Mensch, Freundlichkeit und (Sinn-)Bild




Da ich bei mir selbst nie so recht weiß, woran ich mit mir bin, betreibe ich ja unter anderem diese Freizeitbeschäftigung hier. Ich schreibe etwas auf, ohne zu wissen, wohin die Gedanken führen. Oder ich versuche alte neu zu denken. Immer wieder mal. Sonst werde ich am Ende noch zum Ideologen. So wege ich mich zum Ziel, völlig desinteressiert daran, ob es überhaupt eines gibt. Das ist ja das Angenehme an diesem Zustand (hier). Ich bin überdies alleine deshalb zum Lehrer völlig ungeeignet, da ich nie genau weiß, ob es richtig ist, was ich lehre. Das weiß ich so genau jedoch erst, seit ich das nicht mehr tue. Das ist das Angenehme am Älterwerden, man nähert sich unaufhaltsam diesem Zustand der Glückseligkeit, der das Fragen wieder erlaubt, ohne die Ängste, sich selbst infrage zu stellen. Deshalb spielt es auch weiter keine Rolle, ob man weiß, woran man ist.

Leichte Bedenken habe ich bei der angeführten Menschenfreundlichkeit. Oder mal so herum: Was dem einen freundlich erscheint, muß dem anderen nicht unbedingt dasselbe bedeuten. Mich zum Beispiel stößt eine gewisse Form von Kitsch besonders ab. Sicher, der Begriff wird ohnehin nie zuende definiert sein, da das Denken sich wandelt; ob nun durch Täuschung von außen gesteuert oder hausgemacht (mittels der Zutaten vom Discounter). Es gibt, in Frankreich übrigens noch sehr viel ausgeprägter als in Deutschland, diesen quasi ecken- und kantenlosen Kitsch, der von Luigi Colani stammen könnte, wäre er nicht so durchideologisiert in die Nähe von Marius und Jeannette (vergleichbar mit Lieschen und Fritzchen Müller) gerückt, der östlich des Rheins gerne Gemütlichkeit genannt wird und westlich davon jene Intimité ausstrahlt, die den (heutigen) Idioten der Antike bestimmt: Doch wie's da drinnen aussieht, geht niemanden etwas an, meinte einst Franz Lehár. Ein bißchen was hermachen können, wenn Besuch kommt, das möchte dann aber doch sein.

Es gibt mir zuviel Angebot an Menschentümelei, die sich vor allem deshalb gut verkauft, weil andere Möglichkeiten unbekannt sind. Sie bietet in erster Linie (Schein-)Identität an, oft massenhafte. Und die kann, die Geschichte belegt es, gewaltig in die Irre führen. Man wählt, was man kennt und am meisten Bequemlichkeit verspricht. Oder ein wenig eigener Möchtegernsehnsucht. Wenn Menschlichkeit etwas ist, das von innen kommt und sich draußen als völliges Durcheinander zeigt, fernab jeder fremden Formbestimmung, sondern auf Eigenheit beruht, dann geht mir das Herz auf, und ich setze mich mittenrein in die Herzenansammlung. Ich habe mich beruflich bedingt in so manchem Haus aufgehalten, in dem nicht eine Spur eigenen Lebens zu sehen war, so daß ich gänzlich unberührt von Feinem oder Unfeinen wieder gegangen bin. Das war allerdings nie der Fall, wenn der Aufenthalt von der Bereitschaft zur Auseinandersetzung begleitet war. Dabei hat mich manch ein Baumschüler positiv überrascht. Die meisten Kitschiers des Mitfühlens sind mir dort über den Weg gelaufen, wo gerne von Bildung gesprochen wird — in der Interpretation dieses Begriffes, die Wachstumsförderung im Sinne raschen Einsatzes an der Front des Bruttosozialproduktes meint. Mit Geschmack hat das nichts zu tun.

Ist Inhaltsleere tatsächlich eine «dumme Ausrede»? Was geschieht, wenn das dezent kleingehaltene arabeske Schriftbild in Anusnähe auf dem Popöchen der Akademikerin, im Sommer der Mode wegen für alle sichtbar am algerischen Strand, derselben übersetzt wird? Etwa, nur mal als Beispiel: «Dies ist ein Hort der Lust.» Sicher, das ist interpretierbar. Aber der Mann mit dem elektrischen Farbhämmerchen hat's auch nicht gewußt, daß sein Kumpel aus Marseille, dieser Beur oder wie dieser Kanake heißt, sich ein Scherzchen mit ihm und jetzt mit ihr erlaubt hat, obwohl ihr Hintern gar nicht gemeint war. Ebensowenig wußte der münchnerische Kollege des Meisters aus Wanne-Eickel, was es bedeutet, das maorische Tatoo, das er verewigt hat auf den Oberarm des jungdynamischen Sparkassenangestellten, früher Beamter, heute eher Banker genannt — etwa so, wie der Schütze Arsch, der in Afghanistan das deutsche Grundgesetz verteidigt, mittlerweile landläufig als Militär bezeichnet wird —, der nicht nur der Kleiderordnung seines Instituts wegen im Sommer ungern kurzärmelige Hemden trägt, daß dieses hübsche und reizvolle, während eines Pauschalurlaubs gesichtete und abphotographierte polynesische Ornament aussagt: «Scher' dich aus meinem (Neusee-)Land, du europäischer Verbrecher.» Ich weiß nicht so recht — manch ein Zeichen hat sich so in seiner (Be-)Achtung verschoben und ruft nach Entfernung, seit dessen Bedeutung erklärt wurde.

Allen anderen ist das egal, klar. Aber, architekturrevoluzzerisches Gepoltere hin oder her, in diesem Bereich stimme ich Adolf Loos auch heute noch zu, der im übrigen mit seiner Polemik dem Zeitgeist entsprechend etwas übersteigert weniger das Ornament zum Verbrechen als mehr den Träger dieser Dekoration für minderbemittelt erklärt hat. Aber das haben Sie ja bereits gesagt. Wenn auch etwas anders. Doch es ist ja längst nicht alles so mit Bedeutung aufgeladen wie hier.

Ich höre übrigens allen gerne zu, die etwas zu sagen haben.
 
Mo, 26.10.2009 |  link | (2477) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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