Schwarzfußfranzosianer

Nach Algerien hatte kürzlich Hanno Erdwein gefragt. Ich muß dabei immer wieder und zunächst an die pieds-noirs denken. Deren Herkunft und Bedeutung dürfte außerhalb Frankreichs weitgehend unbekannt sein; anzunehmenderweise wissen es auch viele, allen voran jüngere Franzosen nicht.

Besançon ist hier mehrfach erwähnt. Die Stadt am Rand des französischen Jura lag auf der mir nicht nur wegen des allerbesten Comté angenehmsten und deshalb häufig befahrenen Strecke von München über das Grenzdörfchen Lauterbourg nach Marseille und wieder zurück. Isar-Athen ist schon lange nicht mehr, jedenfalls für mich. Aber auch von Hamburg beziehungsweise dem Holsteinischen aus am besten via Belgien, Luxembourg, Wissembourg und Strasbourg fahrend übernächtigt man sich gut im alten Universitätstädtchen am Doubs. Man muß nicht, aber es kann einem recht wohl sein dort, wenn man den Arbeitspfaden der Touristen ausweicht. Zudem hat ein Freund ein paar Kilometer in die Hügel des Franche-Comté hinein sein Häuschen stehen. Na ja, es ist schon ein richtiges Haus. Und auch nicht mehr ganz so jung ist die ehemalige Industriellenkate aus dem 19. Jahrhundert. Und, nicht zu vergessen: von dort zum immer hilfsbereiten Dorfschmied sind es nur ein paar Schritte.

Zum ersten Mal bewußt beziehungsweise neben den deutschen und schweizerischen Shopperhopsern sowie dem Wanderstrom zur Citadelle erlebt hatte ich Besançon in Le Diga-Diga-Doo. Dort bin ich den einheimischen Schwarzfüßlern — und damit einem Stück eigener Vergangenheit — begegnet. Sie sind teilweise französischer als alle Franzosen zusammen, etwa so wie auf Martinique, wo der Einheimische mir sagte: Will man (wie) in Frankreich leben, dann muß man hierherziehen, denn wir leben die Tradition, haben noch Familien, essen noch gut. Und so weiter. Unter denen im Diga-Diga-Doo waren einige, von denen ich nie und nimmer angenommen hätte, sie könnten etwas anderes sein als Elitehochschulabsolventen und damit Kinder von mehralsbesserverdienenden Eltern. Sie sprachen nahezu alle ein (fast schon wieder übertrieben) gutes Französisch, sie benahmen sich (ausgesucht?) extrem höflich, also weitaus höflicher, als es der gemeine Franzose ohnehin tut, sie waren auch tagsüber gekleidet, als ob sie gleich ins Konzert und anschließend zum souper, dem einer Veranstaltung folgenden Abendessen, gehen wollten. Und einen Engländer hatten sie in ihrer Mitte — der war der kurioseste von allen. Er sprach ein Französisch wie auf dem Hoftheater des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Er hatte es in Canada gelernt, wo ein Neuzeit-Franzose nicht so recht verstanden wie gleichermaßen belächelt wird; ähnlich den Portugiesen in Brasilien. Teilweise wird in Quebec nämlich gesprochen wie zu Zeiten, als die französische Landnahme geschah. Und tatsächlich war's ein Arbeiterkind aus Manchester, das es via Montréal als Französisch-Dozent an die Université de Franche-Comté verschlagen hatte. Armer Leute Kinder waren auch all die anderen. Nur eben nicht aus England.

In mir hatten sie wohl einen Reisenden gesehen, der sich auch mal für was anderes Französisches interessiert als das deutsche Hochglanz-Savoir-Vivre. Als ausgewiesener Franzose wäre ich nicht so freundlich aufgenommen worden in diesen Kreis — und schon gar nicht von Fadila. Denn mit den Franzosen haben sie's gar nicht so, diese Vorzeige-Franzosen. Vermutlich waren sie es, die ausgerechnet Le Pen als anderes Übel gewählt hatten seinerzeit, bevor der griechischstämmige Ungar sich aufmachte, endlich ordentlich französische Seiten aufzuziehen im Land ...

Also: Der Begriff kommt von Schwarzfuß, vermutlich, weil die Kolonialisten dunkle Stiefel und Stiefeletten trugen; aber das ist nur eine von vielen Erklärungen, die allesamt nicht belegt sind, auch nicht die vom Traubentreten. Sie setzten sich zusammen aus Spaniern, Marokkanern, Franzosen, Oran, Algier, weiter nach Tunesien hin, Italienern, Korsen, Sarden, Deutschen, die, anstatt nach Amerika zu gelangen, im nordafrikanischen Wilden Westen landeten, Elsässern, die nicht Deutsche werden wollten irgendwann, Kommunarden von den Aufständen in Lyon — die Seidenweber — und sehr vielen Weinbauern aus Südfrankreich, zur Zeit des Zusammenbruchs des Weinbaus wegen der Rebstockkrankheit — inzwischen sind alle Stöcke auf US-amerikanische Wurzeln aufgepropft! 1830 bis 1847 wurde eben Algerien auch als Folge einer innenpolitischen Krise in Frankreich erobert. England und Frankreich teilten sich anschließend die Einflußbereiche in Afrika auf.

Fadila fragte mich damals verwundert, woher ich das denn alles wisse. Ich erzählte von einer Handgranate, eine mütterlich-algerische der Front de Libération Nationale (FNL) oder eine der OAS, Organisation de l’Armée Secrète, der väterlich «eigenen» Algerienfranzosen. Sie hatte in Algier einem Pied-noir-Mädchen im Kindergarten die Hand abgerissen. Über lange Zeit hielt ich Kontakt zu ihnen, war auch, vor einigen Jahren zuletzt in Valanciennes, mit bei ihren Zusammenkünften. Deshalb war ich informiert über die Pieds-noirs. Solche, die sich nicht nur in ihr Heimatland zu assimilieren versuchen, sondern auch darum kämpfen. Die Jungen. Sie machten ihren Alten Feuer untern Hintern. Wie die Zigeuner, die man möglicherweise deshalb so nicht mehr nennen darf ... Als sie nämlich zurückkamen aus Nordafrika, wollte diese Sorte Franzosen, die sich dann gerne und häufig auch noch mit Einheimischen vermischt hatten, niemand haben in Frankreich. Abschaum mögen wir nicht im Land. Fast so schlimm wie die Beur.

Andererseits müsse ich dabei oft daran denken – ob die Deutschen wüßten, wen sie alle umgebracht haben und wieviele, daß sie, beispielsweise, Franzosen in deutscher Uniform an die Front geschickt hätten? Die dann zuhause als Vaterlandsverräter ebenso geschaßt wurden wie die Pieds-noirs. Aber das wüßten eben wahrscheinlich auch viele Franzosen nicht. Oder wollten es nicht mehr wissen. — Nun denn. Und es sei außerdem ähnlich wie mit diesem Türken in meiner ehemaligen Nachbarschaft. Einer, der von ganz unten und mit harter Chauffeursarbeit in einem großen Mercedes zu einem leidlichen Mittelstandsverdienst gekommen war, mit dem er die fetten Ratenzahlungen für seine noble Voiture leisten konnte. Sehr gepflegt. Wie seine Karosse. Wie aus dem Ei gepellt. Wie aus dem Ei gepellt angepaßt. Wie der Italiener, der schweizerischer Staatsbürger wurde und dann, als aufstrebender Jungpolitiker, keine Italiener und sonstiges Gesockse mehr hineinlassen wollte in die Schweiz. Das schweizerische Boot sei voll. Ich glaube, meinte ich seinerzeit noch gegenüber Fadila, der oder mein Nachbarschaftstürke, die würden sich am liebsten die Haut bleichen — wie diese Frauen in Afrika.

In Afrika?! rief meine Gesprächspartnerin aus. Alle Städte der Grande Nation seien voll mit diesen Läden, in denen man sich die Mittelchen kaufen könne, um wenigstens die Haut zu erhellen, wenn schon nicht den Geist. Zum Zerstören der Haut! Und den Restgeist vermutlich ebenso. Auch würden es immer mehr! Nach ihrem kurzen Ausbruch meinte sie dann jedoch, wir sollten vielleicht doch besser zurückkehren zu den Sephardim, über die wir zuvor gesprochen hatten. Das sei etwas, das sie noch nicht kenne.


Die Photographie stammt von Casside unter CC.
 
Mo, 01.06.2009 |  link | (7402) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches


damenwahl   (02.06.09, 12:00)   (link)  
Und wieder was gelernt. Verlan, pied-noirs, Integration und Heimkehr.

Ich bin ja durchaus (entgegen aller politischen Korrektheit) dankbar für den französischen Einfluß in Nordafrika, verschafft er einem doch in Marokko und Tunesien akzeptablen Café au lait, während es im britisch geprägten Ägypten nur türkischen qahwa und - pfui - Nescafé gibt.

Keine Ahnung, woran es liegt, aber auch hier sind die Menschen meistens adrett gekleidet und auch... adrett im Benehmen, zumindest die Älteren. Wer keine Arbeit hat, hängt trotzdem nicht in Turners vorm Fernseher, auch Taxifahrer tragen oft Hemd und Anzug. Es ist aber mehr als nur die Kleidung, auch das Betragen, der Habitus, schwer in Worte zu fassen. Ich mag das, zeugt es doch von Achtung vor sich selbst und Achtung vor den Mitmenschen. Und von Würde. Zu Hause sehe ich das selten. Leider. Oder ist das nur meine romantische Wahrnehmung?


jean stubenzweig   (02.06.09, 14:30)   (link)  
Ich vermute,
daß es daran liegt. Vermuten kann ich nur, da ich lange nicht dort war; ich erlebe Nordafrika ja aus der zweiten Reihe. Aber es wird sich wohl gehalten haben. Ich führe das
tatsächlich auf den französischen Einfluß zurück. Und politisch korrekt oder nicht, wie Sie's schon anmerkten, sei's drum. Es verhält sich ja im Land selbst so, und in den Überseegebieten wird das noch deutlicher, etwa am genannten Beispiel Martinique (oder Guadeloupe): «wo der Einheimische mir sagte: Will man (wie) in Frankreich leben, dann muß man hierherziehen, denn wir leben die Tradition, haben noch Familien, essen noch gut». So ist es tatsächlich, auch wenn es einigen nicht behagt. Und erst kürzlich hat eine Kolonie, zwar nicht DOM-TOM und damit Europäische Union, aber immerhin COM, sich für eine engere Bindung an Frankreich ausgesprochen. Sicher, die wirtschaftliche Sicherheit dürfte hier der Antrieb gewesen sein, und politisch wird darüber auch gestritten. Aber man hat sich nunmal mit über sechzig Prozent dafür entschieden. Das läßt sich genießen. Und wem's nicht behagt, kann ja, wie etwa auf Saint-Martin, rübermachen über die Grenze, zu den anderen Kolonialisten, den Protestanten nach Sint Maarten und Genever trinken statt weißen Rum. Wie Café oder qahwa (oder gar gefriergetrockneter Pulverkaffee, ja, igitt).

«Würde» – damit ließe sich das vermutlich em ehesten übersetzen. Die ist an sich ja kulturell zunächst mal islamisch, moslemisch, muselmanisch, vielleicht auch maurisch, wie auch immer. Haltung, Stolz, manchmal eben auch ein bißchen übersteigert, einer eben unwürdigen Vergangenheit geschuldet. Und hinzukommend die europäische, aus dem ehemals höfischen Liebesgedienere ins Bürgerliche hinübergewandelte distanzierte (Achtung?) Höflichkeit, die eben nicht nur aus (inhaltloser) Form besteht wie schlechtes Design, die ist nunmal Bestandteil französischen Lebens (das ich so im übrigen innerhalb Deutschlands am ehesten noch in Hamburg empfinde).

Mir wurde schon mehrfach die allzu romantische Wahrnehmung eines Landes vorgehalten, das es so längst nicht mehr gebe. Da ist was dran. Aber ich finde eben immer noch meine Eckchen. Finden Sie sie in Tunesien – und grüßen Sie sie von mir.


damenwahl   (02.06.09, 14:45)   (link)  
Ich mag diese Länder sehr, gerade in der Spannung zwischen arabischer Vergangenheit, Kolonialzeit und der Rückeroberung muslimischer Werte und Sitten. Oszillierend zwischen Geschichte und Moderne, verschiedenen Kulturen, Entwicklung und Retrospektive - spannend wie wenige andere Regionen, finde ich. Aber das hat natürlich auch wieder mit mir und meiner Prägung zu tun.
Ich frage mich allerdings, ob es diese besondere Form von Würde in Europa nie gab oder ob sie nicht eher verlorengegangen ist, und wodurch, wann, warum?


jean stubenzweig   (03.06.09, 01:07)   (link)  
Würde und Werte
beziehungsweise deren hiesige Verluste dürften auf die Industrialisierung, auf eine mißverstandene oder auch mißverständliche Moderne zurückzuführen sein, die ja anderswo etwas später oder gar nicht angekommen sind. Geschichtsbewußtsein zählt beim Geldzählen nicht unbedingt zu den erhaltenswerten «Gütern». Die Tradition müßte ich jetzt aufrufen, die sich in diesen Ländern eher erhalten hat oder wieder herzustellen ist – was nicht ganz unproblematisch ist angesichts der religiösen Aspekte, die da mitschwingen. Auf jeden Fall haben diese Menschen eine Ortsbezogenheit, die mit dem deutschen, weltweit benutzten terminus technicus Heimat (eben nicht) zu übersetzen ist.

Ach, das ist ganz schwierig, will man nicht die phrasenhafte griechisch-römische Philosophen-Keule schwingen oder sich auf die aktuellen und akuten politischen Formeln stützen. Dieses dümmliche «Ich bin stolz, ein ... zu sein» oder das perfide « Wir sind ...» fallen mir dabei ein: peinlicher Traditionsersatz für den geldglobalisierten Menschen. Würde kann ein Mensch nur erlangen, wenn man ihn nicht zum geschichts- und damit gesichtslosen Objekt hinabstuft – oder er das nicht mit sich machen läßt. Deshalb gibt's auch kaum noch Würde in Mitteleuropa, eben dort nicht, wo das Individuum zum, wie's Vert dieser Tage hier mal nannte, «Individumm» degeneriert wurde.

Das alles genauer zu begründen, dazu bedürfte es einer längeren Formulierungsphase, will man nicht mißverstanden werden oder gar Beifall von der falschen Seite erhalten. Vielleicht gehe ich's an bei Gelegenheit – wenn ich mal wieder richtig ausgeschlafen habe und auch bin.


hanno erdwein   (03.06.09, 09:23)   (link)  
Herrliche Darstellung
vom "satten Leben", wie ich es mag. Danke. Davon kann ich nicht genug bekommen. Vieles klingt an in mir, von Zeiten, als ich die Welt noch heil empfand. Ein stubenzweigscher Erlebnistext vom Feinsten!


jean stubenzweig   (02.12.09, 04:58)   (link)  
Eine weitere Erklärung
bietet arte. Sie deckt sich zwar nicht allumfassend mit den mir überlieferten Informationen, aber ich möchte es nicht versäumt haben, darauf hinzuweisen.















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