Welkendes und Welkes

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund bin ich kaum zur place de Lenche hinauf, fast, als ob ich sie gemieden hätte. Obwohl ich früher so gerne dort saß, ja sogar zwischenzeitlich dort wohnte, im ziemlich engen achtzehnten Jahrhundert, sitzend auf den zweihundert und viel mehr Jahre älteren Fundamenten der rue de l’Évêché. Als ob ich Angst gehabt hätte — nach Hause zu gehen? Seltsam.

Überall bin ich herumgewandert, wie auf der Spurensuche nach mir selbst. Bin mit dem Bus dann immer wieder Rive Neuve, den Boulevard Charles Livon entlang, Wasser gucken. Wie einst im sommerlichen Mai. Als ob ich mich darin finden könnte. Oft auch zu Fuß in Richtung Pharo, unten vorbei an der Plage des Catalans wieder zur Corniche. Aber länger aufgehalten habe ich mich in dieser Gegend eigentlich weniger. Dieses Terassenleben, vor allem in der Gegend hinter Malmousque, etwa an der Segelschule, dieser Exhibitionismus der mondänen Möchtegerne oder andersrum, das ist nicht das meine. Es hat aber wohl mit den Menschen dort zu tun. Sie stoßen mich eher ab, wie sie sich und ihre Körper dort präsentieren und auch noch Eintrittsgeld dafür bezahlen, daß man ihnen von oben auf die hochgezurrten verwelkenden Titten glotzen kann. Sie sehen halbnackt auch nicht anders aus als halbangezogen in ihrem teuren Tinnef aus der Budengasse Rue Saint-Férréol mit ihrem Markennamenterror. Dort habe ich einst das Fremdschämen gelernt.

Dabei mag ich das Welkende. Nicht nur verwelkende oder verwelkte Rosen, die ich manchmal fast altarisiere. Auch erschlaffende Haut hat etwas Sinnliches. Je nach Trägerin sogar durchaus etwas Erotisches. Doch was da vorgeführt wird, ist eine unerträgliche Eitelkeit des Nichtseins oder die kunderasche Definition von Kitsch, nämlich die Kaschierung von Scheiße, vielleicht sogar deren versehentliche, aus Unwissenheit entstandene Umkehrung, auf jeden Fall absolut nichts als Eitelkeit. Ansonsten hohl im Kopf. Schaut alle her! Bin ich nicht schön? Schön dämlich vielleicht. Ich mag auch keinen Strip tease. Das ist nichts anderes als Schaufenstergucken. Alles Drapierte ist mir unangenehm. Als ob man ihnen die Knochen verrenkt hätte, stehen sie da oder sitzen, wie in meinem Blütensternengärtchen. Welkendes kann ich als erotisch empfinden, weil, besser: wenn es natürlich ist. Doch wer als alte Fregatte mit angefressener Takelage und schlaffen Segeln auf einem Laufsteg für Volksbegehrlichkeiten herumdümpelt, um sich begaffen zu lassen, ist nicht von anderem Format als die Mami, die ihre Kinder in Play-back-Shows oder zum Eiskunstlauf oder zum Hundefriseur schickt oder über den Tennisplatz jagt oder am Klavier oder als hoffentlich kommende Ballerina maltraitiert, weil sie möglicherweise an sich Versäumtes oder für sich selbst Erträumtes in ihre Brut hineinprojiziert.

Aber die Jungen nicht anders. Dieses Geprotze, diese in Kürze aufplatzenden Früchte. Nur Muskelgeglitter. Beflieg mich, aber nur, wenn du ein starker Brummer bist, zumindest aber einen solchen hast. Körper wie aus riefenstahlschen Strahlgewittern. Zeitgenössisches Design. Außen Plastik und innen 1+0-Elektronik. So geistlos wie ein Computer eben. Oder die Wiederbelebung winckelmannschen Ästhetizismus': Nur Form, innen hohl. Fettfreies Fleisch: geschmacklos, da seines Aromentransporteurs beraubt. Da soll einem der Appetit nicht vergehen.

Ich geh' jetzt trotzdem zu Toinou, lasse einen ganzen Kutter frischer Früchtchen in mich hineingleiten, lasse sie in mir weiterschwimmen in Sandwein.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
 
Mo, 05.01.2009 |  link | (2472) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


nnier   (06.01.09, 00:01)   (link)  
Zettelkasten!
Das finde ich gut. Sind das lose assoziierte Skizzen und Gedanken zu den 630 Seiten?















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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