Dem hinkenden Boten,

neben der Kopfschüttlerin einer meiner zwei in Berlin ansässigen Vorleser, schulde ich besonderen Dank für den Hinweis auf den 68er-Text von Friedrich Christian Delius (ich wußte gar nicht, daß er eine eigene Seite im Zwischennetz hat). Seine Gedichte habe ich, seit Kursbuch-Zeiten, manchmal gelesen, seine Erzählungen mochte ich von Anfang an, endgültig festgesetzt hatte er sich in meinem sandbankartigen, von der ewigen Wiederkehr der Gezeiten geprägten, absolut antihollywoodianischen Kopfkino mit Ein Held der inneren Sicherheit. Dann geriet er, völlig grundlos, in die Untiefen meiner eben nicht berechenbaren Langzeiterinnerung. Doch er hat sich, wie selten einer bei mir, bis heute auch oder gerade als Erzähler, als Gedächtnisanker in mir gehalten; der würde mir, das war mir immer klar, nie zur Gänze hinter dem Horizont des weiten Weltmeeres verschwinden. Und eines Tages tauchte er im Regal der kleinen Uhlenorster Buchhandlung in der Papenburger Straße wieder auf, wo ich außerhalb des von mir nicht sonderlich geschätzten Versandgeschäftes auf der Suche nach den literarischen Achtzigern fündig geworden war, dieser Delius, mit seinem Spaziergang von Rostock nach Syrakus, einer atemberaubend in sich, wie im Protagonisten, ruhenden Geschichte von einem Mann, der die Freiheit außerhalb der DDR nicht unbedingt suchte, sie deshalb nicht verlassen wollte, sondern einfach das Sizilien sehen und erleben wollte, in das sich einst Johann Gottfried Seume aufgemacht hatte — und zwar mittels eines Schlauchboots via Ostsee. Da kommt keine dieser fernseh- oder fernwehsehnsüchtigen, meist vom MDR in alle anderen Sender gekippten Reportagen von freiheitsfliehenden Bürgern aller möglichen runden Tische gegen an. Das hat eben jene Lapidarität, fast Lakonik, die manch eine weltbetrachtende Rezeptur der West-Ost-Perspektive auf die nötige Reduktion einkochen würde, feinster, reiner Fond aus minimalen, hier darf's mal gesagt werden, authentischen Ressourcen.

Delius' immer zweiflerischer Rückblick, hier auf die letzten dreißig-, vierzig und noch mehr Jahre wird an dieser Rede deutlich: «Das sollten heutige Forscher, Betrachter, 68er-Hasser und Nostalgiker beachten: Wer immer sich Details, Bilder, Sätze, Thesen aus den Strömungen dieser großen Zirkulation herausfischt und die Gegenbilder, -sätze, -thesen wegläßt, wandelt auf dem bequemen Pfad der Legendenbildung.» Ich nehme mal an, daß mir dieser Satz von ihm deshalb am besten gefällt, weil er die Lage am zutreffendsten, mit dem ihm eigenen Humor und stillen Witz beschreibt: «‹Er ist gesehen worden, wie er zusah.› Der Autor [Delius] definiert sich als teilnehmender Zuschauer, mitlaufender Beschreiber, als sich beobachtender Beobachter. Also wieder einmal: Nichts da vom Tod der Literatur, sondern Literatur als Ziel und vielleicht als Mittel.»

Hans Magnus Enzensberger zitiert er etwas ausführlicher in seiner Betrachtung des wiedergelesenen Kursbuch 15, der Natur der Sache dienend, aber eben nicht letztlich doch unfreiwillig heroisierend wie jene, die zum Immergleichen, Mehrfachwieder- oder Widergekäuten aus der Futterkiste der Sekundärklischees greifen, wie das bei allzuvielen der heutigen Rezipienten oder Textzusammensetzer der Fall ist, die in ihrem Willen, Idole oder Ideologien (die es, dabei Delius zustimmend heftig zunickend, eben so einfach beziehungsweise vereinfachend nie gab) zu zerstören oder zu erhöhen, vor Klappentexten und Waschzetteln niederknien, vielleicht sollte ich schreiben: Rezeptionisten einer vor bald fünfzig Jahren begonnenen, sich in alle Winde und deren Richtungen ausgebreitet habenden Hotelanlage namens Utopia, hier knapp mit: «Zur ‹politischen Alphabetisierung Deutschlands› empfiehlt er, Reportagen, Kolumnen, Berichte zu schreiben [...]»

Ein schöner Tod der Literatur. Vielleicht auch: Wer konnte in dieser Zeit auch nur ahnen, wie sicher es sich einmal sterben würde über einem für alle gespannten Netz, geheißen w(esentlich)w(ichtig)w(urscht).
 
So, 23.10.2011 |  link | (1808) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino















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