Annäherung.

3. Fortsetzung. «Aber entfernt hatte ich das Bild nie! Seit damals.»

«Entschuldigen Sie — sind Sie es wirklich? Fadila? Sie haben mich gesucht? So wundervoll das ist» — ich verfiel völlig gegen meinen Willen in eine fast unzumutbare Dümmlichkeit — «aber weshalb?»

Es war, als ob Vater Zeus statt eines seiner blitzenden Speere eine seiner schönen Töchter vor mich hingeschleudert hätte, um einen Fehler der Weltliteratur und des mythischen Theaters zu korrigieren. Als ob er das richtige Licht eingeschaltet hätte. Auf einmal sah ich genau — im Bruchteil einer Sekunde war alles Blut aus dem Gesicht entwichen. Der lange, schlanke Hals trug einen Kopf, der wieder zurückgekehrt war ins Reich der Bildhauerei. Das war keine Haut mehr, es war Elfenbein. Winckelmanns Antikenideal hatte gesiegt. Alle Tiefe hatte sich in der inhaltlosen Form aufgelöst. Oder war das zuvor schon so, und ich hatte es im Düsteren nur nicht gesehen? Auf jeden Fall sieht das Gesicht aus wie der definitive Nachweis dafür, daß neuerlich jedwedes Leben aus der Kunst gewichen ist. Das Leben gehörte also wieder sich selbst. Doch dann kehrt es phasenweise wieder zurück in die Skulptur. Es beginnt am Mund und setzt sich zuckend in den Bereich der Augen fort. Ich meine, etwas Wässriges darin zu sehen.

«Warum tust du das, Didier? Weshalb tust du mir so weh? Ist es so schlimm, war ich so böse dir gegenüber, daß du dieses mir tun mußt?»

Was für ein miserables Stück. Und offensichtlich war doch wieder Leben in die Kunst gefahren. Der Sprachperfektionismus war dahin, das Korsett löste sich auf. Ich spüre, wie ich meinen Kopf wieder an die Luft bekomme. Doch weshalb war sie traurig gestimmt? Ich hatte ihr doch nichts Übles angetan. Sie war schließlich damals diejenige, die mit ihrem schönen schwarzen Krieger nach Spanien an den Urlaubsstrand fuhr und mich Schmachtenden in die deutsche Wirklichkeit zurückstieß. Doch nun spüre ich, daß ich tatsächlich etwas nicht ganz Korrektes gesagt haben mußte.

«Ich bin mir durchaus im klaren, daß du während unserer Trennung nicht abstinent warst. So seid ihr Männer, und dabei bist du sicherlich Mann. Doch daß du mich mit den Namen deiner Liasion ansprichst — c'en trop ! Allerdings es ehrt mich, daß du offensichtlich innerhalb meines Blutes geblieben bist. Jedoch — so gleichklingend sind die Namen Fadila und Naziza nun doch auch wieder nicht, daß du nicht hättest ein kleines Maß an Feingefühl beibehalten können.»

Hatte ich mich wirklich geirrt? Es war nicht Fadila. Und jetzt, im besten Sinn des Wortes, bei Licht betrachtet: Es wäre ja mehr als kitschig, würde diese Frau mich nach zwölf Jahren sozusagen abholen. Aber wer? Und richtig: Fadila sprach ja kein Wort Deutsch. Wenn es mit meinem Französisch hakte, weil ich es als Kind ebensowenig mochte wie das mütterlich verordnete Klavierspiel, schon aus Trotz dem väterlichen Russisch zugeneigt war und mich auch später mehr im Geschriebenen bewegen sollte, sprach ich, wenn ich nicht weiterkam, einfach englisch, und sie antwortete französisch. So lief es denn passabel, das Gespräch über Literatur und Welt, da ich doch das eine ums andere Mal peinliche Ausspracheprobleme hatte, auch aus Bequemlichkeit und weil sie es zuließ, zunehmend Englisch und Französisch mischte. Und dennoch waren es mehr als erspriesliche Unterhaltungen gewesen. Aber sie konnte unmöglich in dieser Zeit so gut Deutsch gelernt haben. Obwohl: zwölf Jahre? Wer weiß, was seither geschehen war? Vielleicht hatte sie ja mit einem Deutschen oder Schweizer das Kopfkissen geteilt. Es gibt ja genügend, die herüberfahren, um sich hier sattzuessen. Beispielsweise in diesem sehr feinen Restaurant mit dem typisch französischen Namen Mungo Park, in dem ich mit ihr essen war. Wo ich vor lauter Begeisterung — und vielleicht oder auch mit Sicherheit auch ein wenig großspurig — dem Kellner sämtliches Kleingeld in die Hand geschüttet hatte, das sich in meinen Taschen immer ansammelt, da ich grundsätzlich mit Scheinen bezahle, weil ich die aus den aus den Mündern herausratternden Zahlen nie verstehe. Da kommt einiges zusammen. Er ist recht eingeknickt, dieser aufrichtig freundliche Gastgeber, der an unserem prachtvoll großen runden Tisch für uns beide immer ein wenig gelöster war als an den leicht höher dimensionierten Hockern der anderen Gäste. Wahrscheinlich war er froh, mal jemand anderen bedienen zu dürfen als diese unangenehmen Pfeffersäcke aus dem Osten. Dafür hatte Fadila die Augenbrauen bedrohlich nach oben gezogen. Fast ebenso abfällig wie beim Anblick meiner fetten Voiture. Also ist mein Gedanke schon leicht abwegig, sie auf einem solchen Kissen zu vermuten, von dem mir mein guter alter Grigorije einmal versichert hatte, auf ihm lerne man fremde Sprachen am schnellsten. Doch wer weiß? Vielleicht wurde aus der Not eine Tugend. Und nun hat sie sich der Tugend wieder entledigt und trägt wieder die leichte Baumwolle ihres tatsächlichen Wesens?
Aber, ach was, auch nach zehn Jahren spricht doch niemand das Deutsch einer Auslandskorrespondentin. Doch wer weiß? Ich sollte nicht von meiner Minderbegabung ausgehen. Außerdem könnte es ja tatsächlich auch Fatima sein, die hier vor mir sitzt. Die schien mir schon eher in Richtung des Gutsituierten orientiert zu sein als Fadila.

«Also nicht Fadila. Gut. Dann sagen sie mir doch endlich, wer sie sind. Ich bin nicht willens, diese Schmierenkomödie weiterhin mitzuspielen. Sie sind, das sei gerne zugestanden, eine schöne, eine durchaus reizvolle Frau, und ich gebe zu, daß sie dem Schönheitsbild angehören, daß mir die Sehnsüchte oder die Gene oder das Schicksal oder sonstwas im Lauf der Jahrzehnte zurechtgemalt oder hingetöpfert oder was auch immer haben. Aber unter diesen Umständen kann ich nicht einmal entfernt daran denken, daß ich in einem Film von Rohmer sitze. Ich sitze in einem dieser vielen schlechten deutschen Filme, die gekennzeichnet sind von der Dramaturgie des dualistischen Prinzips, sozusagen der Eingesichtigkeit des Mediums hierzulande. Es reicht. Entweder sie rücken jetzt mit ihrer schönen Sprache raus, oder ich rücke sie. Hinaus. Durch die Tür.»

Ich gehe in die Küche, um mir noch einen Pastis zu holen. Doch als ich ihn eingeschenkt, Eiswürfel ins Glas getan und mit Wasser aufgefüllt, die nervös-maßlose Oberflächenspannung abgetrunken hatte, merke ich, daß er mir nicht schmeckt. Pastis schmeckt nur, wenn man gelöst, gut gelaunt ist. Wenn man im südlichen Sommer sitzt. Zumindest im Hirnkino.
Er schmeckte mir nicht wie diese gesamte Situation. Und am wenigsten gefiel mir mein Verhalten, meine Ängstlichkeit, in etwas hineingeraten zu sein, zu dem ich möglicherweise doch beigetragen hatte. Tatsächlich war ich ja ein Meister des Verdrängens. Immer wieder geschah es, daß ich mich an Widrigkeiten, die ich anderen Menschen ins Leben gesetzt hatte, nur unter äußersten Schwierigkeiten erinnerte. Interessanterweise kam jedoch nach meinem Um-Fall, wie ich meine Hirnabschaltung nannte, die mir vor vier Jahren diesen wahrhaftig unglaublichen Zustand des Neben-mir-Stehens und der Selbstbeobachtung bescherte, zunehmend mehr weit Zurückliegendes in mein Gedächtnis, teilweise sogar bis in meine verschüttete Kindheit. So wäre es geradezu absurd, daß ausgerechnet diese Quellnymphe nebenan nicht einen Jota Vergangenheit in mir wachrufen sollte. Es war also ein abgekartetes Spiel. Anderes war nicht möglich. Ich schiebe den immer noch dort stehenden Rollkoffer zur Seite, schütte den Pastis ins Spülbecken und gehe in die Kammer, um nach einer der Situation gemäßen Flasche Weines zu schauen. Ich benötigte jetzt etwas Kräftigeres. Vielleicht ein Schluck aus dem Südwesten, einen Madiran, mit dem man herrlich Krebse knacken kann. Vielleicht ja auch diesen Fall — der allerdings seltsamerweise begann, mich immer weniger zu beunruhigen. Obwohl es das doch sollte. Denn so gut kann eine Schauspielerin gar nicht sein, daß ihr alles Blut und jede Bewegung entfährt, nur weil man sie nicht bei ihrem Rollennamen genannt hat.
Bei allem Ärger, den sie mir bereitete, wollte ich dann doch nicht allzu unhöflich sein. Wäre es ein Mann, dann säße er längst vor der Tür. Nun, es saß aber eben kein Mann bei mir in der Wohnung, sondern eine Frau. Und was für eine! Ich gehe also quer durch den Flur, bleibe an der Tür stehen und will sie fragen, ob sie einen besonderen Wunsch habe, denn ich würde eine Flasche Wein öffnen. Da sitzt diese Statue. Nein, es war die Blutspenderin persönlich, Anadyomene, wahrhaftig, die aus dem Fruchtschaum des Meeres Emporgetauchte, die mich eingetaucht hatte. Still sitzt sie da, raucht unentwegt und blickt hinunter auf die Straße, auf die großstädtische Kreuzung, auf der es langsam ruhiger wurde. Ja, das war das Gesicht. An ein solches Gesicht soll ich mich nicht erinnern?!

«Ich möchte ein Glas Wein trinken. Sie auch? Haben sie einen besonderen Wunsch?»

»Oui. Jedoch es ist nicht die Zeit für Vin rosé. Wenn du das dachtest. Keine falschen Reminiszenzen an Toten Fisch, wie Du ihn nennst, auch nicht an Cocquillage. Und es ist auch nicht gekühlt. Meinen Gefühlen nach wäre ein schwerer Bordeaux der Wehmut gerecht.»

«Madame», entgegnete ich, den Kopf weltmännisch nach hinten werfend und die Götter der geistig Armen anrufend, «über dieses Erinnerungsvermögen verfüge ich noch! Das von einer Französin! Ein alter Bordeaux. Selbst wenn ich einen fände, was durchaus im Bereich der warmen Kammer läge, so benötigte dieser doch um einiges an Atem mehr, als ich zur Zeit habe.»

»Ah! Didier. Das sind doch nur diese Deutschen mit Portefeuille, die eine solche grande Cérémonie vollziehen. Vielleicht noch Anglais oder Japonais. Sie benötigen dazu jedoch eine Anleitung für den Gebrauch, die übertragen ist von diesem französischen Händler, der Savoir vivre à la français in feines Papier geschrieben hat. Wir Menschen nehmen es da nicht so genau. Unsere Besessenheit ist nicht von dieser rituellen Profanation des Wahren. Wir Menschen aus dem Süden sehen darin keine Compensation für eine Langeweile, die in uns ist. Wir beten Wein nicht an, wir trinken ihn. Hat er eine Stunde, wird er sich mit Lust in unsere Capillaires begeben. Ob aus Bandol oder aus Bordeaux.»

«Ich möchte aber nicht einmal eine Stunde warten.»

»Jeder Wein nimmt Luft und genießt für uns seine gewonnene Freiheit, wenn er hinausdarf aus seinem Verlies. Dann er wird sich dir en permanence in einem neuen Kleid zeigen. Du magst diese schillernden Gewänder der zu trinkenden Düfte. Ich weiß es.»

Sie hatte mich schon wieder rhetorisch in die Ecke getrieben. Woher hat sie das bloß. Aus der Banlieue ist die nicht. Klar. Bei diesem Deutsch. Papierdeutsch. Nein, Bühnendeutsch. Nun gut, sie könnte ja auch was Deutsches in der Familie haben. In diesem Mischlingsland ist alles möglich. Vielleicht tatsächlich Elsaß? Aus dieser Gegend, aus dem Randlothringischen, kommen zwar meine Ahnen, zumindest mütterlicherseits, doch ich kenne niemanden dort, da die letzten um 1700 davongelaufen sind oder wurden, sieht man mal von ein paar Künstlern ab, die sich dort eingekauft haben. Doch Familie?
Ich beharre auf meiner Unhöflichkeit und setze mich über ihren Bordeaux-Wunsch hinweg. Einen Madiran finde ich nicht, aber dafür einen aus der Gegend von Nîmes, den meine Bedürfnisse annehmen. Und vielleicht eher ihrem Wesen entspricht. Seltsam genug, daß diese Frau nach Bordeaux verlangt. Dieser Wein aus dem Süden war zwar schlicht, aber stärkend. Das war es, was ich wollte angesichts der offensichtlich bevorstehenden Rodung des wild durcheinandergewachsenen Mischwaldes meiner Erinnerungen. Es war ein Wein, der sich innerhalb von ein paar Minuten auffächern würde und auch nach dem Hinunterschlucken noch etwas Charakter beibehielt. Sie riecht erst gar nicht daran und nimmt sofort einen kleinen Schluck, den sie mit einem verhaltenden Achselzucken und dem überzogenen Abspreizen der — langen, schlanken — Finger beider Hände kommentiert.

«Du warst schon zuvorkommender, Didier. Als du mir den Hof machtest, meinte ich, du unterschiedest dich von anderen. Bereits Deine Briefe waren außergewöhnlich. Doch damals wußte ich noch nicht, daß die geschriebene Selbstdarstellung deine Profession ist, und es schmeichelte meiner Liebe zur Sprache, durchaus auch mir. Und dein Heiratsantrag galt wohl in erster Linie dir selbst als mir. Nein. Ich werde ungerecht. Das möchte ich nicht. Deshalb bin ich nicht gekommen. Du hattest deine Höflichkeit nicht aufgegeben, nachdem du mich erobert hattest. Maman spricht immer davon, und Papa vermißt dich und die Gespräche mit dir sehr.»

Es war zum Auswachsen. Woher hatte sie nur solche Details? So etwas kann Phantasie allein nicht gebären. Das wären der Zufälle zuviel. Profession. Nun gut, das kann ihr jemand erzählt haben. Dazu bedarf es keiner intimen Kenntnisse. Aber Briefe! Daß ich ein leidenschaftlicher Briefeschreiber bin, der in ihnen Gefühle zu lenken weiß, das zu wissen erfordert es schon einer Quelle, die in nächster Nähe entspringt. War sie eine dieser vielen Frauen, mit denen ich regen schriftlichen Austausch hatte, mich ihnen aber nie persönlich zu nähern gewagt hatte in meiner fast panischen Angst vor einer möglichen Bindung, die sich in ständiger — unfruchtbarer — Auseinandersetzung mit dem Wunsch nach Familienglück befand, begleitet von oft stündlich die Richtung wechselnden Gefühlsausbrüchen. Das könnte einiges erklären, denn in die oft buchseitenlangen Schreiben sind immer unendlich viele Details meines Lebens eingeflossen, wenn auch wie ein Rosé, wie er durch das Zusammenschütten von Rot- und Weißwein entsteht. Solchen Frevel hatte ich zumindest schon beobachtet. Manchmal fand er auch in meinem Kopf statt. Vermutlich wußte ich immer bereits im Vorfeld solcher meist über Anzeigen oder auch schon mal weltweitweb zustandegekommenen Bekanntschaften, daß es immer bei einer virtuellen Annäherung bleiben würde — als ob man es dem Friseur erzählte: sich selbst eben. Mittlerweile schulen sie ja schon die Friseurinnen zu Hilfskräften der Frauenhäuser um, da die Erfahrung gezeigt hat, daß dieses Erzähl's doch deinem Friseur ein Treppenwitz der Psychologie ist. Aber wer macht denn Menschen Heiratsanträge, die er nicht kennt?! Andererseits: Wenn man von vornherein weiß, daß man den Antrag in die Tat umzusetzen nicht beabsichtigt. Aber nein. Soweit würden meine Gefühlsausbrüche, die oft genug das Denken außer Funktion setzten, dann doch nicht hinreichen. Im Bett, umschmeichelt von der Zärtlichkeit des warmen und weichen Körpers, beim heranfliegenden kleinen Tod im Chiffongewand, kurz bevor der alles abschaltet, dabei ja. Wer weiß, vielleicht hatte mich solches vor dreißig — oder waren es fünfunddreißig? — Jahren gar in den Stand der Ehe versetzt. Und zumindest einmal habe ich solche Peinlichkeiten auch herausgefordert.
Aber ich hatte auch Prügel bezogen dafür, im härtesten Sinne dieser ja an sich ja rein verbalen Tat. Eines Abends hatte es geklingelt, und ich hatte, zu einer Zeit, als ich noch Menschen ohne Voranmeldung einließ, arglos die Wohnungstür geöffnet. Das Resultat war ein Faustschlag ans Kinn. Doch nicht dieser hatte mich umgehauen, sondern das anschließende, bis in die frühen Morgenstunden andauernde Verhör. Damals ergab es sich, daß ich wohl jemandem besagten Antrag gemacht haben mußte. Vermutlich unter erheblichem Einfluß staatlich geförderter Drogen sowie einem massiven Anflug präejakulativer Glückshormone. Und diese Empfängerin meiner versammelten Ausschüttungen hatte einer kurzen Notiz im Kulturteil der örtlichen Zeitung entnommen, daß in einem altehrwürdigen Konzertsaal eine Ehelichung zwischen Risacher und Reichel stattgefunden habe. Entweder sie hatte nicht richtig gelesen, oder es war ihr lediglich zugetragen worden, vielleicht sogar bewußt entstellt. Auf jeden Fall war die komplette Meldung untergegangen oder nicht korrekt bei ihr angekommen. Denn der war zu entnehmen, daß es sich bei dieser Festlichkeit um eine Art Performance im Rahmen einer Ausstellung handelte, bei der zwei Männer einander das Ja-Wort gegeben hatten — ein zu Beginn der achtziger Jahren eher unvorstellbarer Akt bayerischer Liberalität, zudem noch innerhalb eines staatlichen Residenz-Gemäuers. Aber es war ja auch eine eher spontane Festivität einer Handvoll fröhlicher Künstler, die den des falschen Parteibuches wegen ewigen Professorenanwärter mit dem Feuilleton verbandelten und letzteres zugleich mit einer Nottaufe aus Knoblauchöl ins katholische Zwangslager konvertierten. Mit so etwas kam man damals in die Zeitung. Die Dame, der ich die Ehe ins Ohr geraunt haben muß, hatte einen zwei Personen umfassenden, ausgeprägt männlichen Volksgerichtshof mitgebracht gehabt. Ich hatte es überlebt. Allerdings nicht meine Beziehung zu meinem reizenden Besuch, der verängstigt in meinem Schlafzimmer ruhigere Zeiten herbeigesehnt und dann die Flucht ergriffen hatte. Lange wurde ich von ihm demonstrativ ignoriert, wenn ich in der Hochschule neuerliche Nähe suchte. Möglicherweise hatte ich auch ihr gegenüber eigentlich Haltloses geäußert. Sie hat dann ihr Heil in einer Ehe gesucht, die sehr bald heillos werden sollte.
Doch es lag alles sehr lange zurück. Seit damals, nach diesem eher unliterarischen Sturm- und Drang begann mein Leben sich in stillere Gewässer zu kanalisieren, weitab von irgendwelchen Gemeinsamkeiten. Von Ehe wurde folglich eher weniger gesprochen. Und schon gar nicht mit meinem derzeitigen Besuch. Daran würde ich mich doch wohl erinnern.

«Versuchst du dich zu erinnern, Didier? Es hat den Anschein, daß ich dir doch Unrecht tue und du die Vergangenheit doch nicht ohne weiteres aus deinem Gedächtnis hervorrufen kannst, daß du doch gelitten hast, wie man mir das überlieferte. Dann bitte ich dich um Verzeihung. Dann bitte ich dich, mir zu helfen, auf daß ich dir helfen kann.»

»Wie war noch Ihr Name? Xanthippe? Wer hat sie in eine keifende Sozialelfe verwandelt? Oder sind sie von Hause aus eine. Wollen wir hoffen, daß aus diesem Kübel übelriechender Sülze, den sie über mich ausgekippt haben, schiere Wahrheit nachfolgt, und nichts als das. — Fürwahr, ich denke über meine Vergangenheit nach, und ich bin auch bei einem vermeintlichen Heiratsantrag. Doch nicht bei einem, den ich ihnen vorgelegt haben könnte. Aber sie wollen mir ja helfen. Vielleicht hatten Sie mir ja seinerzeit die grobschlächtigen Knaben geschickt, die aus mir einen Verprügelten machten?» Obwohl ich den Kopf abrupt ebenfalls in Richtung Straßenkreuzung gewandt hatte, als ob die Lösung dieser Rätselei dort läge, spürte ich, daß das Wasser wieder stieg. In ihren Augen und mir bis zum Hals. Ich versuchte, wieder im Vergangenen zu fischen.

«Du sprichst in Rätseln. Wie kommst du auf solch ein schlechte Idee? Wie könnte ich Dir prügeln.»

«Verflucht noch eins! Doch nicht sie. Ich denke nicht daran, an sie zu denken, wenn es Prügel gibt. Ach, was rede ich da für ein Zeugs. Außerdem war die Mordbraut blond. Obwohl, blond giftet — bei euch liegt solches ja näher, Ihr habt ja die Fatwa, die ihr unterm Shador ausbrütet. Ich rede wirr. Sind sie überhaupt Muselmanin?»

«Didier. Es ist genug. Du bist Unflat. Doch ich will nicht zu sehr konsterniert sein. Du weißt es. Oder vielleicht weißt du es nicht und spielst nicht. Aber du bist empörend unangenehm. Früher hättest Du mir gegenüber dich nicht so geäußert.»

«Ich spielen?! Ich bin unflätig? Na gut, das mag sein. Ich bin stinkesauer, wenn Sie das verstehen, Madame. Wie war noch der Name. Ach ja — Nazim.»

«Nazim ist ein Männername, den du nur deshalb kennst, weil er zu einem Dichter gehört. Nazim Hikmet. Sonst weißt du nichts von Türken. Vielleicht noch, daß sie uns, daß sie sehr viele Armenier getötet haben. Das wollen sie nicht wissen, und du willst nichts anderes wissen von ihnen. Das weiß ich. Bon. Ich aber bin immer noch Naziza und bin aus Frankreich. Maintenent, eh bien. Pah!»

«Ich wollte gerade sagen: Naziza und französisch. Aber Sie sehen tatsächlich so aus. Man könnte gerade meinen — wie aus Marseille herausgeschnitzt.»

Ein Ruck geht durch ihren Körper. Dann rüttelt es sie durch. Sie reißt ihre Augen auf und holt tief Luft. Habe ich etwas besonders Schlimmes gesagt? Ich bin mir dessen nicht bewußt. Oder bin ich einfach nur zu rüde. Vielleicht sollte ich mich doch etwas mäßigen. Denn es scheint immer offensichtlicher, daß sie nicht hier eingedrungen ist, um mich zu meucheln.

«Du erinnerst dich also doch. Du bist dégoûtant. Du willst mich niederringen.»

«Madame Naziza — ein schöner französischer Name. Quelle nom! Bien sûr! Entschuldigen sie, mein Französisch lebt innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland, ist also schlicht und leblos. Doch nicht ich habe die Absicht, sie umzubringen, sondern ganz offensichtlich wollen sie mir den Garaus machen. Doch jetzt mal die Späßchen beiseite: Was ist so widerlich daran, sich an Marseille zu erinnern? Ich liebe diese Stadt. Sie ist die schönste Stadt in diesem an Schönheiten wahrlich gesegneten Land. Es trifft zwar zu, daß Gott Franzose gewesen sein muß. Und als solcher Katholik. Nun gut, bei der Gründung von Marseille haben ihm Allah und auch noch ein paar heidnische Kollegen zugearbeitet. Wobei mir ansonsten Herr Gott oder wie er auch immer heißen mag, eher am sonstwo vorbeigeht. Ich habe als bestimmte Werte ignorierender, dafür aber die Durchrassung leidenschaftlich befürwortender Mensch also alle guten Gründe, mich sehr gerne an diese Stadt zu erinnern, in die ich zudem so oft fahre, wie es nur irgend geht.»

«Du warst in Marseille?» kommt es leicht gequält aus ihr. «Du warst in Marseille und hast nicht nach deine Frau gesucht?»

Ihr Deutsch wurde zunehmend unpräziser. Sie mußte sich in einer Krise befinden, die ihr die Kontrolle über sich nahm. Auch sank sie zunehmend in sich zusammen, schluckte andauernd, rauchte bei weitem nicht mehr mit dieser souveränen Gestik. Alles nur aufgesetzt. Isaac — oder wer auch immer das ausgeheckt hat —, ihr Scheißweiber aus Paris habt mir eine Élève du conservatoire geschickt. Sollte ich jetzt wieder Klassiker deklamieren und ins Krankenhaus fahren. Nein. Das ging zu weit. Hättet ihr mir doch wenigstens eine Tigerin geschickt, von der ich mich mit Wonne auffressen lassen würde. Nun sitzt da ein zu spät in die Schauspielschule, etwas in die Tage gekommenes Mädchen und spielt, natürlich, schlecht, kriegt ihre Rolle nicht in den Griff. Isaac! Wo sind sie, die ihr mir schon hättet schicken können, wenn ihr Euch schlapplachen wollt — und mir auch ein bißchen was übriglassen können dabei: diese Ariane Ascaride, diese Béatrice Romain, alle diese wunderbaren erwachsenen Frauen, diese Championnes. Wenn die auch trotzdem in ihrer Heimat einen noch ausländischeren Regisseur mit französischem Paß heiraten müssen, um wenigstens ab und zu eine interessante Rolle zu kriegen. Warum habt ihr mir die nicht gesandt?! Und nun sitzt da so ein Stückchen Malheur und wird völlig aus seiner Rolle getragen.
«Sagen Sie mir mal, Madame Nizza.» Ich war mir im klaren, daß ich platt und immer dämlicher wurde, aber ich mochte nicht weiter nachdenken, weil aus der Actrice ein schlichtes Mädchen mit Ambitionen geworden war.

«Madame Marseille, s'il vous plait, Monsieur! Wenn schon, dann lege ich darauf Wert. Du selbst hast gerade die Marseillaise gesungen und nicht die Nazzaise. Wenn mir das auch zustünde. Auch mußt du mich nicht in der dritten Person ansprechen. Wir haben mit der Marseillaise die Ehefrau als dritte Person gemein mit dem Adel unter die Guillotine gesungen.»

Die Bühnensprache war endgültig dahin, aber sie war offenbar wieder zurück in ihrer Spiellaune zu Beginn des Stückes. Mußte ich schon wieder losrennen, um zu retournieren? Hatte sie mir lediglich ein Verschnaufpäuschen gegönnt und hetzte mich nun wieder los? Das war doch nicht auswendig gelernt, was mir da ums Hirn flatterte. Das war ja, als ob die Lastwagenfahrer den Point-ronde lahmlegen wollten. Und jeder, der die Verhältnisse auch nur ein wenig kennt, weiß, was es heißt, wenn die mal anfangen, Flugblätter zu drucken. Ein Franzose regt sich ja zunächst erstmal über nichts auf. Bis er was hat, über das es sich aufzuregen lohnt. Dann legt er los. Und wenn er dann die Aufforderung zum Kampf gedruckt hat, dann ist wirklich was los. Dann geht eben nichts mehr. Hier bei uns regt man sich nur auf und tut dann doch nichts. Man wischt sich mit solchem Papier doch nicht einmal jemand den Hintern ab. Hier schimpft man nur. Der Tabakwarenhändler ist permanent am Schimpfen auf diese Franzosen, weil man wegen dieser ewigen Streikerei schon seit zwei Wochen kein BIC-Feuerzeug mehr bekommt. Oder Käfer oder etwas weniger preistreiberische Hochkostverkäufer, weil's keine kleinen Gläschen mit dem Senf von Maille gibt. Alles steht auf der Straße. Im immobilen LKW. Hochdramatisch. Also, Madame singt die Attacke. Aber vielleicht nutzt es was und sie verrät mir bei dieser Gelegenheit, wer sie entsandt hat, mich zu füssilieren, zumindest in die Nervenklinik zu absentieren. Denn allzu lange würde ich das nicht mehr durchhalten. Zumal es für meine Schlafgewohnheiten sehr spät war und ich mich eigentlich auf meine gemütliche Liege gefreut hatte und vielleicht auf Arte einen schöneren deutsch-französischen Film als diesen hier erleben könnte. Es sah jedoch nicht danach aus. Und zu essen würde ich wohl auch kaum etwas kriegen.

«Á propos gesungen. Ich habe dir etwas mitgebracht. Eine Frau, die immer Zweitfrau war neben mir.»

«Das fehlte mir gerade noch. Madame Naissance ...»

«Didier!» Jetzt wurde Sie laut.

«Also gut, ich gebe mich geschlagen, zumindest in diesem Punkt. Naiza. Klingt aber auch schön. Und bekannt kommt es mir auch vor.»

Sie schüttelt den Kopf und stößt dabei unwirsche Laute aus, die phonetisch vermutlich in nordafrikanischem Sand wurzelten. «N-a-z-i-z-a — d'accord?!»

«Meinetwegen. Aber ich brauche keine zwei dieser Sorte. Sie reichen mir völlig.»

Sie greift nach unten in ihre korbgroße Tasche, schlichtes, dunkelblaues, weiches Leder, vermutlich vom Kalb, Schweinernes wäre hier wohl unangebracht, und zieht etwas heraus. Es ist eine CD. Es ist Enzo Enzo.

Das war ein Schlag in die Herzgrube. Das war entschieden zuviel. Aber sofort hält die Klarsicht wieder Einzug: Auch das konnte man ihr eingeimpft haben, man sie bereits damit versorgt haben, mit dieser Frau, die eine Musik komponiert und dazu auch singt, die zwar nicht unbedingt meinem Geschmack entspricht, aber Texte schreibt, die konträr zu diesen barmusikähnlichen Harmonien stehen. Um dem Hintersinn auf die Spur zu kommen, hatte ich mir die Mühe gemacht, ein paar dieser im Begleitheft abgedruckten Verse zu übersetzen. Seitdem war ich hingerissen von dieser zudem mehr als ansehnlichen Russin. Oder Polin? Die Biographen können sich nicht einigen, zumal Franzosen sowas nie so genau nehmen. Dem Namen nach könnte sie auch aus Bulgarien stammen, wie Sylvie Vartan, dieser zarten Slawin also mit Pariser Paß und französischer Mutter und der melodischen Stimme, die von der Liebe als einer Art Alkohol erzählt, vom kleinen quietschenden Fahrrad, dem Pariser Zubringer, der auch Hosenträger sein kann, von der Ungeniertheit, und alles in dieser Musik, die en detail gut in Jimmy's Bar im Frankfurter Hessischen Hof zu passen schien, wohin aufstrebende Grünen-Politiker ihre Eroberungen ausführten. Herrlich fies. Und solches brachte mir meine Narzisse mit. Jetzt war ich vollends verwirrt — ich nannte sie schon meine Narzisse.

«Jetzt fangen sie aber an, unfaire Mittel einzusetzen. Enzo Enzo ist eine, ist die Narzisse, Naziza.»

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Mi, 17.12.2008 |  link | (2698) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage















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