O welch ein Gau!

Die aktuelle Politik läßt mich letztlich doch nicht los. Zwar wird dieses Jahr noch nicht gut gespült am grünen Hügel*, aber die dramatischen Herrgottsschnitzer am Rand der Berge modellieren weiterhin am Mythos herum. Deshalb ein Griff tief in den geistig familiaren Fundus der oder dieser Geschichte, aus der reflexiven Zeit beim schweizerischen Radio, das ein altes Ego auch schonmal zu gipfeligen Festivitäten entsandt hatte.

Zwei Gelübde wurden am Eröffnungstag der Jubiläumspassionsspiele in Oberammergau eingelöst. Einmal das der Alpenrandgemeinde, die vor etwa dreihundertfünfzig Jahren gelobten, alle zehn Jahre das Leiden Christi auf die Bühne zu stellen für den Fall, daß sie endlich von der Pest erlöst würden, die der Ernteknecht Caspar Schisler 1633 in sein Heimatdorf einschleppte. Das zweite Versprechen stammt von dem dreiunddreißigjährigen Rudolf Klaffenböck aus der Erzdiözese Passau im Südosten Bayerns**, in der man noch katholischer als die Kirche sein will und die deshalb pausenlos jene Satire produziert, von der der einheimische Siegfried Zimmerschied meinte, sie sei nicht in der Lage, die Realität einzuholen. Der bibelfeste Klaffenböck hatte das Gelöbnis geleistet, als Christus zu den Passionsspielen nach Oberammergau zu gehen, sollte er für seine filmische Betrachtung der Passauer Fronleichnamsprozession innenministerielle Kurzfilmförderung bekommen.

Er bekam sie. In Linnen gewandet und mit einer Dornenkrone auf dem Haupt überreichte er den zum schlichten Pausenbuffet eilenden bayerischen sowie baden-württembergischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß sowie Lothar Späth vor dem passionierten Spielhaus weiße Nelken und schrieb einer Bonnerin den Schriftzug Christus ins Textbüchlein. Seinem Eid entsprechend gab Rudolf Klaffenböck erst gegen vierzehn Uhr dreißig auf der Polizeistation von Ogau, wie die Einheimischen ihre biblische Metropole verknappt nennen, seine Identität preis — laut Bibel die Geburtsstunde Christi.

Zur Zeit der Identifizierung hatten die rund 4.700 geladenen Gäste der Passionspremiere gerade ihr Mittagsmahl beendet (die kirchlichen und weltlichen Würdenträger aus aller Herren Länder beim neunundzwanzigjährigen 1. Bürgermeister Klement Fend und die weniger Illustren in den vielen Restaurants oder aus der Kühlbox). Man hatte wieder Platz genommen, um den Leidensweg Christi nach Oberammergau nach der Pause weiter zu verfolgen. Da hatte es Petrus dann besser gemeint mit ihnen, die von neun Uhr morgens an bis halb zwölf, als der falsche Christus die Landesoberen und deren Untertanen narrte, recht frieren mußten.

Von Beginn der zweiten Halbzeit an bis zur Himmelfahrt war es dann die Sonne, die den wegen des Glaubens oder aber auch nur wegen des Spektakels Gekommenen einheizte. Die Darbietungen der Akteure, je nach Szene bis zu 850, waren jedenfalls nicht dazu angetan, die Massen in den Rängen zu erwärmen.

Doch für die Feuilletonisten spiele man ja auch nicht, hatte Spielfeldleiter Hans Maier vorsichtshalber vor der Premiere versichert. Was durch seinen Namensvetter aus dem bayerischen Kultusministerium bekräftigt wurde, als er äußerte, er komme einzig wegen des religiösen Erlebnisses in den oberen Ammergau.

Natürlich ginge es auch nicht ums Geld, ergänzte Bürgermeister Klement Fend auf der Pressekonferenz den Regisseur dieser Breitwandkomödie. Es sei das Gelübde, das Dorfbewohner wie Christus (alias Rudi Zwink) dazu bringe, morgens um neun Uhr fünf die Händler und Schacherer aus dem Tempel zu vertreiben. Sicher, der Student der Zahnmedizin in Köln bekommt dafür eine Gage. Aber für die 22.000 Mark muß der gelockte Bärtige am Nachmittag auch etwa zwanzig Minuten am Kreuz hängen, nur gehalten von einem für das Publikum nicht so ohne weiteres erkennbaren Bergsteigersitz. Wobei er dieses Kreuz nicht in jeder Vorstellung erleiden muß, wird er doch in der jeweils nächsten abgelöst durch den achtunddreißigjährigen Drogisten Max Jablonka. Und dem wiederum dürfte der Gemeindeobolus zukommen für die Überwindung, die es ihn kosten muß, zu seinen weit über zehn Jahre jüngeren Maria-Darstellerinnen Ursula Burkhardt und Theresia Fellner «Mutter» sagen zu müssen.

Eigentlich hätte die Gemeinde Oberammergau, die so viele Einwohner hat wie in das Passionsspielhaus hineinpassen, also 4.700, erst wieder 1990 ihre knapp 500.000 Eintrittskarten zu Preisen zwischen sechzig und neunzig Mark zuzüglich der Gebühr für den Vorverkauf unter den eins komma fünf Millionen Interessenten verteilen zu dürfen. Aber im Orwell-Jahr feiert das Pest-Gelübde nunmal 350. Geburtstag. (Und die acht bis zehn Millionen Reingewinn für den Ortssäckel helfen 1990 sicherlich dem neuen Jesus auf den Esel.)

Genaugenommen wurde auch 1977 gespielt. Allerdings war das die passio nova von Ferdinand Rosner, dessen Reformfassung in ‹Konkurrenz› zur Daisenberger-Version stand. Der letztgenannten waren antisemitische Tendenzen vorgeworfen worden, nicht nur aus den USA, woher die meisten Oberammergau-Pilger kommen. Doch diese durchweg gelobten Probeaufführungen lösten in der Voralpengemeinde einen Religionskrieg aus, der die ansonsten im Oberbayerischen allmächtige CSU die politische Vormachtsstellung kosten sollte, weil deren Vertreter sich für die Reformfassung ausgesprochen hatten.

Keine Experimente! lautete die Parole. Weshalb man, bis Ende September rund hundert Mal, doch wieder das alte Glaubensbekenntnis aufführt, wenn auch mit einigen Textänderungen. Oberammergau ist eben «eine internationale Begegnungsstätte», wie Franz Josef Strauß meinte, der in diesem Jahr bereits zum achten Mal aus dem fernen München angereist war.

Man möchte es beinahe glauben angesichts der Opferbereitschaft der Besucher aus aller Welt. Jeder muß zwischen zweihundertneun und vierhundertvierundneunzig Mark in den Klingelbeutel der Gemeinde Oberammergau fallen lassen für das Gelübde-Paket, in das fest eine Eintrittskarte, eine Übernachtung, die Verpflegung und ein Schwimmbadbesuch (!) geschnürt sind. Die Devotionalien, meist aus asiatischer Produktion, nicht mitgerechnet.


* «Gut gespült hat nie Bayreuth», hieß es mal in einer Büttenrede der sechziger Jahre, es mögen auch die siebziger gewesen sein.

** Mit ihrem gemütlichen Stall, in dem deshalb wohl in den Siebzigern Kabarettisten ausgeworfen wurden wie von einer Muttersau (Ottfried Fischer, Bruno Jonas u. a.); Katzlmacherei nennt man es auch in dieser exotischen Gegend.

Die aus einem ehemaligen, nicht mehr existierenden Fischblatt der Sozialdemokratie herauskopierte Photographie (Ausschnitt) stammt von Thomas Karsten.

 
Di, 29.06.2010 |  link | (5375) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches


nnier   (01.07.10, 01:23)   (link)  
Sie haben ja schon wieder so ein schönes Manuskript aus der Schublade gezerrt! Dieses Oberammergau will, scheint's, regelmäßig begangen werden. Ich musste erst neulich darüber nachdenken.


jean stubenzweig   (01.07.10, 11:28)   (link)  
Im Alpen(t)raum
halten Sie sich zur Zeit auf. Jetzt wird mir klar, was Sie dorthin geführt hat (und weshalb Sie seltsam träumen). Sie sind mit Ihrem persönlichen Paul dort, der daraus einen deutschen Hyde-Park machen will. Oder irre ich mich, und der Stückl hat ihn für die Töne des Musicals engagiert? Mit Ihnen als Roadie? Nebst Gattin und Töchterlein als Groupies? Oder sind Sie gar als Textdichter geworben worden? Der Intendant ist ja bekannt für seinen Reformwillen, als einer, der auch gerne lacht. Und was machte sich da besser als a Preiß, so ein reformierender. Das brächte schließlich neues Publikum. Und nachdem nun (noch) ein Niedersachse ganz da oben sitzt ...















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5814 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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