Südlich erleuchtetes, tieflinksrheinisches Déja-vu

Seit er sich aufs längerfristige, vermutlich ewige Dasein an la Mer Méditerranée, an la Grande Bleue, aus dem die Schaumgeborene entstiegen war, eingerichtet hatte, stand er gerne früh auf, der eigentliche Langschläfer. Meist wurde er geweckt durch den Balayeur, der noch vor sechs Uhr mit seinem treckergleichen Gerät um das am Cours Belsunce gelegene Centre Bourse herumkurvte, um den nach der letzten abendlichen Straßenfegerei neu entstandenen und irgendwie einfach zum Stadtbild gehörenden, ihn auch nicht, wie in anderen Städten, weiter irritierenden Müll wegzusaugen. Der zu ihm in die zehnte Etage hinaufdringende Lärm störte ihn nicht sonderlich, es war ein sonores Brummen und kein ihn jedesmal aufschreckendes Knallen wie das der Fußbälle gegen das Gatter des Lieferantentors des Einkaufszentrums, die die Kinder bis morgens um drei und manchmal auch um vier dagegendroschen; in diesem Alter schert man sich noch nicht um Schlafbedürfnisse anderer, schon gar nicht während der Sommerferien. Es war eher wie das Grummeln eines in einem entfernten Raum oder im Nachbarappartement stehenden Weckers. Es war eben die Stadt, in der man den Vierundzwanzigstundenkrach erfunden hatte, weil man kurz vor Afrika nunmal keine Mittags- und Abendruhezeit kennt wie im größten Dorf der Welt, der weißblauen Metropole, aus der er seit bald dreißig Jahren fliehen wollte und er es nun endlich geschafft hatte. Hier wurde aus der einstigen Nachteule eine Lerche, ein zu früheren Zeiten ungeahnt früher Vogel, der um den noch geschlossenen, auf ein gigantisches Griechenklo, gegen das Wirtschaftswachstum kommt im Land keine noch so große Ansammlung archäologischer Scherben an, betongesetzten Kaufrauschbunker herumgehen mußte, um sich gemächlichen Schrittes in Richtung des fünf gemütliche Gehminuten entfernten alten Hafens sich aufzumachen. In der Regel nahm er den Weg entlang des Cours Belsunce, ließ den nicht sonderlich beschaulichen Busbahnhof auf der Rue Bir-Hakeim rechts liegen und ging bis hin zur einstigen Prachtstraße Canebière, bog dann nach rechts ab, begrüßte allmorgendlich das noch nicht von kleinen Kindern und deren Müttern friedlich belagerte Karusell, nickte dem ebenfalls noch ruhenden vertrauten Office de Tourisme zu, deshalb, da eine dort tätige Dame zum Entschluß der Umsiedlung beigetragen hat, holte sich bei der Bäckerin an der Ecke Rue Beauvais und Rue Bailli de Suffren ein Schoko-ladenhörnchen, ein paar Schritte weiter das Gäßchen hinunter an seiner Einmündung zum Quai des Belges eine Tageszeitung und nahm in der rasch zu seinem Frühmorgenbüro gewordenen Bar seine doppelten Café, um zunächst einmal nichts anderes zu tun als den Mädchen in die Taschen zu schauen. Nach den lustvollen Blicken über Zeitung und Cafétasse hinweg würde er einen Rundgang schlurfen, ein schwäbischer Autor nannte das widerrechtlich schlurgeln, das bedächtige Vor-sich-hin-Trotten, zu den Fischen am Rand des Hafens hinüberschauen, die Fischerfrauen freundlich grüßen, von denen er sich vorgenommen hatte, sie bald persönlich anzusprechen, auf daß sie sich beim nächsten Mal seiner erinnerten wie eines Alteingesessenen, ein paar Schritte über den sich belebenden Quai Rive Neuve zu gehen, um in der Bar Marengo dann von den großen Tassen auf die kleineren umzusteigen und den Journalisten der Marseillaise beim noch hektikfreien Morgen-geplaudere und den übriggebliebenen Bordsteinschwalben aus der ebenfalls nahegelegenen Gasse Rue Glandèves bei ihren müden Nach- und Nachtberichten zuzuhören. Wenn die Mittagshitze sich ankündigte, würde er ins für längere Zeit, jedenfalls so lange, bis eine Wohnung gefunden wäre, angemietete klimatisierte Hotel zurückschlurgeln, ein wenig das tun, wofür er auch im Süden bezahlt wurde, ein paar Telephonate tätigen, Aufsätze lesen, sie redigieren, dann ein bißchen schlafen und gegen späten Nachmittag denselben Rundgang noch einmal machen.

Ausgeruht und fast so guter Dinge wie am frühen Morgen war er wieder an seinem Ausguck mit Blick auf die gazellenhafte, jedoch mittlerweile bedächtiger gewordene Rasanz um die Bushaltestelle angelangt. Um seinem sich hier in dieser Stadt ständig aufkommenden Willen der Arbeitsver-drängungsmaßnahmen zu widerstehen, hatte er sich seinen kleinen trag- und klappbaren Computer mitgenommen, um wenigstens den Versuch zu unternehmen, noch ein wenig zu Tuendes zu erledigen. Er hatte dennoch an einem Tisch Platz genommen, an dem ihm nichts von dem angenehmen Gewusel an diesem Bereich dieses Nœud routier, dieser immerzu rasenden Verkehrsknotenschleife Quai des Belges verborgen blieb. Der kleine weiße Rechner erregte zwar geringes, eher naserümpfendes wie über seine, im Land inconvenante, unschicklich oder ungehörig große Voiture, aber schließlich doch Aufsehen. Der den Pastis servierende Kellner bat, einige Fragen dazu stellen zu dürfen. Die Bitte kam ihm nicht ungelegen, war das doch eine günstige Gelegenheit, nicht arbeiten zu müssen. Er bejahte, klappte wie beiläufig den kleinen angebissenen Apfel auf und schaltete ihn ein. Den Garçon de café interessierte die Qualität der Bildwiedergabe, denn er denke seit einiger Zeit darüber nach, sich trotz des hohen Preises eventuell auch einen solchen Rechner zuzulegen, denn man höre schließlich Wunderdinge. Er suchte kurz in seinem Bildarchiv nach einer geeigneten Vorlage, die auch feine Farbabstufungen demonstrierte. Es war seiner beruflichen Tätigkeit gemäß, ein zeitgenössisches Gemälde zu zeigen. Beide plauderten noch ein Weilchen, bis der Serveur sich für die Auskunft bedankte und zugleich dafür entschuldigte, sich nun wieder um seine Gäste kümmern zu müssen. Kaum daß der Kellner abgedreht hatte, wandt vom Nachbartisch her sich höflich und dezent eine Frau an ihn, entschuldigte sich in bemühtem Französisch, dem die deutsche Ursprache zu entnehmen war, für die Ungebühr, einfach so in sein Innenleben hinein-gelugt zu haben, und merkte beiläufig an, dies getan haben zu müssen, da sie dieses Gemälde nun tatsächlich schon einmal gesehen und es seinerzeit bestaunt, wenn nicht gar bewundert habe in seiner protestantisch wirkenden, geradezu demütigen Aussage. Aber auch ihm selbst sei sie, stiekum ins Deutsche überwechselnd, bereits einmal begegnet.

Gil Schlesinger 1979, Acrylfarbe auf ungrundiertem Sackleinen,102 x 106 cm. Photographie © Jean Stubenzweig

Da ich befürchte, dies könnte eine längere Geschichte werden, deren Ausmaß ich noch nicht kenne und das ich schlichtweg ignoriere, ich bin doch nicht beim Rundfunk oder bei der Zeitung, die, wie bei mir üblich, gewaltiger als zur Hochtide am wienerischen Nordstrand, über die Deiche treten und die Lesegeduld überstrapazieren wird, setze ich sie morgen fort. Mir ist so nach Niedrigwasser und zudem befohlen worden, aus dem Haus zu gehen, auch wenn's nach wie vor weh täte im Gestell, ich hätte nämlich schlicht zu wenig Helle, vergleichbar mit den letzten Worten des Herrn Geheimrath und frei nach Friedell und Polgar, mit mehr Licht sei zu wenig Milch im Kaffee gemeint; dabei vermiest mir dieser Eutersaft, aber nur wenn er in den Kaffee gerät, jeglichen Genuß desselben. Nun ja, eben habe ich einen um die Ecke blinselnden Sonnenstrahl gesehen. Es zwingt mich schließlich niemand und nirgendwo hin, kein Canossa, und auch kein Spaziergang ist erforderlich, das Entenherz pumpt ja wieder, um mir Obst und auch Pastis und Wein zu liefern. Da setz ich mich eben auf eins der nicht nur für Schaukelstuhlgealterte, sondern auch für jüngere den Schatten Schätzende geignete Bankerl, auf das vor der Résidence d'été mit dem Sommer-Tucholsky oder auf das vorm Teich, in dem die Karpfen des Weihnachtsschlachtens harren.
 
Mo, 23.07.2012 |  link | (2434) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches


jean stubenzweig   (23.07.12, 14:47)   (link)  
Niedrigwasserbankerl
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