Hoch oben

Er geht über die Brücke, die über eine Art Busbahnhof führt und betritt die Rolltreppe zur Rue Bir-Hakeim, benannt nach einem der vielen Schlachtfelder. Auch dieses ist eines, wenn auch nur der Busse und Autos, die mit Fußgängern um die Plätze kämpfen. Es ist ein Wunder, daß es hier nicht auch Tote gibt. Dann landet er direkt auf der Canebière. Sein Blick streift hinüber auf die Place du Général de Gaulle und vorbei an dem kleinen Karusell (Carrousell), wo er abends manchmal den Kindern zuschaut mit ihren zeitgelösten Vätern oder auch den Müttern, die nicht an den Küchenherd gefesselt oder bereits wieder befreit sind, wenigstens für diesen zur Neige gehenden Tag mal rausdürfen. Dann bleibt er an der Ecke Rue Beauvais hängen. Dort ist sie, die Stätte, wo alles seinen Anfang nahm. Das Office de Tourisme. Die Erinnerung meldet sich. Von der direkten Nachbarschaft, dem Grand Hôtel Beauvais wollte sie ihn weghaben. Ob er dieses Hotel tatsächlich benötige? hatte sie ihn nach eindringlicher Musterung gefragt. Benötigen? Oder es sich leisten können? Nun ja, seine wurschtige Schlabbertracht aus angefressenen Jeans und den innigbequemen, allerdings immer ziemlich verbeulten Seidenhemden hatte offenbar einen entsprechenden Eindruck hinterlassen. Französische Männer mit Bildung liefen so nicht herum. Man hat immer frisch gebügelt zu sein. Aspect extérieur! sollte sie später einmal meinen.

Das war das erste von vielen späteren Malen, daß sie ihn mit leicht spöttischem Blick auf seine Absenz aufmerksam gemacht hatte. Ob sie so undeutlich spreche, ob er sie nicht verstanden habe? flüsterte sie ihm mehr als daß sie sprach ihre Ironie in seine leicht abwesenden Augen. Nein-nein, doch-doch, hatte er gestottert und sich wagemutig entschuldigend zu einer Bewunderung ihrer Erscheinung aufgerafft, daß er gerade zwischen ihren Briefen und ihrem Äußeren eine nachgerade phänomenale Übereinstimmung festgestellt habe. Daß seine Wunschvorstellungen von ihrer Erscheinung geradezu überrollt wurden, unterdrückte, verheimlichte er. Ein anderer würde es strategisch-diskret nennen. Bei ihm handelte es sich bei dieser Maßnahme um schiere Feigheit, um die Angst, etwas Falsches zu äußern. Und ohne auf einen Erfolg aus zu sein, hatte er ihn offensichtlich dennoch. Denn die Reaktion war ein zauberhaftes Lächeln. Und er spürte etwas wie Schamhaftigkeit in ihrer dankenden Entgegnung, bei der leicht das Papier raschelte, das damit allerdings immer noch beredter daherkam als seine mittelgräuliche, hundertzwanzig Gramm bis büttenschwere Ausformuliererei, er habe das ausnehmend schön gesagt, und es würde ebenso mit seinen elektronischen Briefen konform gehen. Dennoch sei ihre Frage damit nicht beantwortet. Nun erinnerte er sich sogar peinlich genau, daß er ziemlich dümmlich gefragt hatte damals, um welche Frage es denn ginge, bitteschön. Da hatte er dieses herzerfrischende, fröhliche Lachen, diesen Klang aus armenisch-persischem Sopran und nordafrikanischem Triller sowie einem zwar südlich ausgebildeten, aber letztlich doch sehr europäisch disziplinierten Alt zum ersten Mal gehört. Sie hatte dann ihre Frage in etwas vereinfachter Form wiederholt. Und er hatte ihr von seiner Beziehung zu diesem Hotelkonzern und der Liebe zu großen, komfortablen und auch insgesamt Freiraum bietenden Zimmern vorgestammelt, auch ohne Familienanschluß. Ihr leichtes Schlucken nach der letzten Anmerkung hatte er nicht interpretieren können und es deshalb sofort aus möglicherweise aufkommenden Zerwürfnissen gedrängt.

Drei Tage später war er dann umgezogen — sozusagen worden — in ein für ein Drei-Sterne-Hotel geradezu gigantisches, wunderbar helles, außerordentlich dezent komfortables Zimmer, in das andere Haus des Unternehmens, dem im Börsen-Zentrum, neben den Nouvelles Galeries, in dem nicht so viele Halstuchträger herumstolzierten und Kofferträger oder Chauffeure zwischen Hotel und Garage standen. Es war mehr eine Arbeits- und Kurzreisendenherberge. Das war ihm tatsächlich eindeutig sympathischer. Und auch nochmal hundert Francs günstiger als der Meeresblick in der Gründerzeit-Schatulle am Quai des Belges, wo man für den Luxus knarzender Dielen und fehlender Steck- oder Telephondosen gesondert zahlen durfte. Wie im Libertel Beaux-Arts Tradition an der Place des Jacobins in Lyon auch. Nach ganz weit oben hatte sie ihn verfrachtet, ihm eines dieser sogenannten Club-Zimmer organisiert, mit Blick auf Notre-Dame de la Garde beziehungsweise Altem Hafen und dem Tor zum Château d'If oder nach l'Estaque oder den von ihm ganz persönlich entdeckten Îles de Frioul, der Île Pomègues, aus deren Turm er von einem bretonischen Negerhäuptling befreit worden war, der Wert darauf legte, so bezeichnet zu werden und später zur Familie gehören würde, noch bevor er diese andere, dann ebenfalls mit ihm verwandt werdende Sehenswürdigkeit kennenlernen sollte, die hier vor ihm stand. Doch zuvor hatte sie noch ohne irgendwelche Ausflüchte oder sonstiges Aufheben seine vorsichtig-höfliche Frage nach einem gemeinsamen Essen und ungewöhnlich knapp beantwortet und ihn damit in völlige Verstörtheit geschickt: Ja, sehr gerne. Heute abend? Sie wisse um ein angenehmes kleines Restaurant hier in der Nähe. Oder ob er mehr die gehobene Ausstattung bevorzuge. Da war sie schon wieder, diese Ironie. Dann müßte man allerdings umdisponieren. Oder so ähnlich. Gelächelt hatte sie dabei, daß er nicht wußte, ob sie ihn nun veräppelt oder einfach nur nett zu ihm ist. Was würde sie wohl ihrem Hans* an Ausreden vorlügen? dachte er so für sich hin. Geschäftsessen? Na ja, was anderes wäre es auch ja nicht.

Dennoch war er so außer sich, daß er gar nicht mehr wußte, wohin er zuerst hinrennen sollte, um die zwei Stunden bis zum Rendez-vous totzulaufen. Eine Seefahrt kam ja nicht infrage. Da war ihm die Gefahr zu groß, während der fünfzehn Minuten zwischen Château d’If oder dreißig zwischen den Île des Frioul und dem Quai des Belges zu kentern und somit die zarten Anfänge einer Begegnung über Bord zu werfen. Also kreiste er, angebunden an die Leine der Hoffnung, wie ein Satellit weiträumig um ihren Standort, das Tourismusbüro. Für alle seine anderen ziellosen Ziele würde er Zeit genug haben, wenn sie ihm gesagt haben würde, daß sie sich für den schönen Abend bedanke und dann doch endlich zu Mann und Kinderchen zurückkehren müsse. In seine Hoffnungsschimmer getaucht, wollte er alle anderen Menschen allenfalls verschwommen sehen, gerade eben so zurechtfinden wollte er sich. Also würde er nicht zu seiner Aussichtplattform vor dem Bar-Tabac an der Ecke Rue Pythéas an der Bushaltestelle gehen. Das wäre ihm zuviel Reizüberflutung gewesen. Nur an sie wollte er denken, sich von den anderen Urbanantilopen nicht ablenken lassen. Nach einer eventuell mißlungenen Verfolgung dieser einen würde er seiner Augenjagd immer noch frönen können. Ein schöner, angenehm ruhiger Platz nistete sich alsbald in seinen Gedanken ein.

Es muß eine geradezu schicksalhafte Eingebung gewesen sein, denn nachdem er seine angebetete Statue von ihrer Wirkungsstätte abgeholt hatte, kehrte er schnurstracks an diesen stillen Platz abseits jeglichen Getümmels zurück. Gemeinsam mit ihr. Erst hatte er sich ja nicht getraut, ihr zu sagen, daß er an genau dieser Place de Lenche bereits zwei Stunden lang seinen Gedanken an sie freien Auslauf gewährte hatte. Er wollte ihr die Freude nicht nehmen, ihn an einen solch schönen Ort — ihrer Wahl — geführt zu haben. Doch dann gestand er seine Liebe zu diesem Kleinod dörflicher Charakteristik inmitten der Metropole ein. Die andere sich in ihm ausbreitende, von ihm Besitz nehmende verschwieg er. Dezent? Wie auch immer. Wegen dieser Vor-Liebe zu dieser Örtlichkeit muß sie ihn wohl dort später dann auch geheiratet haben. Anders kann es nicht gewesen sein. Und die Wohnung direkt nebenan in der Rue de l’Évêché muß er dann auch erst einige Zeit danach kennengelernt haben. Ganz soweit war er mit dem Abrufen der Erinnerung — noch — nicht. Doch es würde geschehen. Das Bild wurde zusehends deutlicher.


* ... daß ein Mann Hans heißen muß, daß ihr alle so heißt, einer wie der andere. Es ist immer nur einer, der diesen Namen trägt. Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr, in: Das dreißigste Jahr, Erzählungen, Piper-Verlag, München 1961

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Di, 25.11.2008 |  link | (3337) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


nnier   (25.11.08, 09:28)   (link)  
Sie wissen ja:
Ich schätze Literatur am Morgen und möchte Sie schon aus Eigennutz darum bitten, uns weiterhin mit solchen Filets zu versorgen. Danke, danke! Ich bin wirklich beeindruckt.

(Anderes Thema - oder eigentlich auch nicht: Gestern abend habe ich die ersten Seiten aus Das Wasser der Hügel gelesen und weiß schon jetzt, dass das ein großartiges Buch wird!)


hap   (25.11.08, 11:21)   (link)  
"... daß ein Mann Hans heißen muß,
daß ihr alle so heißt, einer wie der andere. Es ist immer nur einer, der diesen Namen trägt." Mag ja zu Ingeborg Bachmanns Zeiten aus der Vorkriegsära noch mit rübergeschwappt sein, aber wenn man tatsächlich so heißt, stellt man seit 1945 fest: Es gibt sehr wenige, die in Deutschland noch Hans (oder Fritz) heißen. Seit etwa 1970 heißen die Jungen eher Sven und Sascha und Marco und Kevin.
Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass es tatsächlich immer nur einer ist, der den Namen Hans trägt: Ich. Bis dann am Wochenende wieder der Trainer von Mönchengladbach einen launigen Spruch in den Medien platziert.
Schöne Tage -
Happy Jack (Hans im Glück)
P. S. "Hoch oben" ist eine feine Erzählung!


nnier   (25.11.08, 11:35)   (link)  
Das ist aber auch nur eine Frage der Zeit,
Herr hap, bis Ihr geschätzter Vorname wieder in Mode kommt. So klang z.B. für meine Kinderohren damals der Name "Paul" unglaublich altmodisch, von "Karl" ganz zu schweigen, und beide sind inzwischen wieder reichlich populär! Zwei jugendliche Fritzen kenn' ich übrigens auch.


jean stubenzweig   (25.11.08, 11:54)   (link)  
Paul et cetera
werden, wohl im Herbeisehnen an die gute alte Zeit, von Akademikerkreisen bevorzugt. Und das bereits seit gut zehn Jahren ...

Demnächst, da bin ich überzeugt, wird Hans dran sein. Geschlüpft aus auf ewig ranken Doppeldoktorinnen Anfang vierzig.

Na, wenigstens einmal nicht am Thema vorbei.


jean stubenzweig   (25.11.08, 12:03)   (link)  
Filets. Fleischeslust?
Na na, Herr Nnier ... Hier geht's um die edleren Werte.

Aber etwas stiller werdend muß ich wohl auf den Hinweis von Herrn Pfitzinger verweisen, der wiederum auf Gevatter Freud hinweist. Es ist eine Freud.

Hoch oben ist zwar nicht ganz so eindeutig. Aber es ist ja nicht nur gestattet, zwischen den Zeilen zu lesen, sondern mein ganzes Begehr'. Es hat eben manch einer eine jeweils andere dramaturgische Methode, nach oben zu kommen zum Kulminationspunkt des Bißchens, das sich Leben nennt.

Womit ich, gleichwohl in sehr freier Auslegung, wieder bei Herrn Pfitzinger wäre, der mit dem bayerischen Ministerpräsidenten, wenn der auch nicht mehr ganz so jungfräulich ist und ein profaneres Ansinnen hat, letztendlich aber dann doch einen Chor bildet, wenn er meint: Das nenne er Schaffung von (sinnvollen akademischen) Arbeitsplätzen.

Gut, ich geb's zu: Hier wird ständig und immer nur an das eine gedacht. Wobei in Büddenwarder solche Schweinereien durchweg mit Krustenbraten assoziiert werden. Wie bereits erwähnt: «essen ist der sex des alters.»


jean stubenzweig   (25.11.08, 14:29)   (link)  
«Das Wasser der Hügel»
Dann sind Sie ja, um das nicht untergehen zu lassen, quasi Hoch oben, in der der Umgebung des Garlaban, wo Marcel Pagnol durch seine Kindheit gestreift ist. Mit ihm und Ihnen bin ich in Gedanken gerne unterwegs. Und bald wieder dort, realiter. Aber jetzt ist's dort ekelhaft. November, Dezember, auch noch Januar, dann geht's wieder. Die Heizungen sind miserabel. Und um den Garlaban gibt's erst gar keine – bei dem Wind. Trotzdem fahre ich bald wieder los. Ist das Liebe?


nnier   (25.11.08, 15:20)   (link)  
Ist das Liebe?
Nach allem, was ich von Ihnen weiß: Ja, eindeutig!















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