lingua franca

Aus der Serie: Auf der Suche nach verlorener Zeit und Freiheit

«Der Marsch nach Kambodscha war ihre Idee gewesen, und nun waren es auf einmal die Amerikaner, die mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit die Leitung übernommen hatten und darüber hinaus auch noch englisch sprachen, ohne daß es ihnen eingefallen wäre, daß Franzosen oder Dänen sie vielleicht nicht verstehen könnten. Die Dänen hatten allerdings schon lange vergessen, daß sie einmal eine Nation gewesen waren, und so konnten sich von allen Europäern nur die Franzosen zu einem Protest aufraffen. Da sie ihre Prinzipien hatten, weigerten sie sich, auf englisch zu protestieren und wandten sich in ihrer Muttersprache an die Amerikaner auf dem Podium. Die Amerikaner reagierten mit freundlichem und beipflichtendem Lächeln, weil sie kein Wort verstanden. Schließlich blieb den Franzosen nichts anderes übrig, als ihren Einwand auf englisch zu formulieren: ‹Warum wird auf dieser Versammlung englisch gesprochen, wenn auch Franzosen anwesend sind?›»

Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (Nesnesitelná lehkost Bytí), aus dem Tschechischen übersetzt von Susanna Roth, München 1984, p 248

Grande Nation. Und die rechtsrheinische Republik? Selbstverständlich schimpft auch sie, wenn auf der Sitzung der Europa-Erfinder und ihrer Schraubendreher das Deutsche nicht als offizielle Sprache in das Übersetzungsprogramm aufgenommen wird. Und das neben Englisch und Französisch!

Aber die Finnen! Man erinnere sich: anno 2002 hatte dieses kleine Naturvolk am abgelegenen Rand unseres Erdteils die turnusmäßige Nasenringführung des europäischen Stieres durch das Dickicht des Procederes inne. Sie boten den Deutschen auf deren Gegreine hin an, die Protokolle auch in lateinischer Sprache zu drucken. Das hat, bis auf ein paar Esoteriker, natürlich kaum jemand überrissen. Alle haben sie geglotzt wie die alte, aber dennoch unbekalbte Kuh Europa, die vor einem jungen Stier steht und ahnungsvoll die Hinterbeine übereinanderschlägt. Nach der ersten Pisa-Studie — die in deutschen blühenden Landen der überwiegende Teil der angebildeten Bevölkerung für eine Fernsehdokumentation zu italienischen Architektur-Bauschäden hielt — ahnte es dann die Kultusministerialbürokratie — und wollte diesen Lümmel aus der Randlage, diesen Provinzler am liebsten dauerhaft in die Ecke stellen. Aber in diesem kleinen Land singen sogar ordentliche Professoren schlichteste Tangoschlagertexte*, und zwar lateinisch — und stürmen damit die Hitparaden.

Aber jetzt! Jetzt, kaum sind sechs Jahre ins deutsche Land gezogen, hat man dort den dritten Pizza-Schock überwunden (oder sich an ihn gewöhnt?), geht ein Ruck durch die Bildungskanzlerin und deren Adepten. Ach was, längst parlieren wir und rappen wir sogar allesamt in der lingua franca des Heiligen Römischen Reiches, das das Land ja erwiesenermaßen schon immer war, und so ist es nur konsequent, daß Informationen öffentlich-rechtlich in der renaissancierten Sprache — O Tempora! — verkündet werden.

Amusant war's. Allen voran die sympathische Andrea Meier mit ihrem schweizerischen Akzent (gab's die Schweizer Garde schon bei den Alten Römern?).

*«Der Nachmittagstanz im Maestro paßte uns bestens. Die Band war die von Kai Gideon, dem Mann, den ich aus der 1997er Tango-Dynastie am meisten schätze. Er ist, wenn man so sagen kann, geistig den übrigen voraus, und seine innere Ausgeglichenheit kommt auch in seiner nuancenreichen, teils sogar mystischen Stimme zum Ausdruck. Hat vermutlich damit zu tun, daß er im Kloster Valamo am Ladogasee war und heute als orthodoxer Religionslehrer arbeitet. Gideons Stimme hat alles, was ein guter Tangosänger braucht, find ich. Er hat kein Problem mit der Artikulation irgendwelcher Buchstaben — l, r und s bereiten auch einigen der berühmtesten Sänger Schwierigkeiten —, und sein weicher Bariton hat selbst in den höheren Tonlagen ein erstaunliches Volumen. Vielleicht trat er im Wettbewerb zu anspruchslos auf — Stichwort Gesamteindruck. Auf Band habe ich seinen Haaveetango/Traumtango von Raimo Kero und Kari Tapio, auf den ich jetzt wartete.

Das Programm war ganz nach meinem Geschmack. Wenn er keinen Tango sang, dann brachte Kai Gideon Musik zum Zuhören so, wie ich sie liebe. Anja und ich tanzten die Tangos. Sie wollte mit keinem anderen tanzen, auch keine Nicht-Tangos, obwohl ich ihr das gern gestattet hätte. Ich hätte am Tisch gesessen und ihr zugesehen: So was von einer Superfrau, was ich da habe.

Es folgte Haaretango. Wir wetzten aufs Parkett und preßten uns aneinander. Kai Gideon sang:

Du zündetest mein verloschnes Licht wieder an;
Traumtango, der nicht enden kann ...


M. A. Numminen
Tango ist meine Leidenschaft, Zürich 2000, S. 251

 
Mi, 27.08.2008 |  link | (2435) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: lingua franca


jean stubenzweig   (07.09.09, 02:27)   (link)  
Platon und der Tango
«Der eingebildete Dialog mit Platon hatte mich erleichtert. Er hatte mich jedoch nicht davon überzeugt, daß die Wartezeit nicht von geistigem Nutzen sein könnte. Eine innere Stimme flüsterte mir zu, daß ich trotzdem der Sieger wäre, wenn ich mich noch bis zum sechsunddreißigsten Lebensjahr gedulden würde.

Ich ging in die Bibliothek und las Ratgeber in Sachen Sexualleben. Einige der interessanteren betonten die Bedeutung der geistigen Seite. Es wurde dargelegt, wie der Mann der Frau geistigen Halt geben müßte, bevor sie's bringen. Nach dem geistigen Halt wären erstmal die Vorspiele dran, weil viele Frauen überhaupt nicht so aus dem Stand bereit wären für den Geschlechtsakt wie die Männer. Diese Vorbereitungen wären wichtig, es gäbe nämlich viele Frauen, die würden eine sexuelle Befriedigung erst nach monatelangem Üben kriegen.»

Tango ist meine Leidenschaft, Zürich 2000, S. 248















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