Kultur-Vogel

Die Freundin ist nach fünfzehnjähriger Tätigkeit im Dienst des wirtschaftsbelebenden Tourismus gekündigt und in die Verbannung geschickt worden. Nicht weil sie wie weiland Napoleon irgendwas vorangetrieben hätte. Es ist schlichter: sie weiß zuviel. Das meint nicht unbedingt ihre Einblicke in die sklerotischen Strukturen einer kommunalen Behörde. Eine hierfür erforderliche Verschwiegenheit hätte sich ja noch durch eine Erhöhung des Salairs erledigen lassen können. Aber genau das ist mit diesem Zuviel an Wissen gemeint: Kein Mensch interessiert sich mehr für diesen ganzen Kulturkram bis hin zum Antikenwissen. Für die drei immer wieder gestellten Fragen nach der schönen Welt des Shopping, der menschenfreiesten Calanque oder des billigsten Restaurants benötigt man niemanden mit zehn Jahren Studium. Wer will denn noch wissen, warum die ganze Stadt auf einem riesigen Griechenklo hockt? Das wird ohnehin nach und nach und still und leise zugeschüttet. Sie ist überqualifiziert — und damit zu teuer, wohl auch, weil zu alt.

Meine Güte! Da sitze ich nun in der sich zusehends friedlicher gebärdenden Dunkelheit der Autoroute und denke nach über «neue» Kündigungsmöglichkeiten am französischen Arbeitsmarkt. Da lachen ja die Bresse-Hühner um mich herum, die auf der Stange sitzen und vermutlich darüber grübeln, was das für ein seltsamer Vogel ist, der da über so so seltsame Dinge sinniert, anstatt mit sich über den Geschmack ihres Fleisches oder wenigstens über den dazu passenden, in der Nähe wachsenden wunderschönen Wein zu philosophieren, wie das jeder normale, anständige Mensch aus diesem Kulturkreis mit verzücktem Gesicht tut, wenn er an ihnen vorbeifährt.
 
Fr, 05.06.2009 |  link | (4375) | 14 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs


prieditis   (05.06.09, 01:02)   (link)  
Fragen nach der schönen Welt des Shopping
Das ist schlimm!
Heute war ich per pedes unterwegs und hörte marodierende Jugendliche (von auswärts) rufen: "Heee, geil, Zara (Bekleidungsfilialist)! Genau wie in Köln!"

DAS ist die neue Kultur! Shophopping! Und wer alle Filialen in sein Sammelalbum geklebt hat, der bekommt was tolles geschenkt...


jean stubenzweig   (05.06.09, 04:16)   (link)  
Ein seltsames Spiel
ist das, ja. Vor ein paar Stunden hatte ich's jemandem geschrieben: Zuvielen Menschen bin ich begegnet, die ihr eigenes Land, teilweise sogar ihre Region nicht kennen, aber ständig übers Wochenende tausende Kilometer zurücklegen - um dann einen Einkaufsbummel zu absolvieren. Aber ist es denn ein Wunder? Konsum! Konsum! wird überall gebrüllt. Die Wirtschaft muß (wieder) leben. Und oft genug weiß man nicht, ob man sich, zumindest im jeweiligen zentralen Bereich oder auf der grünen Wiese, in Ahrensburg oder Besançon oder Bitterfeld oder Castop-Rauxel oder Beau- oder Deauville oder Gedser oder Lëtzebuerg oder Lloret de Mar oder Mariagne oder Rovaniemi oder Zwolle oder sonstwo in Globaleuropa befindet. Es spielt ja auch keine Rolle (mehr), das ist die neue Orientierungshilfe: Heee, geil, Clara! Genau wie in Köln! Nur – weshalb sollten andere dann noch Navigationsgeräte verkaufen? Um Clara in Bielefeld, Chemnitz, Erfurt, Sulzbach am Taunus oder Viernheim oder sonstirgendwo in der Internationalen zu finden?


hanno erdwein   (05.06.09, 09:00)   (link)  
Kultur wird störend oft empfunden,
derweil sie mit Gehirn verbunden ...
Tja, und wer will das schon? Kulturreisen sind megaout. Konsumreisen sind nun mal geil. Ich glaube, wir können bald das Grabtuch über unser so geschätztes kulturelles Abendland breiten und in die "wackere neue" Konsumwelt wechseln, falls wir da nicht schon angekommen sind.


nnier   (05.06.09, 10:42)   (link)  
Gerade neulich fragte ich mich, ob ich den Ort, an dem ich mich befand, einmal komplett durchfotografieren sollte. Es sah aus wie überall, es waren die Geschäfte von überall, und ich hätte gerne ein Ratespiel daraus gemacht: Wo ist das?

(Sie sind schon wieder unterwegs?)


jean stubenzweig   (05.06.09, 14:50)   (link)  
Vor einigen Jahren
hatte ich diese Eindrücke ja überwiegend auf der grünen Wiese oder an Orten wie Tankstellen etc., als nicht nur das Warenangebot begann, zunehmend identisch zu werden, sondern auch die (Innen-)Architekturen (soweit der Begriff hierbei überhaupt noch statthaft ist) ins Einerlei gerieten. Aber dann begannen sie massiv in die Innenstädte einzugreifen, diese meist eigens für solche Untaten gegründeten, europaweit aktiven Unternehmen, heftig unterstützt von den jeweiligen kommunalen Parlamenten oder Stadtverordneten. Ein bißchen Bakchich scheint wohl immer kleben zu bleiben, einen anderen Grund für diese Gräßlichkeiten kann ich mir nicht vorstellen; na gut, der fehlende Ästhetik-Unterricht an den Schulen allüberall, für den keine Zeit ist, da man ja was Ordentliches lehren bzw. lernen muß. Shopping Center oder City oder Centrum oder wie auch immer diese Monstrositäten für reduzierte Geiste heißen mögen, die zudem den letzten Resten des Einzelhandels den Garaus machen, da sich in der Regel der Kolonialwarenkramer solche Mieten nicht leisten kann und somit Weltkonzerne ihre Filialen dort hineinsetzen.

Wenn sie uns wenigstens die Illusion ließen, man führe in ein anderes Land. Alleine dieses Grundes (und ein paar weiterer Anlässe in diesem Zusammenhang) wegen wandle ich mich seit einiger Zeit vom ehemaligen Befürworter zu einem Gegner der Europäischen Union. Aber ich war anfänglich ja auch so naiv, diese Aktion diene dem allgemeinen menschlichen Zusammenrücken. Damals kam ich nicht auf den Gedanken, daß alles dem schnelleren Geld unterworfen und nicht, wie suggeriert wird, dem rascheren Reisen dienlich sein könnte. Dieses Europa ist eine Seuche. Ich will meine guten Francs wiederhaben, meinetwegen die alten (schönen großen Lappen). Da ich nie große Grenzübergänge genutzt habe, mußte ich auch nie warten – allenfalls mal oben auf den Pyräneen bei Coustouges auf alten Schmugglerpfaden oder bei Rudbøl auf dem Nebenweg nach Tønder, weil der jeweilige Grenzer froh war, daß sich endlich mal einer hat blicken lassen. Die haben dann eben mal in die Zahnpastatube und in das Auto geguckt. Und man hat miteinander geplaudert, und sei es, mit Händen und Füßen.

Mal kurz nach dem Rechten sehen. Aber das mache ich ja öfter, so'n Hüpfer auf Kerosinbasis (gute 1.500 Autokilometer, ohne Ausschweifungen).


damenwahl   (06.06.09, 19:54)   (link)  
Ich kann nach leidvoller Erfahrung bestaetigen, dass nicht alle Touristen immer nur shoppen. Soeben mit Massen krebsroter Strandurlauber im Museum Nahkampf geuebt, und da frage ich mich ganz subjektiv und egoistisch: haetten die nicht lieber einkaufen gehen koennen, statt mich da zu stoeren? Oder zu Hause bleiben? Ich waere gerne tolerant und grosszuegig, aber schon beim Anblick der halbnackten Touristen in Strandkleidung vergehen mir alle guten Vorsaetze.

Aber Sie meinen natuerlich etwas anderes...


jean stubenzweig   (07.06.09, 01:29)   (link)  
Gab's ein Gewitter?
Ich frage das wegen der Äußerung aus den Siebzigern von Andy Warhol: Die Leute gingen nur ins Museum, wenn's regnet. Oder gab's was besonderes zu gucken, etwa Fabergé-Eier oder sonstiges Exotisches wie sie selbst oder Warhol-Siebdrucke oder anderes, etwas, worauf was zu erkennen war? Oder haben sie Kühlung gesucht bei der Kunst? Da strömen sie. In Massen. Da geht man sich dann am besten erholen bei den Alten Meistern. Bei denen ist meistens Ruhe. Andererseits nimmt man während des Urlaubs ja grundsätzlich auch die mal eben mit. (Oben gehen sie ein bißchen alte Architektur gucken ...)

Ja, sogar in Kirchen gehen sie in Bikini oder Badehose. Das habe ich mehr als zigmal gesehen. Aber das sind dann diejenigen, die trotz aller Weltbereisungen nichts gesehen haben, weil sie sich nicht unsichtbar machen können oder auch wollen – denn nur dann sieht man was, wenn man nicht zu sehen ist, wenn die Einheimischen einen für einen der ihren halten. Was für eine Europäerin in Nordafrika sicherlich nicht so leicht ist. Selbst wenn sie normal gekleidet ist, da sie sich an die Sitten und Gebräuche ihres Gastgeberlandes anpassen möchte.

Aber das alles sind mittlerweile Problemchen angesichts der Tatsache, daß alle Welt meint, sich bald ausnahmslos vom Tourismus ernähren zu wollen oder zu können oder zu müssen. Vermutlich verhält es sich mittlerweile wie bei den Nahrungsmitteln: der Transport von Äpfeln aus Chile oder China ist günstiger als der vom Alten Land nach Bremen (dazu hatten Sie sich unlängst ja auch geäußert). Deshalb wohl kennen sie längst Tunesien besser als den Süden Hamburgs, die Hamburger.

Übrigens: Das Lieblingsreiseziel der Hessen ist Sylt, sagte neulich der Häßliche Rundfunk, nein, das Häßliche Fernsehen. Danach käme die Ostsee, Rügen etwa. Tunesien kam nicht vor. Sie sind offenbar eine Exotin. Und ich unterliege falschen Vermutungen. Oder es sind alleine die Hessen, die im Land bleiben und sich redlich ernähren ...


prieditis   (07.06.09, 17:41)   (link)  
halbnackte Touristen in Strandkleidung
Schnickschnack, das waren alles Künstler ;o)


jean stubenzweig   (07.06.09, 20:37)   (link)  
Ich bin widerlegt.
Offenbar verbringen viel mehr Deutsche die schönste Zeit des Jahres im eigenen Land als angenommen, zumindest im deutschsprachigen Raum Europas. Das ergab die Umfrage des Hessischen Rundfunks.

Dabei frage ich mich allerdings, weshalb die Billigflieger immer so proppenvoll sind? Es wird schließlich nicht nur nach Spanien geflogen.

Ich wollte das heute früh noch nachreichen, aber dann brach blogger.de ja zusammen (oder sollte ich der Einzige ´gewesen sein, dem's an Masse fehlte?).


Ach, Herr Prieditis, Künstler gehen doch heutzutage wieder in Frack und Zylinder ins Museum, um die eigenen Werke zu bestaunen. Oder meinen Sie: Der Künstler selbst als Objekt (der Begierde).


prieditis   (07.06.09, 22:10)   (link)  
oder der (gähn) PROVOKATION!!!
Ich gebe allerdings zu, ich habe da auch das ein oder andere Hemd mit Vatermörderkragen - aber mir fehlen die Manschetten- (die hab ich dafür öfter mal im übertragenen Sinne) Knöpfe...
Seit meiner Schulzeit hab ich auch keinen Zylinder mehr getragen. Ich muß das gute Stück mal suchen, irgendwo hab ich es noch und dann frisch auf! ins Museum! ins Freilichtmuseum! Auf den Spuren von Buckenhüskes...


apostasia   (05.06.09, 23:51)   (link)  
Raus aus Europa?
Das dürfte aber auch seine Probleme mitbringen. Der ORF brachte kürzlich eine eine visionäre Sendung zum Thema – vermutlich aufgrund einer FPÖ-Forderung nach einem EU-Austritt. Eine derartige politische Position des rechten Randes dürfte hier doch wohl kaum gemeint sein. Ich werte sie deshalb als Ironie. Zumindest lasse ich sie mitschwingen ...


jean stubenzweig   (06.06.09, 03:32)   (link)  
Lechts oder rinks,
das sind Begriffe, mit denen ich leichte Schwierigkeiten habe. Aktuell halte ich sie für irrelevant, weshalb ich sie verballhorne, da sie in der Regel nur noch als Abziehbilder benutzt werden (können). Vor allem die Bezeichnung links ist mir zu undeutlich geworden (auch wenn Che2001 mal hilfreich war bei der Unterscheidung). Und rechts, sicher, das ist, zumindest aus meiner Perspektive, schon deutlicher, das ist mir in jedem Fall unangenehm und befremdend, da friert's mich manchmal arg.

Meine Kritik an der EU – ja, es ist in erster Linie ironisch gemeint, ich möchte keine wirkliche Auflösung oder irgendeine Trennung – nährt sich am ehesten von der attac-Argumentation; wobei mir hier die Machtkämpfe vor allem bei den französischen Ur-Attackisten genauso zuwider sind wie jedes andere Machtreben auch. Mit denen habe ich seit der Gründung 1998 sympathisiert, inspiriert von der Confédération paysanne bzw. José Bové, der sich von Anfang an gegen eine Industrialisierung der Landwirtschaft und damit der Lebensmittel gestellt hat. Nicht unerwähnt sein möchte dabei Alice Waters.

Das ist es, woran ich denken muß, wenn es um Arbeitsmarkt und Bresse-Hühner geht. Die Architektur oder das, was so genannt wird, hat selbstverständlich mit der EU nichts zu tun. Das ist alleine den ästhetischen Vorstellungen irgendwelcher Bürgermeister und deren anhängenden Gemeindevertreter (jeweils auch -innen) zuzuschreiben, die nichts anderes kennen als Wirtschaft – wobei nicht das Wirtshaus gemeint ist. Womit wir wiederum bei dem angelangt wären, was auch schon gerne mal Global World genannt wird.


apostasia   (06.06.09, 13:18)   (link)  
Sehr ausführlich.
Nun, als Weiterführung ... Danke. Interessant die Positionen der Linken. Aber bei der Rechten gibt es doch auch unterschiedliche Haltungen.


jean stubenzweig   (06.06.09, 14:56)   (link)  
Berüchtigt bin ich
dafür. Aber ich kann (und will auch) nicht anders. Oder so: Ich mag diese Schnatterkürze nicht. Wenn ich das bei ein paar Wenigen mit Pfiff durchaus auch genießen kann. Allerdings empfinde ich mich auch nicht als klassischen Blogger; ich nutze halt die Weichware für meine Logbuchaufzeichnungen, auf hoher See alleine in der Kajüte hockend bei einem Gläschen (manchmal hochmostgewichtigen) Wein. Und dabei fällt mir eben immer noch dieses oder jenes ein, nicht nur hier beim Schreiben (immerwährendes Verfertigen der Gedanken ...). Die Familie ist leidgeprüft. Was nicht heißt, daß ich nicht ebenso gerne zuhöre.

Zur Rechten fällt mir allerdings zugestandenermaßen nicht sonderlich viel ein. Das mag eine Bildungslücke meinerseits sein, die zu schließen wäre, um diskussions- und debattierfähig zu sein. Aber mich eingehend mit denen zu beschäftigen, dazu fehlt mir dann doch die Lust. Außerdem ist das Netz voll davon. Da muß ich hier nicht auch noch zwanghaft Wissen vortäuschen.















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