Elektronik versus Mechanik

Eigentlich wäre es ja dem Bereich Fluch(t) der Mathematik zuzuordnen. Aber da in den letzten Stunden mehr oder minder heftig über diese Thematik debattiert wurde, widme ich ihm einen gesonderten Eintrag, nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Tatsache, daß das Buch, aus dem das nachfolgende Zitat stammt, 1999 erschienen ist und ich ein Stück schmunzelnder Erinnerung hervorkramen durfte.

«Monsieur Ruche holte sein kartoniertes Heft heraus — es war schwer —, schlug es auf, blätterte darin. Zum Glück hatte er ein dickes Heft gekauft, denn es war schon ziemlich vollgeschrieben. Dick und schwer. Er packte seinen völlig neuen Federhalter aus, den ihm eine seiner ehemaligen Kundinnen kürzlich aus Venedig geschickt hatte, Ganz aus Glas! Nicht nur der Griff, sondern auch die Feder. Aus gedrehtem Glas. Er kam direkt aus Murano, ‹vor meinen Augen angefertigt›, hatte sie ihm in dem kleinen Begleitbrief versichert.

Er stellte sein Tintenfaß auf den Tisch, drehte den Deckel auf, tauchte die Feder ein und ..., überall um ihn herum wurde die Arbeit unterbrochen. Seine Nachbarn starrten ihn befremdet an. Erst jetzt bemerkte Monsieur Ruche , daß er in der Ecke mit dem Labtops saß. Er war von schwarzen Portables umgeben, deren graue Kabel in weißen Anschlußbuchsen steckten!

Glücklicherweise hatte er sich riesige mathematische Lexika und nicht weniger imposante Abhandlungen zur Wissenschaftsgeschichte bringen lassen, die einen Schutzwall bildeten, hinter dem er Deckung fand. Er tauchte seine Glasfeder in das Tintenfaß und begann zu schreiben. Die Feder knirschte. Sofort brach überall um ihn herum ein Rattern los. Auf den Tastaturen ringsherum wollten nervöse Finger ihn an die Überlegenheit der Elektronik gegenüber der Mechanik erinnern.»

Angefügt sei, daß man der Mathemathik verfallen sein, zumindest aber diesem Teil der Wissenschaftshistorie anhängen sollte, um sich diesem Buch zur Gänze hinzugeben: es läßt Mathematik und Philosophie wieder eins werden. Andererseits ist die transportierende Rahmenhandlung in einem mit dem Protagonist aussterbenden Paris, wie sie möglicherweise nur ein im Maghreb verwurzelter Autor erfinden kann, skurril genug, um allein als Erzählung genossen zu werden.


Aus: Denis Guedj, Das Theorem des Papageis, 1999 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg; Le théorème du perroquet, 1999 Éditions du Seuil, Paris

 
Mo, 13.07.2009 |  link | (3377) | 18 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


fluechtig   (13.07.09, 13:51)   (link)  
Es heißt ja, so habe ich es gehört und gelesen, dass die Mathematik Logik pur sei und Philosophie eher ein abstraktes Gleiten zwischen Logik und Unlogik sei. Die Mathematik ist mir von Kindesbeinen an fremd geblieben, und ich bin offen gestanden froh, dass die Rechenmaschine erfunden worden ist. Die Philosophie liegt mir da mehr, wenngleich ich hier natürlich auch nur stümperhaft die Nase hineinrecke.

Bei aller Technik liebe ich die stillen Stunden, in denen ich mit Bleistift Papierseiten beschreibe. Sehr sogar.


jean stubenzweig   (13.07.09, 18:10)   (link)  
Das ehemals Eine
wurde später zweigeteilt. Zur Weisheit gehörte früher auch eben diese Logik, beide waren eine Einheit. Und Unlogik in der Philosophie ist mir ohnehin eher unbekannt. Abstrahieren beispielsweise ist meines Erachtens eher dem Mathematischen zuzuordnen: Unwesentliches vom Wesentlichen trennen und andersherum. Oder auch so: Gerade unter Mathematikern oder Physikern oder Astronomen befinden sich außergewöhnlich viele philosophische Köpfe – immer auf der Suche nach dem Woher und dem Wohin.

Ich würde auch das – von Ihnen und auch mir nicht sonderlich geliebte – Rechnen nicht unbedingt der Mathematik zurechnen, wenn das auch im allgemeinen Sprachgebrauch geschieht. Grundrechenarten beispielsweise als Mathematik zu bezeichnen, das halte ich für eine Augenwischerei, die nichts anderes bezweckt, als der Sache eine aufwertende Verpackung zu verleihen

Sehr schön kommt ja in diesem Zitat heraus, wie der Geist der Mechanik – von Ihnen Technik genannt – still den Ungeist des ratternden Eins plus Null et cetera überdeckt, der sich möglicherweise auch noch als Mathematik geriert und gar als Sieger fühlt.

Aber mittlerweile habe ich ohnehin den Eindruck, immer mehr Menschen hielten Computer für Denkmaschinen. Weshalb sie ihr Hirn auch nicht mehr einsetzen. Oder das, was davon noch vorhanden ist. Denn nicht mehr benutzte Organe stellen im Lauf der Zeit ihre Funktion ein.


tropfkerze   (14.07.09, 19:34)   (link)  
Oh, man sollte die Grundrechenarten nicht so abwerten. Das grundlegende Axiom aller Mathematik, niedergelegt von Peano, lautet:

1 ist eine Zahl.

Darin ist schon ein Gutteil aller Mathematik verborgen. (wenn auch nicht alles.)

Nein, die Mathematik ist nicht pure Logik, wie Herr Fluechtig meint. Das hat man mal geglaubt und ist damit gescheitert. Die Mathematik ist in der Tat mehr als Logik, die Zahl ist mehr als reine Form. Klingt doch interessant, oder?

Und dann habe ich kürzlich noch einen schönen Spruch von Leonardo da Vinci gelesen, den ich mir einfach nicht verkneifen kann: "Niemand lese mich, der kein Mathematiker ist." Was für Zeiten, als die Künstler noch Philosophen, die Philosophen noch Mathematiker waren (*) und nicht solche künstliche Gräben aufgetan wurden!

(*) Ich erinnere z.B. an Leibniz, Descartes, Russell, Husserl. Und nicht an Pfaffen wie Heidegger.


jean stubenzweig   (14.07.09, 20:37)   (link)  
Das wird's wohl sein,
was Frau Flüchtig meint und dem andere wohl ebenfalls unterliegen, vermutlich weil's so ist, wie Sie's schreiben: «Das hat man mal geglaubt und ist damit gescheitert.» Dennoch hält es sich hartnäckig. Es gibt nunmal Irrtümer, die haben eine weitaus längere Halbwertzeit als die Asse- oder Krümmel-Philosophen in den Kultusministerien. Wo käme man denn dahin, wenn im Mathematikunterricht auch noch philosophiert werde dürfte? Die Schule will erledigt werden. Die Staaten benötigen Bruttosozialproduktsteigerer und keine Philosophen. Auf den Arbeitsvermittlungsämtern und den angeschlossenen Verhinderungsstellen hat man für letztere keinee Zeit; außerdem versteht man die nicht. Statistiker (für die Kosmetik) sind gefragt. – Ach, ∞.


herzbruch   (14.07.09, 21:01)   (link)  
wenn in der schule in mathe philosophiert wuerde, haette man am ende noch mehr interessierte schueler, und das will ja anscheinend keiner. ich hatte im abi 0 punkte in mathe und verdiene mit formaler logik mein geld. wofuer man ableitungen braucht, weiss ich immer noch nicht (vielleicht mal nachgucken. ohne unmotiviertes fossil mit achselgeruch vor mir verstehe ich das vermutlich.)


jean stubenzweig   (15.07.09, 04:23)   (link)  
Daß Sie noch so klar
denken können, mit nachwachsendem 2.0 und so, das läßt mich lächeln ...

Null Punkte in Mathematik und mit formaler Logik Geld verdienen und auch noch zu Lehre fähig sein. Erzählen Sie das mal den würdevoll geleerten Bildungsbeamten, nein, besser, den Gestaltern rein logischer Gesetze. Aber es wird nichts nutzen, die sitzen in den von Tropfkerze erwähnten aufgeworfenen (Schutz-)Gräben und lassen die von ihnen konstruierten Granaten lähmenden Giftes über sich hinwegzischen.

Wie mehrfach erwähnt – ich bin froh, nicht mehr jung zu sein. Aber die Jungen ...


tropfkerze   (15.07.09, 09:18)   (link)  
Oh, Frau Fluechtig, pardon, aber ich wusste ja nicht...


jean stubenzweig   (15.07.09, 12:25)   (link)  
Die Mathematik
ist schließlich weiblich. Aber ich nehme an, es wird pardoniert werden ...


herzbruch   (15.07.09, 18:38)   (link)  
es scheint ja, dass einstein ohne mileva auch nix geworden waere...


jean stubenzweig   (15.07.09, 21:06)   (link)  
Einstein möglicherweise nicht.
Aber noch ein paar andere Genies ohne ihre Damen auch nicht. Davon bin ich übezeugt.


apostasia   (13.07.09, 19:31)   (link)  
Also letzten Endes doch
"klammheimlicher" Freund der Mathematik? Und damit zuvor ein bißchen Koketterie?


jean stubenzweig   (13.07.09, 21:09)   (link)  
Nein, nicht wirklich.
Es trifft durchaus zu, was ich geäußert habe, wobei tatsächlich eher die Rechnerei gemeint ist. Wäre es anders, dann würde ich am Ende gar noch zum Philosoph (s. o.) ...? Aber die (Wissenschafts-)Geschichte in diesem Zusammenhang empfinde ich schon als ungemein spannend – vielleicht ja gerade deshalb, weil ich vieles nicht verstehe. Wenn man's so betrachtet, meinetwegen auch Koketterie oder vielleicht auch das Offenhalten eines Rückzugsloches. Denn ich kann nicht wirklich mitreden, und problematisch wird's in jedem Fall dort, wo ich nur noch böhmische Ortsnamen lese.

Aber verstehen tät' ich's schon ganz gerne: Astronomie, Mathematik, Physik. Vermutlich deshalb habe ich von Anfang an der Sendung (die's wohl nur noch in Wiederholungen gibt? ein paar habe ich auf Video) mit dem Astrophysiker Harald Lesch und dem Philosophen Wilhelm Vossenkuhl gelauscht und gehe manchmal sogar in alpha-Centauri oder andere Sendungen von und mit Lesch rein, mitten in der Nacht, besser früh morgens (Wiederholungen?), wenn ich mich wachgelesen habe, weil dann manchmal ein wenig hängenbleibt; allerdings sind mir die Plaudereien der beiden bei Essen und Wein am liebsten.

Vielleicht sind das Alterserscheinungen, die ja häufig das herbeisehnen, was man früher verschlafen oder geschwänzt oder sich schlicht zu wenig dafür interessiert hat.


caterine bueer   (14.07.09, 02:54)   (link)  
Du und Mathematik?
Da muß irgendwas an mir unbemerkt vorübergelaufen sein. – Man sieht sich zu selten.

Die Frage ist nur: Kann auch ich solche Geisterscheinungen bekommen? Nicht, dass ich eines Tages anfange, für die Bewertung eines Hexameters den Zollstock zu suchen.


jean stubenzweig   (14.07.09, 09:22)   (link)  
Womit wir zumindest
in die Nähe der einstigen Einheit kämen. Auch zeitlich. Und der Beleg dafür erbracht wäre, daß alles mit Maß angegangen werden sollte. Unter anderem die Kinderproduktion (ouf!) ...

Darf man so derartig respektlos mit dem Alter umgehen? Möge eine andere hexerische Form in Dich schießen. – Ja, der Irrsinn steckt in den Genen!


bufflon   (14.07.09, 09:28)   (link)  
Schulmathematik war für mich immer der Graus, nachdem Lehrer L. die Schule verließ und aufstrebender Strebling die Kurse übernahm und sich über Mathematikschwächlinge lustig machte. Dann lieber still sitzen und nachdenken, über Gott und die Welt, nur keine Funktionen berechnen. Nun las ich Lem und jetzt auch "Eine kurze Geschichte der Zeit" von Hawking und dort drängt sich die Einheit von Mathematik (und Physik) und Philosophie förmlich auf, an jeder Ecke wird nach einem Gott gefahndet oder die Frage nach der Herkunft der Menschheit gestellt.

Überlegenheit der Elektronik gegenüber der Mechanik? Bedingt, denke ich, die Elektronik mag so manches schneller erledigen, ist dafür aber auch anfälliger.


jean stubenzweig   (14.07.09, 12:01)   (link)  
Ein bißchen Lem
hatte ich auch schon (vor vielen Jahren), da müßte ich mal wieder (neu) guckenlesen, Hawking könnte ich mir vorstellen, mal ranzugehen, aber bei allem wahrlich nicht wegen dieser Gottsucherei, eher die nach der Welt und dem, wie sie entstanden ist. Wie auch immer – das sind exakt die Punkte, die mir interessant erscheinen, weil sie am ehesten noch welterklärend sind. Womit wir, wie erwähnt, bei der alten Philosophie sind – und nicht bei dem, mit dem Werbeagenturen oder Computergersteller ihre Existenz zu begründen trachten.

Und das mit der Schnelligkeit? Ich weiß nicht so recht. Wir wissen doch, daß die Papierindustrie im Gegensatz zu allen Unkenrufen enorme Umsatzzuwächse zu verzeichnen hatte, seit es die elektronische Post gibt. Hier käme jetzt das zum Tragen, was gerne als Mathematik bezeichnet wird: das Bedienen eines (Taschen-)Rechners.


famille   (17.07.09, 16:15)   (link)  
Mathematische Niete
«Also, Sie sind jedenfalls nicht der erste fachfremde, wahrscheinlich mathematisch völlig ungebildete, ingenieurtechnisch völlig unbegabte Mensch, mit dem ich über meine Computer und über mein Leben rede ... Da brauch ich Ihnen gar nicht Ihre Mathematikaufgaben vom Abitur vorzulegen, das rieche ich gegen den Wind, dass Sie eine mathematische Niete sind ... Und immer, wenn ich mit Leuten wie Ihnen zusammensitze, hier auf dem Stoppelsberg oder in der Kantine des Deutschen Museums, schwärme ich von einem mittelmäßigen Jägerschnitzel oder einem kreuzbraven Kotelett. Wenn ich die Mitleidsplatte auflege vom verkannten und verleumdeten Jägerschnitzel und vom verkannten und verlachten Erfinder, dann dauert es nicht lange, bis mein Gegenüber so weit ist, das Jägerschnitzel oder das Kotelett zu bestellen, obwohl er vielleicht lieber die Rhönforelle gehabt hätte.»


«In einer Vollmondnacht im Sommer 1994 sitzen ein alter Herr und ein junger Mann auf einem Berg und reden. Der eine ist der Erfinder des Computers, der andere eine mathematische Niete, ein Journalist. Der Alte erzählt - während er den Festakt zu seinem vierzehnten Ehrendoktorhut schwänzt – von den Wundern, die er mit handgesägten Einzelteilen am Wohnzimmertisch in Berlin-Kreuzberg vollbracht hat, von seiner Arbeit in Nazideutschland, von der dramatischen Flucht mit der "Universal-Rechenmaschine" in den letzten Kriegswochen, von seiner Werkstatt in der Rhön und seinem Pech mit den Patentämtern.»

Friedrich Christian Delius: Die Frau, für die ich den Computer erfand


jean stubenzweig   (17.07.09, 19:04)   (link)  
Ach! Delius.
Wieder was von ihm zu lesen. Darauf freue ich mich.















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