Nachtfahrt

Ungleiche Brüder erster, zweiter, dritter, vierter, fünfter, sechster, siebter Teil und Schluß.

Er schalt sich selbst einen selbstbetrügerischen Moralapostel. Zumal er sich nicht sicher war, ob er letztlich nicht doch mehr einer nicht genutzten Chance nachtrauerte. Denn was hatte sie schon Verwerfliches getan? Im Gegenteil, seinetwegen hatte sie nicht nur die Heldinnentat vollbracht, seinen Bruder zu heiraten, sondern darüber hinaus auch noch das geleistet, was er von anderen gerne einforderte, aber selbst eher selten in die Praxis umzusetzen in der Lage war, vielleicht auch, da es ihm nie jemand wirklich abverlangte: Durchhaltevermögen, gepaart mit viel Phantasie. Und ehrlich war sie obendrein gewesen. Zumindest hatte er den Eindruck, daß es sich so abgespielt, daß sie in integrer Absicht gehandelt haben könnte, denn wer mochte sich sonst eine solche Geschichte ausdenken? War es am Ende das, von dem er sich seit langem wünschte, es würde ihm geschehen, was gemeinhin als Liebe bezeichnet wurde? So fühlte sich irgendwie in ihrer Schuld. Da er ohnehin nicht einschlafen konnte, sann er darüber nach, sie vielleicht anzurufen und sich zu entschuldigen, als das Telephon klingelte. Vermutlich würde sie das sein, er würde die Gelegenheit nutzen, sie um Vergebung zu bitten, ihr als Entschädigung eine Einladung in seine Wohnung anbieten, wo sie gerne für sie beide kochen dürfe, und auch für den richtigen Champagner würde gesorgt. Der Rezeptionist kündigte ihm jedoch einen Mann an, der unten bei ihm stünde und sich nicht abweisen ließe, der behaupte, sein Bruder zu sein und dringende familiäre Mitteilungen zu haben.

Nachdem der Bruder die Tür des Apartements geschlossen hatte, war sein ausholender Schlag gekommen, der ihn vermutlich zur Straße befördert hätte, hätte der Heizkörper den Schwung nicht gestoppt. Es hatte sehr wehgetan, beim Hinfassen an den Hinterkopf meinte er, Blut gefühlt zu haben, auch seine Kinnpartie war schmerzerfüllt. Dennoch hatte er den Eindruck, ohne Brüche davongekommen zu sein. Zumindest in sitzender Position war ihm daraufhin eine aufrechte Haltung gelungen. Sein Bruder stand regungslos an der Stelle, an der er zugeschlagen hatte. Ruhig hatte er zu sprechen begonnen. Seine Frau habe ihn über die Taxizentrale um Anruf gebeten und ihm genauestens geschildert, was vorgefallen war. Nachdem sie sich seiner fortwährenden und immer heftiger werdenden Zudringlichkeiten erwehrt habe, sei er wutentbrannt aus dem Haus in die offenstehende Garage gestürmt und habe mit dem Austernmesser alle acht dort gelagerten Reifen zerstochen, vier für den Winter sowie vier weitere, die er in Kürze aufziehen lassen wollte. Nicht dafür, daß er sich an seine, übrigens alleine ihm gehörende, das nur nebenbei, schließlich habe er viel Geld für sie bezahlt, Frau herangemacht habe, nicht deshalb habe er ihm eine Quittung erteilt. Über solche Schicksalsschläge käme er hinweg, daran sei er gewohnt. Was er allerdings seinen Reifen angetan habe, das sei entschieden zu weit gegangen.

Ein sehr alter Film der Erinnerung schien mit einem Mal anzulaufen, einer aus den siebziger Jahren, der diese Abstrusitäten zeigte, von denen man meinte, solche Abläufe hätte das Leben nicht wirklich zu bieten. Es war seinerzeit verwunderlich genug gewesen, daß er vom Bruder gar aufgefordert worden war, dessen Heiligtum zu chauffieren. Das geschah höchst selten, meist nur dann, wenn die Müdigkeit ihren Tribut forderte. In dieser Nacht konnte das jedoch nicht der Fall gewesen sein, da er nach einer Spätschicht den ganzen Tag geschlafen hatte. Nach einer Weile hatte der wie ein rigider Fahrlehrer beifahrende Bruder ihn auf einen zwar noch fernen, aber letztlich doch rasch näherkommenden, auf der Fahrbahn liegenden Gegenstand aufmerksam gemacht. Trotz der zunehmend heftiger, geradezu hektisch werdenden Warnungen hatte er sich magisch angezogen gefühlt und war in geradezu traumwandlerischer Zielsicherheit darübergefahren, obwohl ausreichend Platz zum Ausweichen gewesen wäre, da sie weit und breit die einzigen Nachtfahrer zu sein schienen. Vermutlich ein Stein war es, der von einem ungesichert schuttbeladenen Lastkraftwagen gefallen sein konnte, einer von hunderten oder gar tausenden vielleicht und über eine Strecke von vielen Kilometern möglicherweise. Aber er hatte ihn getroffen. Der Reifen war völlig zerstört gewesen. Ein etwa faustgroßer Streifen war aus dem Pneu herausgerissen worden. Den Wagen auf dem Seitenstreifen der Autoroute anzuhalten, stellte keinerlei Problem dar, auch nicht, den Reifen zu wechseln, wobei der Bruder sich trotz mehrfachem Angebot nicht helfen lassen wollte. Behutsam hatte der den kaputten Reifen anschließend in eine Decke gewickelt und in den Kofferraum gebettet, als ob ein oder gar sein Kind getötet worden wäre, am Ende gar jenes, das ihm nicht vergönnt war, während des Bruders Frauen im Gegensatz zu ihm mit Freude gebärten. Die Rückfahrt in die Wohnung, die sich seinerzeit direkt neben einem recht düsteren Ort befand, war quasi von drückendem Schweigen erfüllt. Seine Tasche solle er packen und gehen, hatte er ihm damals mit von Trauerschmerz geprägter Stimme bedeutet.

Mit einem Mal war ihm klar geworden, wann sie beide sich das letzte Mal gesehen hatten. Es war, bevor er alle Familienbande gekappt hatte.


Das Ende.
 
Mi, 30.12.2009 |  link | (2449) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ungleiche Brueder















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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