Brückenlektüre

Ich inmitten von lauter Kranken brauche das hin und wieder, um die Zeit zwischen allen möglichen Maschinen zu überbrücken, die in meinem Körper herumsuchen, um das Teufelchen in mir zu finden. Und da ich's nicht so mit der Wartezimmerliteratur habe, greife ich vorher in mein regales Leben.

Die Suche nach der Geschichte ihrer bürgerlichen Vorfahren und somit ihrer eigenen führt die Autorin nach Brüssel und ins Flandrische des 19. Jahrhunderts, ein wenig streift sie noch das zwanzigste Jahrhundert, bis hinein in den ersten Weltkrieg. Mit kritischer Distanz, da «nicht das Blut und das Sperma uns zu dem machen, was wir sind», gibt sie diesen Menschen ihre Geschichte zurück: deren Unzulänglichkeiten, Sorgen, Nöte, Freuden und Hoffnungen.

Es liest sich wie beziehungsweise assoziert ein wenig eine literarisch-historische Mileustudie des belgisch-französischen Landadels. Doch es ist als Konstrukt ein autobiographisch verquirlter Roman. Die Yourcenar läßt jedoch nie den Verdacht aufkommen, sie betreibe die Rechtfertigung ihrer eigenen Person oder die nostalgische Suche nach Geborgenheit in ihrer (bürgerlichen) «Heimat».

Die 1903 in Belgien geborene (und 1987 gestorbene) erste Frau der Académie Française ist zwar stilistisch in dem zuhause, das heute vielleicht als «klassisch» bezeichnet würde, schreibt dabei jedoch so präzise und zudem spannend, daß selbst eingefleischte TV-Konsumenten von Familien-«Chroniken» mal wieder abschalten und zum Buch greifen könnten. Ja, ich denke dabei wieder einmal an Gianni Celati:
«Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»
Gianni Celati, Cinema naturale, Wagenbach 2001

Ich brauche das hin und wieder, um nicht von der Walze Geschwindigkeit überrollt zu werden, von all denen, die meinen, sie hätten keine Zeit (mehr), bei denen ich mich bedanken darf, weil sie keine Zeit haben, sich dafür zu bedanken, daß ich ihnen die Tür zur Arztpraxis geöffnet und offengehalten habe.


Marguerite Yourcenar: Gedenkbilder
Zu den Essays von Marguerite Yourcenar

 
Fr, 02.12.2011 |  link | (2185) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


kopfschuetteln   (04.12.11, 12:47)   (link)  
zwischen allen möglichen Maschinen
das klingt nicht gut. ich drücke ihnen die daumen, daß die teufelchen gefunden werden.


einemaria   (04.12.11, 19:52)   (link)  
Jedes Schlechte hat eben auch sein Gutes. So treibt mich der dromologische Faktor auch noch zu Dostojevski oder anderen ellenlangen Entschleunigern. Es ist auch die Geschwindigkeit der Zeit in den Büchern, und sicher nicht nur da, die die Zeit der Zeit Ihres Verfassens in sich tragen. Ein Zeit-Imprint, der es späteren Generationen unmöglich macht, das Buch nachträglich zu beschleunigen.

Der Witz ist ja, daß uns unsere Uhren belügen. Die Zeit rennt nicht, sie bewegt sich nicht, sie ist nicht fähig, sich zu bewegen. Wir sind es, die sich in der Zeit bewegen. Wir sind wie Würmer, die sich durch den Käse fressen, und das Stück Käse ist die Zeit. Dazu ein Gläschen Wein und schon läßt sich dieses Bewußtsein auch dem Körper begreifbar machen. So läßt sich die Zeit leicht steuern, indem wir uns schneller oder langsamer durch den Käse fressen. Ein gutes Buch tut wohl genau das.

Tanti Saluti a la via della salute, einemaria


einemaria   (05.12.11, 12:38)   (link)  
... oder war das die Made durch den Speck?!















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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