Nackte Kunst

Enrique Simonet: Anatomie des Herzens


Das Pärchen* hat sich der Kleider entledigt und bebt vor lebendiger Erwartung. Doch die wird gewissermaßen enttäuscht. Denn mit mehreren Schüssen werden die Nackten niedergestreckt. Grabesstille.

Doch dann füllt strahlendes Licht den Saal. Der Discjockey legt Save me auf, und die Tanzfläche, auf der zwei Minuten zuvor die beiden Leichen lagen, belebt sich. Denn die Szenerie stammt nicht aus dem thrilligen Kino oder gar der Malerei, die Performance heißt Discotheater. Aufgeführt wurde das Stück Rozznjagd von Peter Turrini, und als Bühne diente die ursprünglich dem Schwoof zugedachte Fläche des Marco Polo im fränkischen Dinkelsbühl.

Bereits um die Jahrhundertwende machte man im Pariser Café von Monsieur Salis auf dem Boulevard du Temple Theater bei Tanz, Bier und Wein. Von diesen Kunstübungen stammt auch der Begriff Kabarett, das als solches gerade in Kleinkunstbühnen Neuanfänge seiner Ursprünglichkeit erfährt: In Cabarets wurden auf brettartigen Fächerschüsseln während der Darbietungen die Speisen serviert. Das hält Hermann Müller, den flotten Besitzer dieses neuzeitlicheren Tanzsaals, nicht davon ab, die Erfindung des Discotheaters für sich in Anspruch zu nehmen. Möge Milde walten, denn schon Kurt Tucholsky stellte fest, es gäbe nichts Neues hienieden zu Erden.

Wie auch immer: Eines hat Müller mit seiner Theatergruppe, die interessanterweise La Parisienne heißt und die Stücke von Franz Kafka, Franz-Xaver Kroetz, Turrini sowie selbstverfaßte in verschiedenen Discotheken aufführt, zumindest erreicht: diejenigen zu widerlegen, die meinen, dieses Publikum könne nur mit dem Unterleib denken. Zwar hieß es anfänglich tatsächlich häufig: «Ich komme zum Tanzen hierher und nicht, um mir Theater anzuschauen.» Doch dann, ausgerechnet nach der wilden Rozznjagd auf dem Müllplatz, die unter anderem die Discothekenkultur beleuchtet, haben die Gäste Lust am Theater auf der Tanzfläche bekommen. Regisseur Gerd Prohaska ist selbst überrascht, daß Zuschauer kommen, die Theater nicht einmal aus dem Fernsehen kennen. Und Veranstalter Hermann Müller selbst ist so angetan, daß er La Parisienne ab Januar '78 sogar in weiteren zwanzig dieser Randbühnen auftreten lassen will.

Flohmarkt: Savoir-vivre, 1978

•••

Das mit der Tournee klappte dann doch nicht so recht, aber dieses Müllers Namensvetter Wolfgang ging Anfang der Achtziger mit dem Theater in den Untergrund der Münchner Discothek Zip und arbeitete dafür Shakespeare um. Mit Roms Dekadenz und Cäsars Tod — Stört der Krieg die Liebe? vereinte er zwei Stücke zu einem: Julius Cäsar und Antonius und Cleopatra. Letztere wurde dargestellt von Barbara Rudnik, den Cäsar gab Gerd Silberbauer. Doch von Kulturrevolution wollte man im gemütlichen Isar-Athen nichts wissen. Ein schlimmste Umtriebe befürchtender Bürger alarmierte die Polizei, die stürmte den Untergrund namens Zip. Regisseur Wolfgang Müller kommentierte seinerzeit: «Die Herren kamen zweitausend Jahre zu spät.»

* Den einen Teil des Paares in Rozznjagd> stellte übrigens Annette Kreft dar, deren früher vitalbiographischer Abschnitt — ähnlich dem des einstmaligen Kammerspielers Silberbauer — nicht mehr so recht in der Erinnerung der Chronisten haften mag – völlig zu Unrecht, denn zu diesem Zeitpunkt machte sie noch Kunst, nicht nur nackte, sondern reine, Art brut sozusagen.

•••

Eine kleine Begebenheit am Rande: Diesem Discotheaterbesuch folgte die bis dahin ärgste Erfahrung meines (seinerzeit gleichwohl noch recht jungen) Rundfunklebens. Hermann Müller nannte nämlich ein weiteres gastronomisches Erlebnislokal sein eigen, wohin er mich einlud. Dort gab es neben gutem Essen auch Alkohol. Ich hatte unglücklicherweise früh morgens vom Studio Nürnberg aus vorab ein kulturelles Morgentelegramm auf Bayern 3 nach München und damit in die Welt zu versenden. Wie sich das häufig so verhält, wenn man dem Glauben glaubt: Ich befand mich irgendwann im Zustand der Sicherheit, meine Botschaft auch ohne Manuskript verkünden zu können. Doch dann wurde mein Beitrag von ursprünglich geplanten Stunde acht um eine vorverlegt. So mußten ein paar Stichwörter ausreichen, ein ausgeschlafene Munterkeit suggerierender Anfangssatz sollte genügen, dann würde es schon von alleine vor sich hinplaudern, schließlich war ich fröhlich und guter Dinge. Dennoch konzentrierte ich mich professionell auf diesen Einstieg, doch als der vermutlich um einiges vitalere Moderator exakt mit meinem zurechtgelegten Satz seine Ankündigung meiner begann, hatte man bei mir den Stecker gezogen, fehlten mir schlagartig die Worte. Der Morgentelegraph behielt die seinen und schaltete mich engültig ab mit der milden Begründung: «Der Kollege scheint heute wohl leicht unpäßlich.»
 
Do, 30.12.2010 |  link | (8713) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Dramatisches


diplomuschi   (31.12.10, 01:11)   (link)  
Die „kleine Begebenheit"
am Rande war doch eigentlich viel grösser, wenigstens als Geschichte. Ein bisschen ausführlicher hätte die doch noch ein paar mehr unterhalten. Schade.


jean stubenzweig   (31.12.10, 02:40)   (link)  
Spät nächtens,
im Rausch des jahres- oder sonstwas verabschiedenden Nachfolgers des Absinth frage ich:

Ach nein. Wirklich? Oder anders: Wenn Mythen, Mythologien – die schließlich nichts anderes bedeuten als Erzählungen – entstehen, dann bezieht das dramaturgische Element sein Wesentliches aus der Sprache – aus der gesprochenen, und sei's an der geplauderten vor dem abendlichen Kamin; ob sie nun mit der wirklichen oder realen oder einer andersgearteten zu tun hat, darüber werde ich mich mit mir nicht mehr einigen. Aber wenn da einstmals auch noch ein mehr oder minder fröhlich machender und am Ende gar wohlschmeckender Alkohol als Ingredienz hineinwirkte, dann hat das möglicherweise eine eigene Dynamik entwickelt. Doch ich bezweifle, daß eine an Kurzmitteilungen in der maximalen Ausdehnung von hundertsechzig (inclusive der leeren) Zeichen gewohnte Gesell- oder Leserschaft an ausführlicheren Schilderungen solcher Schicksalabschnitte sonderlich interessiert ist. – Allein die Tatsache, daß ich zufällig auf die Texte meiner Savoir-vivre-Beiträge gestoßen bin, hat mich daran erinnert, es der Nachwelt schriftlich hinterlassen zu können. Zu dürfen? Zu müssen? Zu wollen?

Ach nein. Es sei denn, ich bekomme einen über alle Maßen eitlen Erinnerungsanfall.


diplomuschi   (31.12.10, 20:54)   (link)  
Auf den Erinnerungsanfall
wird dann eben gewartet. Er wird schon kommen.


apostasia   (01.01.11, 18:52)   (link)  
Art brut
wie hier beschrieben oder im Sinne von Le Corbusier, wie hier angerissen?


jean stubenzweig   (01.01.11, 23:28)   (link)  
Nackt eben,
wie's oben steht. Nackt wie rein. Und nichts mit raus. – Sollte diese Frage ernstgemeint sein, muß ich erst ein bißchen nachdenken, denn dann wird's ernst.

An Dubuffet habe ich dabei am wenigstens gedacht. Womit eine Teilfrage – eben nicht beantwortet ist. Denn auch diese Art ist brut, wenn auch nicht im Sinn der völligen Vereinnahmung durch einen. Ich fühle mich in tiefe Konflikte gestürzt.















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