Lothringischer Eintopf Der Geschichte Ungleiche Brüder zweiter Teil. Ein unangenehmes Geräusch unterbrach seinen sanften und freudvollen Schwebeflug über das saftige Grün internationaler Begegnungen mit all ihren göttlichen Farbtupfern. Nach einer Weile identifzierte er es als typisches Gerassel eines Hoteltelephons. Die Uhr zeigte kurz nach sieben, aber man hatte ihm mit freundlichem, fast schon liebevollem Lächeln im Restaurant noch eine Flasche des besinnlichen Moulis serviert, den er von anderen Häusern dieser von ihm bevorzugten Kette kannte und der ihn einigermaßen in eine innere Gerade zurückbrachte. Das Gerassel endete, begann jedoch erneut, als er sich gerade hineinbegeben wollte in die Hoffnung auf die Fortsetzung seines Gleitflugs. Er würde seinen Bruder anrauzen, quasi zurückraunzen auf dessen Reaktion gestern abend, des einen senile Bettflucht sei möglicherweise ein ausreichender Grund für eine erneute Beendigung von Familienbanden. Am anderen Ende der Leitung flötete ihn Engelhaftes an mit tausenden von Entschuldigungen für die frühe Störung, aber die enge Verwandtschaft sei unterwegs auf dem Weg zu ihm und deren ausgeprägtes Organ sicherlich in Kürze zu vernehmen. Sie wolle ihn vorbereiten. Das täte sie nun auch, wenn auch anderweitig, auf dem Markt, wo sie mit Sicherheit auch ein paar Schalentierchen erstehen könne, wenn nicht dort, dann in den Galeries Lafayette, die hätten sogar häufig Garnelen aus dem Golf von Thailand. Überhaupt sei sie glücklich, ihn hier zu wissen, nicht nur, weil der Bruder, der seiner Heimat auch in der Küche streng verbunden sei und am liebsten dreimal am Tag das äße, woran sie sich mittlerweile zwangsläufig auch schon gewohnt hätte, an Quiche lorraine nämlich, die nähme er durchaus auch in einer Art Suppe mit viel Speck zu sich. Und froh mache sie sein Dasein, da ihr Gatte ihr mit leicht distanzierendem Gesichtsausdruck erzählt habe, sein Bruder nähme die seltsamsten Dinge zu sich, gerne Meeres- und Flußgetier, sogar Frösche, und schrecke auch vor fremdländischer Nahrung nicht zurück. Er wollte sie fragen, wie denn sie überhaupt zusammengekommen seien, erinnerte sich dann doch zunächst lieber an die chinesische Übersetzung der Frage «Wie geht es Ihnen»: Haben Sie heute schon gegessen? Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, klingelte es schon wieder. Er telephonierte höchst ungern, und am frühen Morgen schon gar nicht. Seinen Bruder erwartete er. Doch es war erneut seine Schwägerin, die ihm noch einmal sagen wollte, wie froh sie über seine Anwesenheit sei und daß sie ihm diese auch so angenehm wie möglich ausstatten würde, auf daß er möglichst lange bleibe. Die Aussicht auf weitere Redeflüsse einer offenbar im Schweigen Inhaftierten und zwischenzeitig aus ihrem Gefängnis Ausgebrochenen ließ allerdings leichte Zweifel an seinem Wohlbefinden aufkommen, zumal das Telephon kurz nach dem Auflegen des Hörers schon wieder klingelte. Dieses Mal war es sein Bruder. Er stünde an der Rezeption und warte auf ihn. In fünf Minuten ginge es los, bellte er noch hinterher, er solle seinen Plunder zusammenpacken, viel habe er ja nicht. Sie schienen sich beide nicht geändert zu haben. Zwanzig Jahre zurückversetzt fühlte er sich, in eine Zeit, die ihm nicht sonderlich gut in Erinnerung und weshalb ihm die Trennung unter anderem von ihm nicht schwergefallen war. Er nahm seinen Weltbegleiter mit ins Bad, das kleine Radio mit allen erdenklichen Wellen. Ein wenig drehte er daran, und als Musik erklang, fixierte er sie, obwohl er eigentlich lieber Wort hörte. Irgendwie kamen ihm die sanften, fast zärtlichen Klänge buddhistisch vor. Radio France lehnte sich eine Woche lang, so der Moderator mit leicht ironischem Unterton, zurück im möglicherweise nicht ganz so bequemen Sessel der südostasiatischen Vergangenheit des Landes. Als er auf seinen immerleisen Sohlen am Ende der Treppe angekommen war und sich der Réception zugewandt hatte, sah er seinen Bruder sitzen, vertieft in eine Zeitschrift für Automobile oder deren Zubehör. Sofort hatte er ihn erkannt, und das trotz seines Vollbartes, der wenigstens dieses Arschgesichtgewächs übertünchte, wie er es früher nannte, das er nie ausstehen konnte an ihm wie an anderen, diese behaarte Oberlippe mit den beiden Streifen hinunter zum umwachsenen Kinn. Eine Gesichtsfrisur war das, die typisch war für Männer, die jeden verrosteten und sich vermutlich seines Besitzers wegen krümmenden Nagel aufbewahrten, weil der ihn, mangels sinnvollerer Beschäftigung, noch einmal würde geradeklopfen. Doch nicht haushalterisches Talent trieb solche Menschen zu solchen Sammeltaten an, sondern nichts als der schiere Geiz. Sie waren es, die sich die diffizilsten Besorgungen machen ließen, die oftmals mehrere Tage in Anspruch nahmen, und dann auf den Centimes genau abrechneten, unabhängig davon, wieviele Gallonen Gazol man verbrauchte. Seine Mutter hatte einen solchen geheiratet, nachdem sein Vater an den Spätfolgen des Aufenthaltes in Bergen-Belsen gestorben war. Jahrzehntelang Polizist war der, früher auf dem Dorf, dann via Vichy beziehungsweise Pétain in die gehobene Umlaufbahn befördert. Man hatte ihn in ihr gelassen, auch wenn er, was ihm allerdings nie nachgewiesen werden konnte, einige der Résistance seinen Gewehrkolben zierten. Vater sollte er ihn nennen, nachdem die beiden einen Tag nach Beendigung des Trauerjahres geheiratet hatten. Er sei schließlich ihre Jugendliebe gewesen. Sein Bruder ließ sich darauf ein. Es sei doch angenehm, endlich als Familie zusammengefunden zu haben. Das war einer der vielen Gründe dafür, daß er ihr eines Tages in seinem letzten Brief schrieb, er habe keine Mutter mehr. Den Bruder ignorierte er gar nicht einmal mehr. Er beglich per Kreditkarte seine Rechnung und sprach dabei mit der Rezeptionistin bewußt etwas lauter. Sein Bruder bemerkte nichts. Die Vergangenheit hatte ihn wieder. Er trat an sie hin. Über eine Fortsetzung wird noch nachgedacht.
apostasia (18.12.09, 16:13) (link) Alte Bruderliebe
in neuem Gewand bahnt sich hier offensichtlich nicht an. Wohin wird das führen?Wer weiß?
Schließlich ist das die Fortsetzungsgeschichte eines Menschen, der während des Schreibens darüber nachdenkt, was er mal schreiben könnte.Kokireriki!
Der Hahnschrei
lautet französisch Cocerico. Aber ich fürchte, auch das dürfte damit nicht gemeint sein.Etwas verunglückt
war das tatsächlich, das muß zugestanden sein. Die Zielrichtung einer Aussage lautete Koketterie.Koketterie?
Wir befinden uns hier doch nicht auf dem Heirats- oder einem ähnlichen Markt. Ich kokette nicht, bin auch keine Kokotte, ich dachte eher ein wenig an Kleist, der das küchenphilosophische L'appétit vient en mangeant mal abwandelte ins kompositorische L'idee vient en parlant. «Ich glaube, daß mancher großer Redner, in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde. Aber die Überzeugung, daß er die ihm nötige Gedankenfülle schon aus den Umständen, und der daraus resultierenden Erregung seines Gemüts schöpfen würde, machte ihn dreist genug, den Anfang, auf gutes Glück hin, zu setzen.» Lesen. Es lohnt sich. Und ein bißchen bilden tut's auch. Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Werke, Hanser, München 1966, S. 811 >> kommentieren Denken Sie nach. Ich freue mich auf das nächste Kapitel. Sie freuen sich
immerhin auf etwas, das werden soll. Dank. Das treibt richtig an. Verantwortung nennt man das dann wohl. Die übernehme ich gerne. Morgen wieder, wenn die nächtliche Muse mich geküßt haben sollte. Aber ob ich diese Weihnachtsgeschichte bis zum entsprechenden Termin hinkriege, das weiß ich noch nicht. Doch Neujahr ist ja auch ein geeigneter Zeitpunkt zum Schmunzeln.>> kommentieren Spamming the backlinks is useless. They are embedded JavaScript and they are not indexed by Google. |
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