Der schöne Strich

«Jebn Se mal her die Kladde, ick schreibe quer», sagte der melancholische Pseudonomiker und zückte sein Schreibgerät. Wer das bei ihm liest, weiß selbstverständlich, daß es sich dabei nur um eine edle Feder gehandelt haben kann, vermutlich eine von Montblanc.

Photographie: wnd.andreas (CC)

Der Unterschied zwischen einer schlichten Mitteilung und einem von Hand geschriebenen Liebesbrief verhält sich heutzutage wie ein Beförderungsmittel aus digital-elektronisch gesteuertem öffentlichen Personennahverkehr zu einem beschaulicheren Gefährt. Der durch Reklameappli-kationen in der Regel besonders verhäßlichte Kugelschreiber hat die Menschheit nivelliert, und zwar ziemlich nach unten. Wo weder Auf- noch Abstrich sichtbar werden, verliert die Handschrift ihren Charakter, wird aus einem ursprünglich angestrebten Mahl zum Fest ein bei der Nahrungsmittelgroßindustrie erworbenes und immergleichen Hitzewellen ausgesetztes Gemisch aus Widrigkeiten.

Der Börsenjobber, der Generaldirektor, der Illuminator der güldenen zwanziger Jahre, zu denen gleich heute die einen tanzten und die Mehrheit hart ackerte, die fixierenden oder memorierenden Zeitgenossen wie etwa Roth oder Tucholsky, die wären mit einem dieser 1927 aus den Hirnwindungen eines Chemikers namens Bruno von Zychlinsky in die Fabrikation übergegangenen kugelig schmierenden Schreibers undenkbar gewesen. Der Mann von Welt ließ (s)eine Edelfeder Striche ziehen. Und die Dame tat es nicht anders. Solch ein feines Gerät wurde gar vererbt. Über meine Frau Maman erreichten mich auf diese Weise ein von ihr in den späten Zwanzigern in London erstandener Parker sowie ein Burnham.

Heute wüßte ich gar nicht einmal mehr, in welchem der vielen Kartons auf den Dachböden ich suchen sollte, wo sie samt den anderen, die ich mir im Lauf der Zeit auf der Suche nach der verlorenen zugelegt hatte und mit denen ich meine dreißig und mehr Seiten langen leidenschaftlichen Briefe der Liebe geschrieben habe, vor sich hin antiquieren. Doch ich könnte ohnehin nicht mehr mit ihnen kalligraphieren. Irgendwann hatte ich nämlich begonnen, noch jeden Notizzettel maschinell zu beschriften. Und als mich nach dem Eintritt ins Computerzeitalter mit einem Mal wieder die Lust wenigstens am schönen Schreiben überkam, war die Handschrift dahin. Es war offensichtlich: Das Laufen, das Schwimmen oder das Radfahren verlernt man nicht, der schöne Tintenstrich hingegegen wird zum auslaufenden Modell. Mit viel Mühe wurde im Lauf weiterer Zeit und quasi im Zug einer Reha-Maßnahme aus einer einstmals flotten und stolz aufgerichteten hohen Schrift *, die ich vermutlich ebenfalls von Frau Mutter geerbt hatte, ein nach rechts geneigtes, geradezu bieder wirkendes Gekrakle mit kaum noch sichtbaren Höhen und Tiefen, bei dem die Erbmasse des naturwissenschaftlich orientierten Vaters zu obsiegen schien. Und das alles — das ist die eigentliche Tragik — nur noch mit (weichem!) Bleistift. Es hatte sich ausgekleckst.

«Die rechte Hand wird wie ein Tanker in den Hafen gezogen von Lotsen. Die schwere starre Hand. Die bedrückend kalkige Hand. Die Gipshand, die Frustrierhand, die Hand an der Amtskette, weiß von Frustration, die Hand die schreiben kann, die aber von Anfang an nicht zum Schreiben begabt war. Nicht zum Schreiben, nicht zum Stricken, die fleißige Hand, die Schönschreibhand, die 5. Kolonnenhand, aber natürlich auch die Sublimierhand. [...] Auf der einen Seite die Frustrier- & Kulturhand, auf der anderen das Händchen.»


Jochen Gerz' Spiegelschrift in Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen

 
Mi, 22.12.2010 |  link | (4058) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn


jean stubenzweig   (22.12.10, 15:36)   (link)  
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