die die USA, egal unter welchem arg knapp gewählten Gott, für das Himmelreich halten. Auch wenn Herr Zeus eben gerade mal sehr wütend war und's hat schwerst krachen lassen. Eine andere Art höherer Gewalt sozusagen. Doch das Entscheidende ist: Mir ist eben der anders kämpferische Glucksmann von früher lieber als der heutige jüdische Pastor. Es steht also zu befürchten, daß ich Ihnen beipflichten muß. D'accord. Aber dieser eben etwas jüngere Glucksmann ist schon alleine deshalb kein Idiot, weil er uns Nietzsche auf die Füße gestellt hat. Er hatte Nietzsche insofern korrigiert, als dieser meinte, man würde ihn erst im Jahr 2000 verstehen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt, als Glucksmann antrat, wohl ebenfalls, wie andere also, noch zu sehr dieses deutschlinksdogmatische, ideologisch geprägte Mißverständnis — es ließe sich auch als eine von anderen forcierte unbewußte Fehlinterpretation bezeichen — in den Ganglien, nach dem Nietzsche ein geistiger Wegbereiter des Antisemitismus und der Nazi-Ideologie gewesen sei. Jener Nietzsche, der erwiesene Pazifist und Atheist, Atheist aus Instinkt oder, wie Rüdiger Safranski ihn so treffend bezeichnet hat: «Anti-Antisemit»[3], weil er diese Kleingeister haßte, die sich mit ihren Balkongeranien ihren sehr eigenen Horizont schaffen, die nichts, aber auch gar nichts verstanden hatten und wahrscheinlich auch nichts verstehen wollten, denen ein knapper Satz als Konstruktion fürs Weltgebäude ausreicht. Ein Satz, der eigentlich in eine andere Richtung gedacht war, quasi eher für den Tiefbau. Und — er sollte ja nach Mamans Willen protestantischer Pastor werden — vor allem Freigeist war. Freigeist! Frei von allen Ismen und Ideologien. Dazu hat Glucksmann durchaus beigetragen. Er hat mir zumindest entsprechende Hinweise geliefert. Es sollte zwar noch eine ganze Weile, genauer: nochmal zweieinhalb Jahrzehnte dauern, bis ich begriffen habe, daß ich lieber im dionysischen Prinzip herumdümple, als in der Formfinderei des apollinischen einen Lebenssinn zu suchen, weil mich diese idealistische Starre eher schwächt, mir Energie nimmt, anstatt mir welche zu geben. Es hat eben gedauert, bis ich das begriffen habe. Aber es hat etwas ausgelöst. Und sei's drum, daß es eine Art geistiger Evolution in mir war. Ich will' s jetzt nicht überhöhen, aber es könnte was dran sein. Und daran hat Glucksmann sicherlich nicht unwesentlichen Anteil. Wenn ich auch damals eher wenig begriffen habe davon und und ich in genau das deutschsozialdemokratische Sprachrohr getrötet habe, das ich seinerzeit mit vollgeschrieen habe. Doch ein wenig dagegengehalten habe ich damals durchaus schon. Sozusagen als politischer Atheist aus Instinkt, bei dem die Erkenntnis sich langsam durchzusetzen begann, daß manchen Journalisten etwas Bildung ganz gut täte, die übers bloße Runterbeten scheinbar professoraler Klappentexte hinausgeht. Der Wille zur Macht! Obwohl das nachgelassene Hauptwerk sich längst als Fälschung erwiesen hat, also wider besseres Wissen, murmeln genügend — heimlich — national gesinnte Geistheiler diese magische Formel auch heute noch dem ungesunden Volkskörper ins Herz, die den Dauerwahlkämpfern Hitlers so recht kam wie ihrem teppichbeißenden Führer — wenn der überhaupt mehr gelesen hat als diesen halben Satz, der da komplett lautet: «Wo ich Lebendiges fand, da fand ich den Willen zur Macht.»[4] Ja-ja. Sprache. Nietzsche meinte dazu, ganz nebenbei: «Die Sprache trägt große Vorurtheile in sich ...»[5] Ein paar nicht ganz so Präzise haben sich das vermeintliche Filetstück einfach herausgeschnitten und es als Mett oder Faschierts in die Volksküche gegeben ...

Anmerkungen in den Kommentaren.
 
Fr, 22.08.2008 |  link | (1851) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten


jean stubenzweig   (22.12.08, 02:29)   (link)  
Literatur zu Glucksmann
1 André Glucksmann, Wir müssen uns dem Bösen stellen, Interview mit Romain Leick, in: Der Spiegel, 21/2002, 18. Mai 2002: www.spiegel.de/spiegel/0,1518,197750-2,00.html
2 Glucksmann: «Es kommt vor allem darauf an, vor dem Bösen nicht die Augen zu verschließen. Man kann George W. Bush vieles vorwerfen, aber nicht, dass er das Böse als böse beim Namen nennt», Der Spiegel, 21/2002, ibd.
3 Rüdiger Safranski, in: Allzu menschlich: Friedrich Nietzsche. Eine philosophische Reise. Dokumentation, in: Arte-Themenabend, 2. Mai 2002, 22.05 Uhr
4 Ausführliches dazu in: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, München, Berlin/New York 1980, vol. 14, p 7-17
5 Nietzsche: Sämtliche Werke, Fragmente, vol. 9, p 191















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