Jugendsünde '68. Anderssprachig.

Denn wenn man auch auf den ersten Blick in die Versuchung geraten konnte, anzunehmen, daß die Vielfältigkeit der Sprachen dem Menschen zum Unglück gereicht und eine Trennwand zwischen den Völkern aufgerichtet habe, so bemerkt man doch bei näherer Betrachtung, daß dem nicht so ist. Ja, im Gegenteil, die Verschiedenheit der Sprachen gibt dem Menschen die Gelegenheit, die Vielfalt des menschlichen Geistes in sich aufzunehmen. So wird die Kenntnis der Sprachen zu einem unvergleichlichen Vorteil und einer fast unumgänglichen Notwendigkeit in der Ordnung der Dinge. Hier scheint es mir, daß gerade meine Landsleute, die Franzosen, sich etwas mehr anstrengen müßten, da sie lange Zeit glaubten, es nicht nötig zu haben, aus dieser Quelle der Menschenkenntnis zu schöpfen. Wie eingebildet sind doch diejenigen, die annehmen, daß wir keiner fremden Sprache bedürften, weil überall die unsrige geläufig ist. Abgesehen davon, daß in England zum Beispiel die Kenntnis des Französischen nur sehr ungenügend gepflegt wird, finden sich auch in Deutschland, wo nahezu alle gebildeten Leute französisch sprechen, aufs ganze gesehen nur wenige, die es wirklich beherrschen.» (Mirabeau)1
Ich hatte gestern auf eine interessante (Pflicht-)Lektüre beim hinkenden Boten verwiesen, in der es um Götz Aly und, mal wieder, um die schlimmen Achtundsechziger geht: ein Esel schimpft den anderen ein Langohr. Dort hatte ich auch kommentiert. G. hat mir darauf geantwortet beziehungsweise neue, andere Aspekte eingebracht und über ein anderes Blog auf solche verwiesen. Ich war dabei, zu entgegnen, als mir einfiel, daß mich bei dieser Thematik vielleicht doch nicht so die historische Dimension als mehr eine persönliche Sichtweise bewegt, die somit also auch weniger eine Entgegnung darstellt als einen das Thema erweiternder Eintrag. Deshalb äußere ich mich, auch der Länge wegen, in meinem Poesiealbum. Zur allfälligen '68er-Aly-Diskussion gehe man bitte wieder hinüber zum hinkenden Boten.

Ich sehe das vielleicht aus einem anderen Blickwinkel. Als ich, Sohn zweier Freigeister, von denen einer einer wurde, da er sich aus dem gelöst hatte, was man heute landläufig als konservativ2 bezeichnet, auch wenn es gar nichts bewahrt, sondern vielfach zerstört, aus einem traditionellen, tiefreligiösen Umfeld seiner Familie, als ich also um 1964 nach Berlin kam und sofort unter anderem die BRD bereiste, begegnete ich überall alten Nazi. Daran hat sich lange nichts geändert, und bei diesen Strukturen ist es aus meiner Perspektive bis heute geblieben, oder anders: sie scheinen wieder aufzuleben. Nein, ich meine nicht das, was so urmordsplötzlich in den Medien aufgetaucht ist. Ich kann es auch das altverbreitet Urkonservative nennen. Es ist möglicherweise das, was in den meisten, in uns allen steckt, vor dem sich manch einer sich richtiggehend fürchtet. Zähle ich mal Aly dazu. Zum Urwüchsigen. Ich darf munter daherplappern. Ich bin kein Historiker. Ich blogge, ich ramme einen Pflock in dieses leichige Gespenst.

Ich muß dabei beispielhaft an meine Mutter denken. Sie hat sich, nachdem mein Vater gestorben und eine gewisse, Anstand und Sitte gebührende, also rituelle Trauerzeit vorüber war, rasch einem Mann zugewandt, der sein Leben lang ein von Anstand, Ordnung und Sitte, quasi von den Preußen, letzten Endes von den Nazi geprägter Modellpolizist war, sie hat sich dann auch noch auf eine für mich unerträgliche Weise in ein geradezu seltsames Gefüge eingebracht: Sie hat, nachdem ich zuvor jegliches Erbe abgelehnt hatte, ihr passables Hab und Gut der Kirche vermacht, und zwar, ich fasse es bis heute nicht, der evangelischen. Mir wurde der mögliche Hintergrund erst sehr viel später klar, als ich von einem elsässischen Généalogiste erfuhr, daß der deutschhassenden, wohl weil zur Zwangsdeutschen ernannten Juive Familie ursprünglich, im 18. Jahrhundert hugenottisch war (ich gehöre demnach sogar historisch betrachtet Andersdenkenden, besser vielleicht Andersgläubigen an). Wer da wen und aus welchem Grund wohin konvertiert hatte, das entzieht sich meiner Kenntnis, da ich die (Werde-)Gänge meiner mütterlicherseits französisch-deutschen Verwandtschaft des Blutes nicht weiter verfolgt habe, da es mich lange genug verfolgt und ich konsequent alle angiologischen (dieser Terminus technicus muß jetzt sein, da er mich in letzter Zeit akut allzu sehr beschäftigt) Verbindungen abgebrochen hatte. Aber mir wurden mögliche Mechanismen, Automatismen klar, die da eingesetzt haben könnten: zu einem ordentlichen Leben und damit zur «Geborgenheit» zurückkehren zu wollen, die es einst in ihr gegeben haben mag. Von ihr kamen, in unserer freigeistigen Familie, Begriffe wie Zucht und Ordnung, nicht nur in der heutzutage im Prinzip fälschlicherweise nach einem alten Adeligen benannten und dem Ritual verpflichten Tischbenimmlehre, aber um so häufiger vor.

Ich werde das Gefühl oder auch die anwachsende Sicherheit nicht los, daß viele Menschen '68 als begangene «Jugendsünde» verstanden und sich deshalb wohl später davon nicht nur abwandten, sondern eine Gegenposition bezogen, die sie in Altbewährtes zurückbrachten, auf den «besseren Weg». Ich tendiere dazu, es den bequemeren zu nennen. Gestern sah und hörte ich von mich seltsam anmutenden, weil nicht wissenschaftlich abgesicherten Umfragen, aus denen hervorging, ein Großteil der deutschen Bevölkerung sehne sich («wieder») nach mehr Moral und dergleichen. Irgendwie lande dabei assoziativ bei dem erwähnten Philosemitismus, den ich sehr wohl, nämlich als unendlich verlogen miterlebt habe, der für mich meinungstechnisch immer springergelenkt war und woran sich bis heute nichts geändert hat wie bei den paar wenigen ebenso, die nicht diesem Meinungskonzern angehören, der allerdings mittlerweile allein dem goldenen Götzen Mammon huldigt — ein Konvertit hatte die Geldverleiher aus dem Tempel gejagt — und nicht einem möglichweise schlechten Gewissen wie bei seinem Gründer-Cäsar.

Nehmen wir den bei G. erwähnten Broder. Erinnern wir uns: Er war kurz in Israel, tätig für den Spiegel, meine ich mich zu erinnern, kehrte dann aber rasch reu- oder wehmütig (?) zurück. Ich nehme an, nenne ich's mal so, er meinte, von der BRD aus mehr für Israel tun, zum Beispiel später den Islam von dort aus besser an die Kandare nehmen zu können. Er schwang sich vor allem auf zum Redenschwinger für die Freiheit. Und die war nunmal, da sind wir wieder beim Meinungs-Cäsar, uramerikanisch, ur-US-amerikanisch. (Kurz-Exkurs: Mich ärgert spätestens seit Kohls mit Einführung des endgültigen Kommerzes vehement betriebener Abschaffung auch von '68, daß das andere Amerika, das lateinische, südlich gelegene, aus sehr vielen Ländern beziehungsweise Völkern und unterschiedlichen (Ur-)Mentalitäten bestehende immer durch das Rost fällt.) «Die Deutschen», (ich zitiere, auch fast zehn Jahre danach, die immer noch lesenswerten und äußerst amüsanten Briefe von Daniel Rapoport) gab er qua Religions-, also Gesinnungsamtes zu Protokoll, «würden ‹mit dem Holocaust im Gepäck› eine überlegene Moral beanspruchen, die sie zur Kritik an Amerika geradezu verpflichte.»

Ich sehe mich nachgerade verpflichtet, die nachfolgende Rapoport-Passage zu zitieren, um aufzuzeigen, daß es auch ein anderes (allerdings säkulares) jüdisches Verständnis gibt, das, ich getraue mich es zu sagen, von jemandem kommt, der '68 vielleicht gerade mal geboren wurde, aber dennoch aus einer Perspektive argumentiert, die '68 geboren worden sein könnte.
«Mit knirschender Feder setzt H.M Broder nun gegen jene an, die ‹alles relativieren› und den 11. September womöglich mit anderen Verbrechen vergleichen. Jedes Opfer hat zugleich mit seiner Opferrolle auch die Unvergleichlichkeit seines Leidens gepachtet. Vergleiche nivellieren das Leid, ja leugnen es geradezu. Also sind Historiker, die nur durch vergleichende Untersuchungen zu allgemeinen Aussagen gelangen können, unhistorisch. Aber weiter: Nun spritzt seine Feder Hohn, weil die Anti-Amerikaner plötzlich etdeckten, daß die USA kein Wohlfahrtsverein seien, sondern Weltmacht-orientierte Interessenpolitik betrieben. Setzt dagegen, daß auch deutsche Konzerne im eigenen Interesse handelten. (Radiumhaltig.) H.M. Broder kontert Little Bighorn, Dresden und Hiroshima mit einem schulterzuckenden ‹Na und?› Nun ist nicht jeder mit der Gefühlstaubheit des H.M. Broder geschlagen, allein das gehört beiläufig nicht hierher. Hierher jedoch gehört die Frage, wer denn nun ‹alles relativiert›? H.M. Broder relativiert ganz offenbar das Unrecht aneinander, seine Botschaft lautet: ‹Der Mensch ist schlecht, so what?› Wenn also dereinst (zB. Merz 2003) wieder einmal amerikanische Bomben auf den Irak fallen, dann sollen wir ‹Westeuropäer› aufgeklärt schweigen. Schliesslich hatten wir unsere zwei Weltkriege, unser Bosnien und unseren Kosovo, sollen die USA also ihr Hiroshima, ihr Vietnam und ihren Irak haben. — Dass es jemandem einfallen könnte, all diese Entgleisungen der Menschen, Amerikaner oder Deutsche, in Krieg und Jahrzehnte währendes Leid zu verdammen und vehement dagegen einzutreten, fällt H.M. Broder nicht ein. Dass ein Deutscher aus rationalen Gründen zur Kriegsgegnerschaft gelangen könnte scheint ihm absurd. Wahrscheinlich sogar, dass man überhaupt zur Kriegsgegnerschaft gelangt. (Dabei kann man durchaus beweisen, daß die Kulturlosigkeit auch ohne Krieg Bestand hat).»
Das ist, so meine ich zu wissen, eine Minderheitenmeinung. Wenn man die ungefähr 40,1 Prozent, die dem weiterhin seines Amtes waltenden bundesdeutschen Präsidenten keine zweite Chance geben würden, als Minderheit bezeichnen kann. Es bleiben gestern und vorgestern besagte 59,9 Prozent. Darunter dürften sich viele befinden, die '68 lediglich insofern noch in Erinnerung haben oder aus mehr oder minder dubiosen Büchern kennen, daß damit Anstand und Sitte, vor allem aber Zucht und Ordnung zusammengebrochen sein sollen. Zucht und Ordnung mag man das heutzutage zwar nicht mehr nennen, das wäre dann doch zu wenig zeitgenössisch oder zeitgeistig zu inkorrekt, aber Anstand und Sitte darf schon noch oder wieder sein. Mir klingt dabei jedoch die vielbeschworene Moral in den Ohren. Das wiederum ist eine, bei der etwas mitschwingt, das gut in die heutige Zeit paßt: moralinsauer. Ein ehemaliger Bundeswehrsoldat hat mir mal erzählt, man hätte ihnen früher etwas ins Essen getan, das die unmoralischen Triebe in Sitte und Anstand umwandeln solle: Hängolin habe man's genannt. Mir hat '68 Antrieb zu einer Freiheit des Denkens und durchaus auch des Handelns gegeben, die offenbar und mit der Verkrampfung der Zeit davor in die Schranken zurückverwiesen werden soll. Da dürften ziemlich viele Fehler auch oder gerade des Denkens unterlaufen sein, wie das nunmal ist innerhalb einer Ausbruchs-, Aufbruchs und Probephase. Aber einer der größten Denkfehler scheint mir in den, wie der hinkende Bote schreibt, «leichtfertigen Parallelen zwischen 33 und 68» von Götz Aly zu liegen. Das läge mir schon näher: «Gerade schießt mir Herzogs ‚Ruck’-Rede in den Kopf und ob sie auch — auf der persönlichen Ebene — unter dem Aspekt späte Rache interpretierbar wäre?» Mir schwebt trotz allem Perönlichen wie da oben bei der Rede Herzogs doch eher «die geistig-moralische Wende, [...] die Propagierung liberaler Wirtschaftspolitik» vor. Mich «freigeistig» Erzogenen, mich bald auf die Siebzig Zugehenden hat Achtundsechzig befreit, hat mich in fortgeschrittenem Alter mehr denn je zu klaren Gedanken gebracht. Wenn andere sie auch für wirr, für die Verwirrtheit eines sich nicht aus seinen Jugendsünden lösen Könnenden halten mögen.

Zur '68er-Aly-Diskussen übergebe ich gerne wieder zurück an den hinkenden Boten.


Um eine Fußnote lesbar zu machen, fahre man mit dem Cursor mitten hinein in die jeweilige Ziffer.1
 
Di, 17.01.2012 |  link | (3146) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele


g.   (19.01.12, 05:55)   (link)  
Ich habe mir letztens einige Minuten Broder im Nachtcafé angetan, länger konnte ich es nicht aushalten. Wie es der Zufall so will, landete ich mitten in einem empörten Furor von Broder gegen die Relativierer, die Soziologen und Kriminologen, die Verbrechen durch Ursachenforschung hinwegerklären würden. Dann holte er zu einem emphatischen Bekenntnis aus (ob das kalkuliert war, ist mir immer noch unklar) und sagte: „Man muss sich endlich eingestehen, dass es das Böse gibt. Manche Menschen sind böse, da kann man nichts machen.“ (alles aus dem Gedächtnis zitiert, wenn jemand die Sendung gesehen hat, lass ich mich gerne korrigieren) Unmittelbar nach diesem Satz wandte er sich an den ebenfalls anwesenden Neonazi, der einige Zeit im Knast gesessen hatte und sich inzwischen aus der Szene gelöst hatte. Er nahm ihn als Beispiel und plädierte dann fürs Strafen, das die Menschen erst zu einem Umdenken führen würde. Spannend fand ich, dass er zunächst jegliche Ursachenforschung verdammte (die ja mit Entschuldigung nichts zu tun aht), um dann anschließend auf die klassische Besserungstheorie des 19. Jahrhunderts (Durch Strafe wird man ein besserer Mensch.) umzuschwenken. Da geht’s dann im Denken schon sehr weit in die Geschichte zurück, in die Gegenaufklärung.


jean stubenzweig   (19.01.12, 16:30)   (link)  
Gegenaufklärung,
das dürfte ziemlich genau hinkommen bei diesem Volksprediger. Ich könnte Sie nicht korrigieren, ich halte ihn nicht aus, ich muß ausschalten, sobald das Gesicht des Herrn ins laufende Bild gerät und er einen Satz gesprochen hat. «Man muss sich endlich eingestehen, dass es das Böse gibt. Manche Menschen sind böse, da kann man nichts machen.» Diese altherrlichen Talmud-Thora-Bibel-Koran-Laien-Exegeten inmitten unserer aufgeklärten völkischen Gemeinde, diese Zahnzieher, diese Barbiere der geistigen Volksgesundheit des nahtlos ins 21. Jahrhunderts übergehenden 18., die die Leutchens über den Löffel balbieren, die sie diese Sprachakte als wohltuend empfinden, weil endlich mal einer «Klartext redet». Es schaudert mich bei solchen Gedanken. Und ich erweitere meine vorherigen.

Mit der zur Zeit stattfindenden Auseinandersetzung in Hamburg läßt mich das verbinden: Kinderschänder in unserer Siedlung — nie und nimmer. Das kommt für mich gleich mit: Energiesparend Strom erzeugen, durchaus ja — aber keine Windradmonstren in unserem gemütlichen Sprengel. Die Argumentation der Relativierer, die besagt, daß Gutachten für die beiden aus der Strafhaft Entlassenen für deren Umgefährlichkeit im Sinn neuerlicher derartigen Straftaten sprechen, wird niederdemonstriert, niedergewutbürgert. Diese Kerle müssen weg, und wenn es das Letzte ist, das ich in meinem Leben tue, sprach der etwa Achtzigjährige (alles aus dem Gedächtnis zitiert, wenn jemand die Sendungen gesehen hat, lass' auch ich mich gerne korrigieren). Diese Gutbürger, die tagtäglich unter potentiellen Mördern leben, die unter unter uns allen leben, von welchen (An-)Trieben auch immer geprägt, und seien es fundamental religiöse, die sich wahrlich nicht alle aus dem muslimischen Glauben rekrutieren. Bomben schmeißen auch andere, zum Beispiel Menschen, die jeden Sonntag ihr christliches Gotteshaus betreten, um zu beten. Auch untereinander tun sie's, haben sie's getan. Oder wie anders sollte man das nennen, was in Chile geschah, am 11. September 1973? Man ist versucht, ich bin versucht, Broder recht zu geben. Denn umgebracht wird auch von Menschen anderer Religionen, und sei es mit dem das jüdische mit dem christlichen verbindenden «Argument» Auge um Auge, Zahn um Zahn, von dem die nach meinem Kenntnisstand neuere theologische Forschung nachweist, daß es sich in der korrekten Bedeutung um eine schlichte gerichtliche Anweisung zum Ausgleich von Schadenersatz handelt. Also neuere Erkenntnisse, die Broder und anderen einiges an Argumentationskraft nehmen. Ältere gibt's auch, historisch überlieferte: «Welchen Nutzen», so Mirabeau in seinem Essay Über den Despotismus aus dem Jahr 1775, «hätte der Mensch davon zu glauben, daß er von Natur aus schlecht sei?»

Aber neuere Forschung des Geistes interessiert die meisten nur dann, wenn es um eine Moral geht, die ihnen in ihr protestantisches Gefüge paßt, das längst ins katholische hineinwirkt wie die CDU in die SPD, wie die naturwissenschaftliche, die ihnen einen neuen Vortrieb bietet, der sie fortbewegt wie in guten alten Zeiten der Dampfmaschine, nur eben energiesparender, mit weniger Dreck (im eigenen Haus). Ansonsten möge bitte alles beim Alten bleiben, denn der Mensch an sich ist schließlich gut.

Ursachenforschung? «Man muss sich endlich eingestehen, dass es das Böse gibt. Manche Menschen sind böse, da kann man nichts machen.» Da sei Rapoport wiederholt: «Dass es jemandem einfallen könnte, all diese Entgleisungen der Menschen, Amerikaner oder Deutsche, in Krieg und Jahrzehnte währendes Leid zu verdammen und vehement dagegen einzutreten, fällt H. M. Broder nicht ein. Dass ein Deutscher aus rationalen Gründen zur Kriegsgegnerschaft gelangen könnte scheint ihm absurd.» Womit wir wieder bei den Relativierern wären.

Auch Broder galt einmal als fortschrittlicher Freigeist. Meine Güte, für viele ist er das heute noch, oder gar mehr denn je, ihm und seinen politisch professionellen und laienhaften Mitpredigern am Biertisch sowie im Weinlokal folgend im fortschreitenden Rückschritt. Ich will gar nicht wissen, wieviele das tatsächlich sind. Sogar eine von mir an sich überaus geschätzte Dame aus meinem Umfeld, eine vom Rationalen geprägte Intellektuelle spricht von ihm immer wieder als einem charmanten Plauderer (da gerate ich an den Rand der Versuchung, Sippenhaft aussprechen zu wollen). Und genau das dürfte es treffen: Viele mögen ihn, weil er so charmant plaudert. Das macht so einen in der Mediengesellschaft relativ (sic) rasch zum Popul-Heroen. Was dabei in facto herauskommt (den Unterschied zum Jure lasse ich der Einfachheit halber jetzt mal weg) dürften die meisten allerdings überhaupt nicht verstehen, weil sie nicht darüber nachdenken (relativieren?), weil es sie nicht interessiert, was ihn bewegt, weil er charmant soviel Beruhigendes mitbringt, das die Gemütlichkeit nicht in (relative?) Unordnung bringt. Oder aber sie sind, was ich eher annehmen muß, in weiten Teilen geistig genauso gelagert. Das würde erklären, daß sie aktuell, wie mir der immer gutgelaunte Frühstücksmoderator heute früh anscheinend besonders gutgelaunt erzählt hat, die Christlich-demokratischen und -sozialen mit neununddreißig Prozent wählen würden, den sozialen Demokraten neunundzwanzig Prozent gäben, was sozusagen auf das immerwährend gute Alte hinausliefe, die Gemütlichkeit wieder hergestellt wäre. Als ob es keinerlei Interruptus gegeben hätte in dieser altbewährten parteipolitischen Sexualstellung (ich weiß gar nicht mehr, wie wir die mal nannten), die keinerlei Entartung zuläßt. Sogar den sogenannten freien Demokraten gäbe man wieder ein Pünktchen mehr. Von denen habe ich, eine Weile ist's schon her, tatsächlich mal einige freie Geister kennengelernt. Doch die sind, innerhalb und von der eigenen Gemeinde, offensichtlich getötet worden.

Warum schicken die Jungen diese ganzen unerträglichen Alten nicht endlich auf ihr Teil?! Weshalb kreieren diese ganzen jungen Kreativen nicht endllich eine neue Moral, eine, die nicht so verlogen daherkommt wie die alte, die jene Fakten berücksichtigt, die sich im Lauf der Zeit ergeben haben und die sie — gleichwohl meist im Privaten — längst leben. Leicht ließe sich dabei das Gute aus dem Alten, aus der Geschichte mit hinübernehmen. Noch einmal Mirabeau, der aus dem vorrevolutionären 18. Jahrhundert:
«Zieht euch zurück, ihr eifernden Zensoren,
Schließt, Frömmler, Moralisten, Narren, eure Ohren!
Nicht sollt ihr eifernden Megären mit uns rechten,
Hinweg mit euch, ihr Stolzen, Selbstgerechten,
denn dieser Blätter süße Heimlichkeit
ist nie und nimmer euch geweiht.»
Honoré Gabriel Graf von Mirabeau — Ausgewählte Schriften, Merlin, Hamburg o. J. (um 1971), Bd. !, S. 222; die Fünfziger ff.: Ein Dampfer segelt in der Heide.
Oder sind sie bereits in diesen, wie Ulrich Busch im Zusammenhang mit einer anderen sehr deutschen Eigenschaft, der Lustfeindlichkeit nicht zuletzt des Essens, anmerkt, «calvinistischen, und einigen protestantischen Sekten» derart tief verwurzelt, daß sie ihm nicht mehr auskommen, gefangen sind im Geist des Sich-Zurücknehmens, dem der Demut, ein Begriff, der bald so inflationär das Leben bestimmen wird wie die Unwörter Würde und Krise. Womit wir wieder bei den Ritualen wären. Mir schwant, einmal mehr vom Hunderttausendsten ins Unendliche geratend, da könnten Zusammenhänge herzustellen sein, die einen neuen, immer im umgebenden Geist, aus der Sozialisation erwachsenen Purismus erklären, der sich über eine Gegenaufklärung verständlich macht, die einen von der Vernunft bestimmt abwägenden, nenne ich ihn ausnahmsweise mal einen relativierenden Gedanken für Teufelswerk hält. Satan aber kann nur auftreten, wenn jemand an dessen Gegenpart glaubt, in welchen Deckmantel er auch verpackt sein mag. Doch ohne Führer scheinen die meisten nicht zurecht zu kommen im Leben. Egal, wie sie heißen.


terra40   (19.01.12, 13:43)   (link)  
Ut de Franzosentid
Es scheint mir, lieber Herr Stubenzweig, daß in der Vergangenheit viel mehr Deutsche die französische Sprache nicht nur beherrschten, sondern auch gerne benutzen. Das entnehme ich der niederländischen Übersetzung (in sogar zwei Teilen) von Fritz Reuters Ut mine Stromtid die mir mein Vater hinterlassen hat. Dort wimmelt es geradezu von französischen Ausdrücken usw. Das kann man von den hiesigen bürgerlichen deutschen Konversationen aber nicht mehr sagen. Ohne Dolmetscher sind Frau Merkel und Herr Sarkozy machtlos.
Gruß, T.


jean stubenzweig   (19.01.12, 19:17)   (link)  
Französisch ist schließlich
das Englisch der Vergangenheit. An allen Höfen wurde es gesprochen, und alles, was dort schranzte, plapperte es nach. Auch Übersetzer dürften davor nicht gefeit gewesen sein. Aber komisch klingt das durchaus: der niederdeutsche Dialektiker Fritz Reuter umringelreiht vom Französischen. Ich gehe davon aus, daß Preußens Gloria da mit eingewirkt hat.

Bei Frau Merkel dürfte davon allerdings kaum etwas hängengeblieben sein. Außer daß sie spät Küßchenküßchen gelehrt bekommt, derweil alle Welt diese Höflichkeitsform längst praktiziert, wahrscheinlich, weil sie es alleine auf den Sonnenkönig zurückführt, dessen Hof sie auch gerne angehören möchte, auch wenn der seine Schranzen allesamt weit vor der großen Pariser Welt eingesperrt hat. Im heutigen französischen Volk hat das auch dialektischen Formen. In bestimmten Gegenden Frankreichs wird wird zweimal, in anderen viermal geküßt, in manchen Landstrichen oder unter Bessergestellten nur so getan, sozusagen nur gehaucht. Aber mit Liebe, wir wissen es, hat das wahrlich nichts zu tun. Unabhängige reichen zum Gruß lediglich die Hand. Und Nicolas wird neben französisch eher ungarisch sprechen als ückermärkerisch. Vermutlich wäre es ihm ohnehin lieber, Orbán hieße Viktoria.















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