Problemlösung

Der Geschichte Ungleiche Brüder erster, zweiter, dritter, vierter, fünfter, hier sechster Teil.


Sie stellte die Flasche vor ihn hin und meinte, von mädchenhaftem Kichern begleitet, das sei Männersache. Zunächst wollte er aufbegehren und auf diesen erzieherischen Unsinn eines in nicht allzu langer Zeit untergehenden und deshalb wohl langsam zur Besinnung kommenden Jahrhunderts verweisen, was bei ihr allerdings offensichtlich noch nicht angekommen wäre. Doch sofort wurde er sich der Absurdität seines emanzipatorischen Unterweisungsversuchs klar und unterließ ihn deshalb, zumal ihm ein südlich gelassenes Lächeln ins Gesicht gefahren und ihm gleichermaßen warm geworden war. So enthielt er sich des Kommentars, begann gar selber zu glucksen und öffnete das Gefäß mit dem Nektar. Sogleich hatte er den Duft in der Nase. Der war wahrlich einzigartig, und er fragte sich, weshalb er immer gezwungen war, alleine deshalb ins Mutterland fahren zu müssen, um an solchen Stoff zu kommen. Denn anderswo gab es solchen Geschmack nicht. Unter dem Siegel brut trank man weltweit Champagner meist bekannter, unter ein illustres Dach gebrachter Marken, die ihn für die Massenproduktion aus allen erdenklichen Lagen derart zusammenschütteten, daß er alle Jahre wieder immergleich roch und schmeckte, als ob es keine Witterungs- und sonstige Einflüsse gäbe. Keller gab es ohnehin nur noch für die teuersten Gewächse und den Tourismus. Oder aber eben bei den kleinen Produzenten, die sich den Unbilden des geschmacklosen Auslandmarktes nicht aussetzen wollten. Mit einem Mal merkte er, wie leicht klischeehafte «Heimatgefühle» mit ihm durchgingen. Vermutlich war der Ritt auf dem burgundischen Faß in Zielrichtung Champagne doch zu intensiv und anhaltend, am Ende gar leichtfertig.

Waren sie sich während des Essens gegenübergesessen, hatte sie nun beinahe direkt an seiner Seite, an der Rundung des Tisches Platz genommen und hielt ihm mit glühender werdendem Gesicht ihre leere Flûte hin. Mit der Befüllung der beiden Gläser schienen sich bei ihm die Photographien abzumelden und mit ihnen alle Fragen nach dem tatsächlichen Zustandekommen seines Besuchs in der Heimatstadt und damit im hiesigen Haus. Bevor er ihr mitzuteilen vermochte, wie angenehm das Leben auch ohne dieses ständige Nach- oder gar häufig quälende Hinterfragen sein könnte, hob sie ihr Glas und wünschte ihm gurrend Gesundheit. Mit einem lächelnden Nicken erwiderte er ihren Wunsch und roch an seinem Glas. Dieser Duft, der sich mit dem ihres knisternd näherkommenden Haares vermischte sowie der avant-goût waren kaum zu überbieten. Möglicherweise doch, kam er wieder etwas durcheinander, schloß den Gedanken jedoch dahingehend kurzerhand ab, daß er ihm derartig auf jeden Fall noch nicht in die Synapsen gefahren sei. Sie rückte noch etwas näher an ihn hin und schaute ihm intensiv in die Augen. Wohlig sah er sich im funkelnden Dunkel der ihren gespiegelt und begann zunehmend, alle Zweifel abzustreifen und sich einem abzeichnenden Finale zu öffnen. Da ging ein leichter Ruck durch sie. Sie spüre, was ihn hauptsächlich beschäftige, also werde sie es ihm nun endlich erklären und damit hoffentlich das Problem gelöst haben. Nur um ihn gehe es, nicht um seine Mutter, nicht um seinen Bruder oder andere Verwandtschaft, alleine um ihn. Und damit auch um sie. Um sie beide.

Sein Bruder habe sie nie wirklich interessiert. Doch da sie aus Thailand hinaus und auch unbedingt nach Europa wollte, habe sie sich die lothringische Herkunft ihres leider zu früh verstorbenen Vaters zunutze gemacht, was ihr letztendlich auch einiges erleichtert habe, zumindest dem Bruder gegenüber. An eine professionelle Agentur habe sie sich gewandt, die im besonderen Ehepartner in Europa vermittle, mit Schwerpunkt Frankreich. Recht bald habe sich der Kontakt entwickelt. Nach zwei Telephonaten seien Briefe ausgetauscht worden. Kurze Zeit später sei die Möglichkeit des Telefax' hinzugekommen, die jedoch nur dem Faktischen gedient habe, als ein Aufeinandertreffen feststand, für das der Bruder im übrigen um einiges mehr als zwanzigtausend Francs an die Agentur habe zahlen müssen. Einem der Briefe hatte er ein Bild von einem jungen Mann beigelegt, von dem sie sofort sicher war, daß nur er es sein konnte, den sie begehrte, auch wenn der mittlerweile um einiges älter geworden sein dürfte. Von ihm hatte der Bruder ihr vorgeschwärmt, von dessen warmem Wesen und Wissen, von dessen Weltgewandtheit und beruflichem Erfolg. Mittlerweile sei ihr klar, daß er sich seinerzeit mit fremden Federn schmücken wollte, zumal der junge Mann noch Student gewesen sein mußte zu dieser Zeit, also beruflich noch nicht gefestigt sein konnte. Doch vor gut drei Jahren, da sei das für sie unerheblich gewesen. Alleine diesen jungen Mann wollte sie haben, ihn zumindest zunächst einmal kennenlernen. Um das zu ermöglichen, um auf jeden Fall im Land bleiben zu dürfen und nicht darin als Sans papiers herumirren zu müssen, schließlich gälte ihr Papa als Deserteur nach wie vor als Vaterlandsverräter, auch wenn der Krieg bereits beendet war, als er in Thailand Urlaub nahm, deshalb habe sie quasi in Kauf nehmen müssen, den eigentlich wenig attraktiven und überdies recht eingefahrenen Mann zu heiraten. Ein paarmal sei sie ihren sogenannten ehelichen Pflichten nachgekommen, sie seien nicht von Bedeutung gewesen und auch, da sie sich zunehmend abgeneigt zeigte, bald nicht mehr gefordert worden. Was nicht heiße, daß damit alle Probleme gelöst seien, sehe der Bruder sich doch in einer Art Besitzrecht. Hin und wieder vergnüge sie sich mit Freunden, die ebenfalls aus den Ländern um das ehemalige Indochina stammten, unter ihnen übrigens der Lieferant des Champagners. Erst nach intensiver Befragung habe ihr der Bruder gestanden, diesen jungen Mann seit bald zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen zu haben, da es zu einem irreparablen Zerwürfnis gekommen sei. In winzigen Häppchen schließlich habe sie die Familienverhältnisse und damit erfahren, daß ein Aufeinandertreffen aus familiärem Anlaß kaum möglich sei. So habe sie nach anderen Möglichkeiten gesucht. Mit Hilfe ihrer Freunde, von denen einer bei der Verwaltung des Départements und ein weiterer bei der Police nationale tätig sei, sei sie an weiterführende Information über den Gesuchten gekommen. Nicht nur seinen Wohnort im Ausland samt privater Anschrift und Telephonnummer habe sie so in Erfahrung bringen können, auch, welcher beruflichen Tätigkeit er nachgehe und daß er seit einiger Zeit an der Universität von Toulouse lehre. Also sei sie dorthin gefahren und habe ihn sich angeschaut, ein Bild von ihm gemacht, ihm zugehört bei seinen Vorträgen und Gesprächen mit den Studenten. Das habe ihren Wunsch nach einem Zusammentreffen verstärkt. Direkt auf ihn zuzugehen habe sie sich nicht getraut, da der Bruder zunehmend ablehnend auf Fragen nach dieser Verbindung, zuletzt gar nur noch herablassend oder gar böse reagiert habe. Vor einigen Wochen nun sei sie gebeten worden, die im Pflegeheim befindliche und ihrer multiplen Sklerose wegen nahezu bewegungsunfähige, zudem in die Jahre gekommene Mutter zu besuchen, von der ihr Gatte im übrigen ebenfalls nicht sonderlich freundlich spräche, möglicherweise, da die mit Vorliebe in der Vorbildfunktion des jungen Mannes herumtaumelte, obschon oder auch weil sie den rund zwei Jahrzehnte nicht gesehen habe. Die sporadischen Besuche ihres anderen Sohnes fänden vermutlich in erster Linie deshalb statt, weil der sich dadurch eine Erbschaft mindestens in Höhe des größten verfügbaren Mercedes erhoffte. Doch bei dieser Gelegenheit sei ihr die Lösung ihres Problems gekommen. Einen der Freunde habe sie überreden können, besagtem jungen Mann den Tod der Mutter zu übermitteln. Die telephonische Benachrichtigung sollte stattfinden, wenn der seinen Lehrverpflichtungen nachkomme, also mit Sicherheit sich nicht in seiner Wohnung aufhielte. Die Dame des Sekretariats der Universität sei überaus freundlich und auskunftswillig gewesen, was die jeweiligen Aufenthaltsorte ihres mittlerweile gar fest berufenen Professors betraf. Und der säße nun hier bei ihr und tränke mit ihr Champagner und würde sich hoffentlich bald an sie und sich in sie hineinschmiegen.

Er war aufgestanden, um im Hotel anzurufen. Selbstverständlich könne er auch um diese Uhrzeit noch ein Zimmer haben, als Inhaber der Carte fidélité sei schließlich jederzeit für ihn reserviert. Selbst auf die Gefahr hin, an seinen Bruder zu geraten, rief er nach einem Taxi. Kaum fünf Minuten später stand eines vor der Tür, dessen Chauffeur ihm durch das Fenster betrachtet unbekannt schien. Er verabschiedete sich knapp von der wie völlig entleert dasitzenden Schwägerin und fuhr in die Herberge, in deren Garage ohnehin sein Wagen auf ihn wartete, um ihn aus diesem Moorleichendunst der Blutsverwandtschaft herauszufahren.


Das Ende naht.
 
Mo, 28.12.2009 |  link | (3623) | 10 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ungleiche Brueder


nnier   (28.12.09, 19:53)   (link)  
Sie können ja nichts dafür, was die da machen oder nicht machen. Und wie eilig sie es dabei offensichtlich haben. Man sollte sich da auch nicht einmischen. Aber der fährt doch jetzt nicht einfach weg!?


jean stubenzweig   (29.12.09, 04:04)   (link)  
Doch, das tut der!
Ich würde ja auch einfach dageblieben sein.

Zumal die Probleme, so sie denn überhaupt welche wären, auch hätten ins Nachspiel integriert werden können. Doch es gibt nunmal Menschen, die zu Spontanreaktionen neigen. Häufig sind das solche, die sich selbst als vernunftgesteuert bezeichnen würden. Und denen sollte man gleich gar keinen Alkohol verabreichen. Der kann nämlich all das mit einem Mal einstürzen lassen, was man sich mühsam als Disziplin- und oder auch Moralgebäude errichtet hat. Und dann sitzt man inmitten der Trümmer und trauert.

Ich hätte noch einige Schlückchen genommen. Das Zeugs, an das ich dabei dachte, schmeckt und wirkt nämlich wirklich göttlich.

Aber jetzt ist es zu spät. Das Ende steht. Zumindest im Kopf. Morgen dann.


vert   (29.12.09, 04:38)   (link)  
zu spät! das ende ist nah!


jean stubenzweig   (29.12.09, 04:56)   (link)  
Optimismus? Pessimismus?
Je nach Zwecko. Sagen wir's doch mal so: Ich bin schon einen Rutscher weiter (zumal ich seit dreißig Jahren nicht mehr silvestre). In ein paar Tagen beginnt dennoch ein neuer Anfang. Da müssen wir uns schon wieder was neues einfallen lassen.

Von wegen Osterglocken. Hoffentlich haben Sie Winterreifen umgebunden.


vert   (29.12.09, 05:33)   (link)  
albernismus
sie kennen das ja von mir. zwei seelen, ach, uswusf.

pudel hin oder her: auf jeden fall goodyear.


jean stubenzweig   (29.12.09, 06:01)   (link)  
Zwei Seelen.
Sie Glücklicher. Andere haben gar keine. Weshalb sie sich auf einem Seelenverkäufer oder in ähnlichen Institutionen abmühen.


vert   (29.12.09, 07:01)   (link)  
alle kielholen, die schurken, arrh!


jean stubenzweig   (29.12.09, 07:43)   (link)  
Das Ende naht.
«Leck mich im Arsch,
leck mir den Arsch recht sauber.»

Soeben gehört in France musique, nahezu perfekt deutsch gesprochen, als Bestandteil einer kleinen Nachtmusik in den frühen Morgen. Ich versuche mir das in NDR-Kultur oder in Bayern 2-Klassik et cetera vorzustellen. Aber vielleicht machen die das auch nur, weil's keiner versteht ...


vert   (29.12.09, 12:17)   (link)  
büßt, ihr sünder!
nix, was man unvermittelt ins ohr geschraubt bekommen möchte.
"alors, das ist deutsche culture, wir 'aben uns auch gewündert, abär...der auftrag, sie verstehen."


jean stubenzweig   (29.12.09, 13:20)   (link)  
Um's mal mit Ernst
zu versuchen: Die Pariser ziehen den Deutschen des öfteren Deutsches über, von dem die vermutlich nicht annähernd wissen, daß es das in ihrer Kultur gibt. Zugestandenermaßen hatte ich diesen (sprachlichen) Härtegrad quasi öffentlich-rechtlich noch nie.

Es lebe die französisch-deutsche Freundschaft.















Werbeeinblendung

Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



... Aktuelle Seite
... Beste Liste (Inhaltsverzeichnis)
... Themen
... Impressum
... täglich
... Das Wetter

... Blogger.de
... Spenden



Zum Kommentieren bitte anmelden

Suche:

 


Letzte Kommentare:

/
Echt jetzt, geht noch?
(einemaria)
/
Migräne
(julians)
/
Oder etwa nicht?
(jagothello)
/
Und last but not least ......
(einemaria)
/
und eigentlich,
(einemaria)
/
Der gute Hades
(einemaria)
/
Aus der Alten Welt
(jean stubenzweig)
/
Bordeaux
(jean stubenzweig)
/
Nicht mal die Hölle ist...
(einemaria)
/
Ach,
(if bergher)
/
Ahoi!
(jean stubenzweig)
/
Yihaa, Ahoi, Sehr Erfreut.
(einemaria)
/
Sechs mal sechs
(jean stubenzweig)
/
Küstennebel
(if bergher)
/
Stümperhafter Kolonialismus
(if bergher)
/
Mir fehlen die Worte
(jean stubenzweig)
/
Wer wird schon wissen,
(jean stubenzweig)
/
Die Reste von Griechenland
(if bergher)
/
Richtig, keine Vorhänge,
(jean stubenzweig)
/
Die kleine Schwester
(prieditis)
/
Inselsommer
(jean stubenzweig)
/
An einem derart vom Nichts
(jean stubenzweig)
/
Schosseh und Portmoneh
(if bergher)
/
Mit Joseph Roth
(jean stubenzweig)
/
Vielleicht
(jagothello)






«Ist Kultur gescheitert?» ? «Bitte gehen Sie weiter.»



Suche:

 




Anderenorts

Andere Worte

Anderswo

Beobachtung

Cinèmatographisches + und TV

Fundsachen und Liebhaberstücke

Kunst kommt von Kunst

La Musica

Regales Leben

Das Ende

© (wenn nichts anders gekennzeichnet): Jean Stubenzweig





pixel pixel
Zum Kommentieren bitte anmelden

Layout dieses Weblogs basierend auf Großbloggbaumeister 2.2

pixel pixel