Selbsterkenntnis mit Laura

Des einige Zeit in der Nähe von Avignon dichtenden Italieners der frühen Renaissance und sicher bekanntester und bedeutendster Gedichtzyklus in einer zweisprachigen Ausgabe, die für den deutschsprachigen Raum ihresgleichen sucht: der Canzoniere. Der von Francesco Petrarca selbst ursprünglich unter dem Titel Rerum vulgarium fragmenta zusammengestellte Band enthält 366 Gedichte: 317 Sonette, vier Madrigale, sieben Balladen, 29 Canzonen und neun Sestinen.

Ihren großen Ruhm verdankt die Sammlung den Sonetten an Laura, deren zwei Gruppen den Hauptteil des Canzoniere bilden. Nach Gero von Wilpert prägten diese Liebesgedichte nach dem Minnesang des Mittelalters für mehrere hundert Jahre Stil und Wortschatz des «zweiten erotischen Systems der europäischen Kultur». Deutlich unterscheidet sich darin bereits das Bild der Frau von dem, das die Provençalen und die Dichter des dolce stil nuovo zeichneten, die die Frau als engelhaftes Wesen anbeteten und ihre äußere Erscheinung mit stereotypen Redewendungen beschrieben, meistens besungen von den von Burg zu Burg ziehenden frühen Laudatoren einer Liebe, die Körperlichkeit nicht kannte. Die Damen bestellten sie sich häufig vor die Balkone, um sich die Langeweile vertreiben zu lassen, die entstand, wenn ihre Ritter mal wieder zu einem christlichen oder anderweitigen Raubzug durch die Lande streiften. In ihrem Wertekanon hielten sich diese Balladen bis in die Wiederaufnahme des Liebesgeflüsters beispielsweise eines Cyrano de Bergerac etwa durch Edmond de Rostand; bis heute hält sich diese gerne als Romantik fehlbezeichnete geradezu spirituelle Entleiblichung.

Bei Petrarca ist die donna angelicata jedoch kurz davor, von ihrem Podest hinabzusteigen, die Statue des Pygmalion beginnt, Fleisch und Blut zu werden. Seine Laura bewegt sich in der irdischen Natur, entledigt sich gar ihrer Gewänder und badet im Fluß. Eine Wiedergeburt aus der auch körperlich lebhaften Antike bahnt sich an, wenn die frühe Minne auch noch immer wieder durchschimmert. Ihre Bewegungen, ihr Mienenspiel werden wiedergegeben, ihr Verhalten dem Dichter gegenüber ist abzulesen an den Stimmungen, die in den Sonetten evoziert werden. Die wahren Empfindungen der Geliebten werden nicht deutlich, es bleibt offen, ob sie die Liebe des Dichters erwidert und ob ihre Tugendhaftigkeit einem Mangel an Gefühl, einer grundsätzlichen Haltung oder nur natürlicher Scham zuzuschreiben ist. Diffus ist das zwar, aber ein Leben wird bei genauer Betrachtung erkennbar, das später als Beziehungslosigkeit in die Sprache der Psychologie einziehen wird.

Denn die Empfindungen Petrarcas sind ohnehin nicht als Liebe im herkömmlichen Sinn zu verstehen: dieser Liebende findet Erhebung in der Betrachtung der Schönheit und Tugend der reinen Frau; manches aus dem Wortschatz der Marien-Verehrung ist in seine Liebessprache eingegangen. Stärker jedoch als die religiöse Überhöhung kommt der Unmut des Mannes zum Ausdruck, der an der unmenschlichen Tugend und Reinheit der Frau leidet, die ihm keine Erfüllung gewährt, aber möglicherweise auch sein Leid darüber, daß er sich selbst immer auf Distanz hält.

Während Petrarca im ersten Teil der Gedichte in der lebenden Laura seinen eigenen Schmerz idolisiert, findet er allerdings im zweiten, in dem sich sein Seelenzustand nach dem Tod der Geliebten spiegelt, über die Erfahrung des wahren dolore amoroso zur Erkenntnis zutiefst menschlichen Leidens. Die kunstvollen Sonette des zweiten Teils, in denen mit reich variiertem Wortschatz die feinsten Nuancen einer melancholischen Lebensmüdigkeit, einer Zerrisenheit zwischen Liebe, Ruhmverlangen und christlicher Demut aufgezeichnet sind, gelten als die vollkommensten Gedichte des Canzoniere.
«Ich geh in Trauer um vergangne Zeiten,
in denen mich ein sterblich Ding verwirrte
und ich zum Flug, der mich dem Joch entschirrte,
die Schwingen, ach, versäumte auszubreiten.»
[1]
Radio DRS und Radio France (Auszug), Oktober 1993

•••

Die erwähnte, sehr empfehlenswerte (ursprünglich in einem der letzten kleinverlegerischen Bastiönchen erschienene) Ausgabe ist — bedauerlicherweise — vergriffen (die 2002 bei Artemis und Winkler erschienene, von Hans Grote herausgegebene kann ich nicht beurteilen). Sie scheint sehr gefragt, genauer: kaum jemand mag sich von ihr trennen wollen; antiquarisch wird immer wieder mal ein Exemplar angeboten, aber häufig zu einem Preis, der um einiges über dem des dtv-Erstlings liegt, oftmals das doppelte und mehr. Das hat seinen Grund sicherlich auch in den Übersetzungen von Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer, der das Buch auch herausgegeben hat. Hier wird Laura ihres Astralleibes entledigt, bekommt die Magersüchtige der Anbetung Fleisch an die Rippen, die steinerne Aphrodite geschichtsabsenter Verzückung wird beatmet — was der sprachlich-bildhaften Schönheit dieses Werkes keinen Abbruch tut, sondern es eher aufwertet, da ihm das reine, idealistisch Abgehobene genommen wird. Nicht zuletzt der inhaltlich wie sprachlich brillante Kommentar bewegt den Canzoniere im Regal dort hin, wo er (auch) hingehört: ins Fach, in dem die Lyrik aussagebereit und -kräftig neben der Geschichte (nicht nur der Literatur) steht.
«— selbst Hannibal entschlüge sich des Spottes ...
Schenkst du nur einen Blick dem Hause Gottes,
das heute gänzlich brennt, dann wird dir Kunde:
damit der Wunsch gesunde,
genügt es, Funken nur des Brandes, der tobte,
zu löschen, was man noch im Himmel lobte.»
[2]
Dazu bei trägt das Buch mit seinen weit über tausend Seiten, das all dies eben nur in seiner Gesamtheit zu verdeutlichten vermag. Die Reduktion auf 50 Gedichte (384 Seiten) und in der Übersetzung von Peter Brockmeier, die Reclam aktuell anbietet, deutet allerdings auf eine Rezeption hin, nach der sich Petrarca als Troubadour, sich Laura als Liebesgöttin sehr viel größerer Nachfrage erfreuen denn als Geschichtsschreiber beziehungsweise als Figur der Renaissance. Hier scheint die Wahrscheinlichkeit nicht weiter von Belang, daß die engelhafte Blondine im richtigen Leben, im Avignon des 14. Jahrhunderts gar nicht existierte. Für viele Menschen scheint es auszureichen, lesen zu dürfen: «Du kühlst mich nicht, Canzone, du entflammst mich ...»

Dabei werden dann schon auch gerne Andeutungen überlesen, die auf Regungen verweisen, die dem Menschlein auch schonmal in die Glieder fahren.
«Talor m'assale in mezzo a'tristi pianti
un dubbio: Come posson queste membra
da la spirito lor viver lontante?
Ma rispondemie Amor: Non ti rimembra
che questo è privilegio degli amanti,
sciolti da tutte qualitati humane?

Zuweilen stürmt im Weinen den Betrübten
ein Zweifel: wie denn können diese Glieder
so weit von ihrem Geist geschieden leben?

Entsinnst du dich, tönt Amors Stimme wider
daß dies das Privilieg ist der Verliebten,
die sich menschlicher Eigenschaft entheben.»
[3]
Glücklicherweise scheint jedoch auch Peter Brockmeier in der Reclam-Ausgabe dem Cliché der entleibten Liebe keine neue Nahrung zu geben (die offensichtlich allgegenwärtigen nachwilhelminischen Übersetzer-Wehen haben auch allzuzuviel Mißgeburten in die gesamte literarische Welt hinausgepreßt). In seinem Nachwort hält er fest: «[…] Der Konflikt zwischen Körper und Geist liegt auch der Liebesdichtung Petrarcas zugrunde; denn die Liebe ist ohne Sexualität nicht zu erfahren. Schon Augustinus hat von der Gottesliebe, der geistigen Liebe gesprochen und zugleich den Leser an die ‹fleischliche Umarmung› erinnert: Wenn er, Augustinus, Gott liebe, so sei dieser ‹das Licht, die Stimme, der Wohlgeruch, die Speise und die Umarmung meines inneren Menschen.›» (Buch von der Deutschen Poeterey, VI. Capitel.) Und — das läßt auch für die verschlankte Version des Canzoniere hoffen — der Emeritus der Berliner Humboldt-Universität Brockmeier deutet, ebenfalls im Nachwort, an, daß es sich bei diesem Werk wohl kaum um eines handeln dürfte, das eine Angebetete ihrem Ritter beim Hotelweekend unterm Eierbaum selbstgefärbt oder gar -gelegt ins Hasennest säuseln wird.

«Francesco Petrarca, ein beflissener Leser der Bekenntnisse des Augustinus, hat die Form des Selbstbekenntnisses auf die Liebesdichtung übertragen: Er hat sich und sein Leben vor das Gericht eines erfundenen poetischen Ichs gestellt, um die Natur seines vergangenen liebenden Ichs zu ergründen. Die Liebeskunst seiner literarischen Vorbilder hat er in eine Gewissenserforschung verwandelt, die sich von der Faszination der Sünde nicht lösen kann. Das Lebensideal, das Petrarca dem Leser der Gedichtsammlung ansinnt, lautet: Lies und schreib, damit du dich selbst erkennst.»


[1] Ich geh in Trauer um vergangne Zeiten, p 953
[2] Ich wende mich zurück bei jedem Passe, p 35
[3] Es war der Tag, an dem die Sonne, ibid., p 157

Francesco Petrarca: Canzoniere
Zweisprachige Gesamtausgabe, nach einer Linearübersetzung von Geraldine Gabor und in deutsche Verse gebracht von Ernst-Jürgen Dreyer, nach der Ausgabe von Guiseppe Salvo Cozzo, Florenz 1904, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1990, 2. Auflage

Zur Petrarca-Monographie von Karlheinz Stierle einiges via Perlentaucher.
Siehe auch: Francesco Petrarca, Das einsame Leben.

 
Fr, 22.04.2011 |  link | (2635) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


einemaria   (23.04.11, 19:53)   (link)  
Oh, wie schön. Gibts also nicht in billig ;(


jean stubenzweig   (23.04.11, 23:22)   (link)  
Trauern in Schönheit?
Das behauptet jedenfalls das konsultierte Hieroglyphen-Lexikon hinter «nicht in billig»: Trauriger Smilie. Andererseits sind ja sogar auch allgemein gängige Preziosen manchmal schön, die die Marktwerte der Mittel des (Über-)Lebens in die Höhe treiben, weil behauptet wird, sie seien selten. Champagner und Liebe zum Beispiel, die nicht von Großkonzernen in die Welt gelassen werden.


jagothello   (23.04.11, 23:58)   (link)  
SO NETT
Kein perfektes Anagramm des Sonetts aber doch ganz nett. Umberto Eco ist der Meinung, dass Dichter über ihre bewussten Absichten hinaus von Namen derart besessen sein können, dass sie versteckte Bezüge zu ihnen, häufig eben in der Form von Anagrammen, herstellen; bewusst und auch unbewusst. Eine entsprechende Untersuchung Ecos zu den Laura-Gedichten Petrarcas hat tatsächlich eine ganze Reihe solcher (Pseudo-) Anagramme zutage befördert. Eco verschweigt als ehrenhafter Wissenschaftler (!) nicht, dass er bei Petrarca auch nach Silvia- Anagrammen gefahndet hat und selbst die Muse G. Leopardis ist solcherart bei Petrarca nachweisbar. Man muss eben nur genügend hinschauen...


jean stubenzweig   (24.04.11, 11:50)   (link)  
«Ehrenhafter Wissenschaftler»?
Der Hinweis auf die haftende Ehre gibt mir leichte Rätsel auf, ebenso das Ausrufezeichen. Als Lehrer von den Zeichen hat er schließlich nahezu in allem geforscht, was Bedeutung ergibt. Weshalb also nicht auch mit des Dichters Muse Ana Gram. Überraschend ist das also nicht, wenn ich vom Speziellen auch nichts weiß. In welcher Untersuchung hat er sich dezidiert damit beschäftigt? Meine Suche hat kein Ergebnis gebracht. Aber ich bin vielleicht zu schwach im Hinschauen.


jagothello   (24.04.11, 15:28)   (link)  
Gegen Rätsel
ist hoffentlich nichts einzuwenden. Hier gibt es keins. Die Zweifel an Eco gingen aber mal so weit, dass man annahm, es gebe ihn gar nicht. In Wirklichkeit ist er natürlich kein Phantom, sondern nichts weiter als ein Wissenschaftler. Darauf wollte ich hinweisen. Besagte Untersuchung zitiert er selbst in dem schönen Kapitel Intentio operis vs. intentio auctoris (In: Die Grenzen der Interpretation. S. 148 ff., München 1995)


jean stubenzweig   (24.04.11, 18:33)   (link)  
Zu verstehen beginne ich.
Das hat mit der mittlerweile etwas vorgerückten Stunde zu tun, aber ein wenig in die Denkvertikale des Wacherwerdens geholfen hat mir dabei durchaus auch die angenehm uneitle Besprechung von Benedikt Grimmler*, der sich bemüht, die ecosche Rätselpraxis zu erhellen:
«Eco führte für das Vorgehen des Lesers den aus der formalen Logik stammenden Begriff der möglichen Welten in die Literatursemiotik ein: Während der Lektüre kreiert er ein Welt-Modell, das den Angaben des Textes entspricht, und füllt es stets mit neuen Zusätzen, die dieser anbietet. Die möglichen Welten verhalten sich hierbei parasitär zu unserer wahrgenommenen Umwelt, also basierend auf deren Prämissen ändert der Leser seine mögliche Welt ab. Er geht etwa so lange von den Naturgesetzen aus, bis der Text verkündet, dass die Menschen fliegen können, oder er nimmt an, das Geschehen spiele auf der Erde, bis er den Hinweis bekommt, sich auf dem Mars zu befinden.»
Ihnen danke ich für den Hinweis auf das Buch, das sich irgendwie an mir vorbeigemogelt haben muß.

* Der, das nebenbei, auch noch an eine Roman- und später Fernsehfigur erinnert, wie sie völlig ausgestorben zu sein scheint (oder aber: «wie sie in ihrer Art von schwarzhumoriger Anarchie vielleicht nur in Österreich möglich ist»). Das war die einzige Serie, der sogar ich als früh erklärter Gegner dieses Genres von Beginn an unterlegen war (das war die Zeit, in der man in München noch ungehindert über die Grenze nach ORF blicken durfte). Noch heute kriege ich feuchte Augen und möchte Peter Patzak (nicht nur deshalb) ein Denkmal errichten..















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