Ein Gesicht

1. Fortsetzung. «Aber diese Frau hat er noch nie gesehen.»

Mit brüchiger, wackeliger Stimme fragt er: «Wer sind denn sie? Was machen sie denn hier? Und wie kommen sie hier rein?!»
«Du erkennst mich nicht?» Ihr geradezu überpointiert gutes Deutsch ist eindeutig französisch gedacht. Ist er im Kino? Will das Mutterland ihn heimholen, ihn gar aufs Alter hin an der Heimatfront kämpfen lassen? «Du erkennst deine Frau nicht?»

Aus dem gleich bei Eintritt in die Wohnung aufkommenden Unbehagen wird langsam eine Bedrohung. Allen seinen Mut zusammennehmend tastet er ins Regal, um den dort verborgenen Schalter für den lichtstarken Deckenstrahler umzulegen.
«Laß es sein. Später», flüstert es, allerdings vernehmlich.
Nie oder nur höchst widerwillig nimmt er Befehle entgegen. Wenn ihn jemand bittet, hat er keine Probleme, sich selbst zu kasteien. Aber Forderungen tun sich bei ihm äußerst schwer mit der Landung. Dennoch zieht er seine Hand zurück.
«Also gut. Nochmal: Wer sind sie?« setzt er fordernder, aber weiterhin unsicher nach.
«Muß ich das tatsächlich wiederholen? Ich bin deine Frau.» Sie verschränkt die Arme unter der Brust. «Und es mutet seltsam an, daß du sie nicht erkennst. Oder erkennen willst.» Sie zündet sich erneut eine Zigarette an. Es könnten Roth-Händle sein. Nein, doch wohl eher Gauilloises oder Gitanes. Ja, Gitanes. Ich rieche meine in Frankreich gerauchte Marke. Die deutsche Gitanes stinkt entsetzlich europäisch — Régie française, hergestellt irgendwo in Benelux, für diejenigen, die das europäisch Einheitliche bevorzugen, als Bollwerk gegen die Restwelt. Oder ihre Lunge ein klein wenig langsamer asphaltieren möchten.

«Madame.» Er richtet sich etwas auf, da er mittlerweile zunehmend sicherer wird, daß es sich um den Anfang eines Schmierentheaterstücks handeln muß, wie sich bald herausstellen wird. Wer weiß, wer das ausgeheckt hat. Wahrscheinlich kommt Isaac gleich aus einem der vielen Staubmauselöcher gekrochen und stellt ihm ihre frühere Kollegin aus dem Théâtre du Soleil vor. Er baut sich auf und hebt an: «Die erste und einzige und auch letzte Frau, Ehefrau, wohlgemerkt, die ich hatte, wurde vor dreißig oder noch mehr Jahren durch einen Richter einer Stadt geschieden, in die ich nur gefahren bin, weil ich zur Anwesenheit bei einer Moralposse gezwungen wurde, die man seinerzeit Sühnetermin nannte, mit dem Irreparables wieder geflickt werden sollte. Und ich, soweit ich mich erinnere, auch von ihr. Das vermute ich mal. Denn ein Scheidungsurteil habe ich nie erhalten. Oder es ist im Desinteresse verschwunden wie die Gedanken an diese Ehe, die lediglich deshalb zustande kam, da die Gesellschaft sich nicht unter den Rock gucken lassen wollte, wenn man nicht mit ihr verheiratet war. Weshalb ich mich ja auch getrennt habe. Von der Gesellschaft. Und seither habe ich sie auch nicht mehr gesehen. Die Frau. Aber so dürfte sie sich auch wohl kaum verändert haben. Und selbst wenn sie zur Thalia mutiert sein und aus der Quelle Kastalia getrunken haben sollte», seine Stimme wird fester, das sich einstellende Bildungspathos gibt ihm Halt, «sehe ich noch immer keine Verwandtschaft.»
«Du gebrauchst nach wie vor viele Wörter. Aber ich liebe das ja. Dennoch muß ich dich korrigieren. Diese Quelle ist kein Jungbrunnen, in dem alte hitzige Köpfe baden. Ihr Wasser verleiht dichterische Hingabe. Und Begeisterung. Und die fehlt dir angesichts meiner. Papa Apoll wird das nicht mögen.»

Er ist weniger verärgert über diese Schlappe, als daß er sich wundert: Er kann sie nicht kennen. Solche Frauen kennt er nicht, die in den unterirdischen Geographien Alt-Griechenlands flanieren wie andere auf den Boulevards der Modezeitschriften. Er kennt allenfalls solche, die die immerselben Pfade der Kunstgeschichte kultur-, weil reflexionsfrei, aber repetiersicher rauf- und runtertrampeln. Ohne weitere Entgegnung geht er zögernd, aber dennoch und in dem Vorteil in ihre Richtung, sie verhältnismäßig gut sehen zu können, während er die dünnen vierzig Watt des milchigen Dänenklassikers an der Flurdecke im Rücken hat. Er sieht ein schlankes, markantes, ja interessantes Gesicht mit dem Teint der südlicheren Bewohner unseres Kontinents, die nicht nur kraft ihrer Intelligenz nicht in die Sonne gehen, um sich bräunen zu lassen. Ein solches Gesicht setzt sich nicht äußeren Strahlungen aus. Er spürt sie eher, als daß er sie sieht, diese unvergleichlich schöne «sanfte, olivfarbene Haut, die niemals braun, niemals rot wird und an welcher die Sonne, der Wind, der Regen und selbst das Alter machtlos vorübergleiten».1 Joseph Roth hatte mit seinem Lobgesang auf Lauras Schwestern zwar die schöne Arlesierin eliminiert, die er für eher herb, langnasig, schmalmündig, römisch-provençalisch hielt. Aber entscheidend ist dabei, daß in dieser zur schönen Avignonerin mutierten schönen Arlesienne «alle Rassen der Erde» vereint seien. Da sitzt sie also. Auf circa einen Meter an sie herangetreten, sucht er ihre Augen. «Wenn Sie gestatten, möchte ich jetzt doch Licht machen — um zu sehen, was der Thespiskarren hier abgeladen hat.»

«Hätte ich es bislang nicht gewußt, daß du es bist, jetzt wüßte ich es. Du sprichst wie ein bescheidener Fleurie, vielleicht auch nur etwas zu umfangreich. Aber das ist es, was wir Franzosen lieben. Wir sind in dieses pathetische Plastik vernarrt. Bei dir gerät es noch zur schönen Form, wenn du an die Rampe trittst. — Ah! was sage ich. Didier, nein, ich will dich nicht verärgern. Es geht auch ohne Scheinwerfer. Ich sehe dich gut. Ich muß nur die Augen schließen.»

Er gerät wieder ins Wanken. So unterläßt den nächsten Versuch, seinen Besuch bei Licht zu betrachten. «Gnädige Frau.» Im Ahnungsvollen fällt er endgültig in ein lückenfüllerisches Sprechgestoppele, auch wenn sie es gerade ironisiert hat, das ihm aber dennoch Gelassenheit vorgaukelt. «Was auch immer das bedeuten mag, es mag positiv sein, daß sie mich so verinnerlicht haben, daß ich zu Ihrem Innenleben gehöre, das sie mich blind am ehesten sehen läßt. Doch das, was ich mit geöffneten Augen sehe, entbehrt auch nur jeder Vorstellung dessen, wen ich vor mir haben könnte. Und wenn sie mir jetzt nicht auf der Stelle sagen, was mir die Ehre verschafft, dann können sie die Augen öffnen und die Tür schließen. Von außen.» Er setzt eine Pause, während der er ihr gerade ins Gesicht, in die Augen schaut. Sie sind schwarz, zumindest sehr dunkel. Mehr gibt das Licht nicht her. Er hört sein Herz im linken Ohr schlagen. Doch dieses Mal ist es kein Unbehagen. «Wenn ich es auch bedauern würde», fügt er hinzu, den Ernst untertönig überspielend.

«Es freut mich, daß du langsam zu dir kommst.»

«Halt, daß hier keine Mißverständnisse entstehen.» Er wird laut. Es fällt ihm ohnehin nicht schwer, laut zu werden. «Es kommt mir, und zwar hoch! Ich will jetzt verdammt nochmal wissen, wer sie sind, wie sie hier reingekommen sind und was sie, was erschwerend hinzukommt, von mir wollen! Diese Wohnung ist meine Wohnung, und sie sind unberechtigt in sie eingedrungen. Wie, das werden wir schon noch herausfinden.» Er redet sich in Rage, fügt allerdings sogleich beschwichtigend an: «Oder auch nicht.»

Denn der Ärger wird geschwächt, sobald er das Gesicht wieder ansieht. Es ist schön. Es ist geradezu erschreckend schön. Und nun ist es eindeutig. Jetzt sieht er es auch ohne Scheinwerfer, seine Augen haben es auch im Halbdunkel fest im Blick. Ja. Es ist dieses eine Gesicht.


Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Sa, 29.11.2008 |  link | (2073) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 

Den Zahn ziehen ...

Auge um Auge, Zahn um Zahn?

Allzu gerne wird von der jüdischen, der israelischen Rachementalität geredet. Man schiebt der jüdischen Religion dieses Gebot als Formel dafür unter. Aber vermutlich glauben es viele Israelis, viele Juden selber, daß es so ist, so sein muß. Vor allem hat es wohl den Arabern gegenüber Gültigkeit. Und die Araber meinen dann, sie würden nach jüdischen Gesetzen handeln. Es ist abstrus.

Auge um Auge ... Es geht um Rache. Falsch. Um Selbstjustiz. Oder Vergeltung. Oder auch — beides. Im Alten Testament steht von Rache nirgendwo was. Ich vermute ja auch, daß es sich dabei um einen Übersetzungsfehler handelt. Bewußt oder unbewußt. Das mag dahingestellt sein. Oder es verhält sich wie mit dem Koran, in dem ebenfalls (nach Gusto) ausgelegt wird. Vermutlich ist es so. Die Problematik ist allerdings auch über Jahrhunderte hin von den Gelehrten diskutiert worden. Doch die neuere theologische Forschung besagt, daß es sich in der korrekten Bedeutung um eine schlichte gerichtliche Anweisung zum Ausgleich von Schadenersatz handelt. Es geht dabei um das Zivilrecht, wörtlich Geldurteile, also um Rechtsstreitigkeiten, die mit Geldwert ausgeglichen werden. Einer, der geschädigt hat, soll geben. Im Original steht gib und nirgendwo nimm. Im höchsten Fall heißt es, einer, der geschädigt habe, soll. Der Judaist Reinhold Mayer verweist in seinem Talmud-Kommentar auf die ius talionis, auf diese uralte nomadischen Rechtssprechung, die ursprünglich die Angemessenheit einer Bestrafung forderte. Er schließt eindeutig, daß in der Rechtsprechung der talmudischen Zeit nur Schadenersatz infrage kam.[1] Also — nichts: mir den Schädel einschlagen, weil mein Cousin deinem das Haus in die Luft gejagt hat. So einfach ist das. Und hat dennoch solche Folgen.

Zudem ist das ja ohnehin so eine Sache mit der Bibel. Die gibt es ja als solche gar nicht. Zum einen erkennt der Mensch mosaischen Glaubens nur den ersten Teil des Buches, der von den Christen Altes Testament genannt wird, als Heilige Schrift an und spricht vom «Gesetz und den Propheten». Zum anderen besteht die Bibel als Ganzheit ja geradezu aus einer Bibliothek von Büchern, die durch die Jahrhunderte hindurch entstanden sind. Das gilt für das ganze «Buch der Bücher», also für das Alte wie für das Neue Testament.[2] Das ist das eine. Das andere ist: Die Geschichte der Israeliten ist ausschließlich aus dem Alten Testament übernommen worden. Kein außerbiblischer literarischer Beleg beziehungsweise archäologisches Zeugnis ist mit den Berichten des Alten Testaments eindeutig in Verbindung zu stellen. Dennoch gelten heute David und Salomon als historische Persönlichkeiten. Selbst ihre Herrscherzeiten, etwa um 1000 vor unserer Zeitrechung vor Christus — nach dessen Himmelfahrtskommando wir also auch noch unsere alltägliche Zeit berechnen — stehen fest.

So weit, so gut. Doch es gibt ja, wie das bei Mayer angedeutet ist, sehr viel ältere Kulturen als diejenigen, auf die im Alten Testament verwiesen wird. Gilgamesh beispielsweise zählt nicht mehr bloß zu den sumerischen Legenden, sondern es wird ihm eine historische Bedeutung zugerechnet, wobei auch seine Herrschaftszeit — 2700 vor unserer Zeitrechnung! — feststeht. Während also das Alte Testament und die mesopotamischen Legenden als Wegweiser der Altertumskunde gelten, ist den iranischen Überlieferungen, dem Avesta und der traditionellen Geschichte Persiens, der gebührende Wert bisher verweigert worden. Somit sind aus der Sicht der westlichen Forschung die frühesten Phasen der iranischen Geschichte in den Berichten Herodots gesammelt. Aber selbst dessen Berichte über die älteren Perioden der Iranier werden grundsätzlich übersehen. Das ist ja überhaupt ein Problem: Die Geschichtsschreibung besteht aus lauter Aussagen über Ereignisse, die durchweg weit in der Vergangenheit stattgefunden haben. Diese Ereignisse sind im allgemeinen einmalig und nicht nach Belieben reproduzierbar. Hier liegt der Unterschied zu den Naturwissenschaften. Während in den Naturwissenschaften versucht wird, Theorien zu konstruieren, die dann eine immer umfangreichere Gesamtheit von reproduzierbaren Erscheinungen erfassen, werden in der Geschichtswissenschaft aus den gegebenen Spuren und Dokumenten die einmaligen Ereignisse gedeutet. Dieser Vorgang ergibt hier, wie auch in der Kriminalistik, oft kein eindeutiges Bild. Daher spiegelt die Geschichte nicht die Wahrheit über die älteren Perioden, sondern stellt eine Kette von Hypothesen dar — siehe Kunstgeschichte! —, über die sich eine Gruppe der Forscher einig ist. Das ist die übliche Auffassung von der Geschichtstheorie. Der Autor des Beitrages, aus dem ich diese Erkenntnisse habe, meint, daß diese Art Beurteilung irreführend und oft irrelevant sein kann; sie kann oft von persönlicher oder gar politischer Motivation beeinflußt sein. Aber auch sonst steht heute die Geschichtsschreibung unter starkem Einfluß der Ideologie, Politik beziehungsweise des politischen Klimas.[3] Siehe die katholische Kirchengeschichte. Das ist zwar insgesamt eine Binsenweisheit, über die der einigermaßen Aufgeklärte also bereits verfügt, aber es sind hier ja lediglich erklärende, einleitende Worte zur Problematik.

Nur zu gerne wird das Alte Testament, die Bibel herangezogen, und alles andere fällt durch diese Raster. Oder der Koran. Manch ein kritischer Geist äußert auch schonmal: Was wollt ihr? Dieser Koran riecht noch nach Druckerei, noch nach frischer Farbe. Es ist ein Witz, was ihr erzählt. Und er ist teilweise abgeschrieben, quasi übersetzt aus den Bildern der Armenbibel, der biblia pauperum. Es ist wie mit dieser Geschichte vom Heiligen Gral — die Nähe zum Groschenroman ist fatal. Sie nennen es Romantik — La vie est un roman. Wie das Leben von Allah und Jesus und König Arthur und dessen Rundem Tisch, an den vor allem deutsche Politiker sich so gerne gesetzt (und von denen die aktuell regierenden bis auf eine allesamt ihren Eid auf den lieben Gott geleistet) haben.

Es hat ja alles angefangen unten im Süden. Da hat einer einen Kelch geklaut und ihn nach Frankreich gebracht. Und wieder andere haben ihn dann von anderen geklaut und nach England gebracht. Bis er in den Pyräneen eingegraben wurde. Ob darin wirklich das Blut von Jesus Christus war, steht in keinem von diesen Büchern, in keiner dieser Reisebeschreibungen mit viel Phantasie für Menschen, denen es daran mangelt.

Nichts als Spekulation
Im achtzehnten Jahrhundert ging man davon aus, daß Buddha ein aus Afrika nach Indien eingewanderter, bei den alten Ägyptern ausgebildeter Weiser gewesen sei: «qu'il se donna pour un autre Hermès, pour un nouveau législateur, et qu'il enseigna à ces peuples non seulement la doctrine hiéroglyphique des Egyptiens, mais encore leur doctrine mystérieuse.»[4] Es gibt einen Hinweis darauf, die Bilder von Buddha seien wie «un visage éthiopien et les cheveux crépus». Dann sind wir mit einem mal beinahe wieder in der Geographie der schönen Jeminitinnen. Auch wird die Buddha-Lehre mit der jüdischen Kabbala und der En-Soph-Lehre verglichen, diese Lehre vom Infiniten, vom Unendlichen. Und diese Diskussion über den ägyptischen oder indischen Ursprung der Philosophie zieht sich hinein bis weit in das 19. Jahrhundert.[5] Die ganze Industrie der Esoterik, im Ursprung mal geheimes Wissen, schürt dieses Feuer des Glaubens, um daran Geld zu verdienen. Fakten interessieren nicht. Der Wissenschaftstheoretiker Lutz Geldsetzer schreibt:

«Die spürbare Verunsicherung in den eigenen abendländischen Traditionen stimuliert ein weites populäres Interesse an allem Fremd- und Andersartigen. Dem weltüberspannenden Tourismus entspricht ein geistiger und stimmungsmäßiger Tourismus mit Neugier und viel gutem Willen zur Kenntnisnahme und zum Einleben in exotische Verhältnisse. Ersichtlich kommt dem in Indien und bei seinen geistigen Repräsentanten eine recht missionarische Kulturpropaganda entgegen, die mit modernen Werbetechniken einstige und auch noch andauernde christliche Missionstätigkeit in umgekehrter Richtung beantwortet.
Die Unzufriedenheit mit dem herrschenden realistischen Weltbild, der Verwissenschaftlichung aller Lebensverhältnisse und der Technisierung der Welt im Westen insgesamt motiviert zur Suche nach der Alternative zu alledem. Diese Alternative wird ersichtlich weniger in den eigenen in den Hintergrund gedrängten Traditionen des Idealismus, des ‹einfachen Lebens› und der ‹Nachfolge Christi› oder eines Franz von Assisi, und des handwerklichen und künstlerischen Umgangs mit den Dingen und der Natur gesucht, als vielmehr in meditativer Versenkung in höhere Regionen oder tiefere Schichten des Bewußtseins, in der Verweigerung gegenüber den Ansprüchen des Herkömmlichen oder in der schieren Untätigkeit, wozu indische Philosophie und brahmanische Weisheit frustrierte Abendländer einzuladen scheint.»[6]

Gerade das Indisch-Eingefärbte hatte während meiner studentischen Sturm- und Drangzeit ja Hochkonjunktur. Ich hab immer noch den Gestank der Räucherstäbchen in der Nase. Jede Jungfrau oder eine, die's nicht mehr sein wollte, hatte davon mindestens einen Karton in ihrer Kreuzberger oder Tempelhofer Bude gelagert. Daran waren Schopenhauer und, vor allem, Hermann Hesse nicht ganz unschuldig; wenn man den beiden auch zugute halten muß, als Rosinenkuchen mißbraucht worden zu sein. Über Nietzsche zu sprechen war ja strengstens untersagt, also las ihn auch brav keiner (oder heimlich). Ständig klimperte Hesses Glasperlenspiel oder sein Siddhartha irgendwo. Schwerst nervig. Mich hat das Zeugs eher in die Impotenz getrieben. Ich habe lieber bis morgens um sechs direkt neben Otto Schilys Kanzlei auf Beethovens Neunte Rock'n'Roll getanzt, bis die Freudenfunken der irdischen Götter auf der metallenen Tanzfläche stoben.

Und heute? Es ist dieselbe Merde, es hat sich nichts geändert. Versatzstücke, Rosinen herauspicken und daraus eine große, nicht nur Medienindustrie bauen. Und diese intellektuell Minderbemittelten saugen diesen Geistersatz begierig auf. Wie unsere Euro-Pampe. Und bloß nicht in die Tiefe der Ur-Küche greifen. Es könnte ja sein, daß was anderes dabei herauskommt als das, was in diesen Rezeptbüchern steht. Wahrscheinlich schmeckt das Original überhaupt nicht. Wie die Lieblingsitaliener der Deutschen, die ans Deutsche angepaßt kochen, die Deutschen aber glauben, es sei italienisch. Es ist eben so eine Sache mit dem Glauben. Es gibt ja auch genügend sogenannte Restaurants, bei denen es transparentgroß angeschrieben steht: Asiatische Küche — vietnamesisch, thailändisch, chinesisch. Manchmal steht dann noch darunter: Wiener Schnitzel. Und das klopfen sie dann aus dem Schwein heraus. Dabei gibt's schon in China hunderte unterschiedliche Küchen. Oder in Indien. Um näher am Thema zu bleiben. Ich hab mal während meiner Berliner Studienzeit bei einem Inder — ich bin ja auch schon infiltriert: als ob's eine einzige indische Küche gäbe! —, also, bei einem Inder, von dem ich nicht mehr weiß, wo er herkam, eine Zeitlang essen dürfen. Nach etwa zwei Wochen hab' ich so langsam was rausgeschmeckt. Weil das so scharf war, daß mir anfänglich die Flammen aus den Ohren geschlagen sind. Und nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, es also richtig gut wurde, ist er umgezogen. In die DDR. Wahrscheinlich hat er jetzt 'ne Softwarefirma in Bitterfeld. Oder in Goa. Und stellt Weichware für übriggebliebene Hippies her. Oder Yuppies. Europa- ach was, globalweit.

Küche oder Philosophie? Küchenphilosophie.
«Brucker — er ist der eigentliche Begründer der deutschen Philosophiegeschichte und hat sich 1742 dieser gewidmet —», so Geldsetzer, «Brucker kennt die genannten Quellen aus der Antike und meint, die besten Köpfe Griechenlands hätten es für notwendig gehalten, bei den Indern Weisheit und Tugend zu lernen — was in der antiken Literatur ja auch bezüglich der griechischen Vorliebe für die ägyptische Weisheit behauptet worden war.»[7] Jetzt ist es erwiesen, daß es keine Parallelen gibt zwischen einer Philosophie des Abendlandes und der indischen. Auch wenn man sich immer wieder darum bemüht. Doch die klassische indische Philosophie — die vedische Periode beginnt 2000 vor unserer Zeitrechnung mit dem Herrn! — ist nicht aus unserer Perspektive zu beleuchten. Das ist es, was immer wieder falsch gemacht wurde. Es entstand im Abendland kein vergleichbares Bewußtsein von einer Verantwortlichkeit oder Zuschreibung auch fernerliegender und späterer Verhältnisse. Und wo es geschah, etwa die Seelenwanderung oder bei Platon, dann geschah es erwiesenermaßen unter indischem Einfluß![8]

Im jüdischen Neuplatonismus findet die Seelenwanderung allenfalls in der Lehre vom Adam-Kadmon, dem Urmenschen, eine gewisse Entsprechung, der alle folgenden Geschlechter in sich vereinigt. In der christlichen Version in der Erbsündenlehre, nach der jeder Mensch in sich «den alten Adam» als Tatfolgenhypothek des ersten Sündenfalls wiederfindet. Das spätere Christentum aber hat sich schnell dabei beruhigt, daß Gott die Sünden der Väter nur bis ins dritte und vierte Glied bestrafen, Wohlverhalten aber in tausend Generationen belohnen wolle. So hat es zwar die schönen oder schlechten Umstände der Existenz des Einzelnen erklärt, aber die Verantwortung dafür Gott zugeschrieben. Die säkuläre Gesellschaft der Moderne aber hat auch den verantwortlichen Gott noch abgeschafft und zuletzt die Grundlosigkeit und pure Faktizität der menschlichen Existenz entdeckt. Sie feiert Freiheit und Spontanität und versteht sie als grund- und ursachenlosen Anfang. Und damit ist sie sehr weit davon entfernt, einen Gedanken wie den vom Karman nachvollziehen zu können.[9] Und deshalb wird das nix mit Siddhartha und seinen Nachfolgern auf Tele Dingsbums, dem Sender mit der Philosophie der nächtlichen bäuerlichen Nackheit, oder mit der Astrologieberatung im WDR oder so.

Gleichwohl sie stattfindet, die Karten- und/oder Kaffeesatzlesung, quasi im Öffentlich-Rechtlichen deutschen Fernsehen — direkt nach dem abendlichen Abschalten des Kinderkanals um einundzwanzig Uhr. Da mittlerweile auch deutsche Kinder kaum mehr früher ins Bett gesteckt werden, verinnerlichen sie nahtlos den Übergang vom Kult-Brot zum Kanal medial. Da ständig irgendeiner seine Schäfchen in die Unwirklichkeit plappert, besser: sie ins Trockene bringt und der letzte Kokolores-Betreiber dem nächsten die Türklinke in die Hand gibt, könnte man diesen Sendeplatz doch gleich den Kreationisten geben. Eine ehemalige Bildungsministerin (siehe den Kommentar von vert) hatte sogar gefordert, deren Lehre auch an deutschen Schulen einzuführen. Im Bayerischen Fernsehen heißt der Schwachsinn wenigstens noch Kanal fatal. Nur wird der glücklicherweise nicht ernstgenommen.

Es ist schon erstaunlich, daß die christlichen oder anderen in Deutschland ansässigen regierenden Kirchen dagegen noch nicht Sturm gelaufen sind. Aber wahrscheinlich fehlt ihnen das Protestpersonal. Oder sie sind sich darüber im klaren, daß sie es selbst sind, die Volksverdummung betreiben, und schweigen lieber, um nicht ausgelacht zu werden. Obwohl: Die richtig Armen im Geiste haben ja keine Angst vor Häme.

Und Nihilisten im klassischen Sinne dürfte es ohnehin keine mehr geben. Und bei diesem Begriff fällt man immer wieder gleich über diejenigen, die Nietzsche nur vom Klappentext oder von Büchlein wie Nietzsche zum Einschlafen her kennen. Und dann an Pissoirwände oder in ihre Internetpoesiealben schreiben: laut ihm sei Gott tot. Weil sie nicht gelesen haben, nicht haben lesen können, was er davor und danach geschrieben hat. Oder nachplappern, er sei ein Wegbereiter des Antisemitismus oder gar der Nazi-Ideologie gewesen. Jener Nietzsche, der erwiesene Pazifist und Atheist, Atheist aus Instinkt oder, wie Rüdiger Safranski ihn so treffend bezeichnet hat: Anti-Antisemit[10], weil er diese Kleingeister haßte, die sich mit ihren Balkongeranien ihren sehr eigenen Horizont schaffen, die nichts, aber auch gar nichts verstanden hatten und wahrscheinlich auch nichts verstehen wollten, denen ein knapper Satz als Konstruktion fürs Weltgebäude ausreicht. Ein Satz, der eigentlich in eine andere Richtung gedacht war, quasi eher für den Tiefbau. Und — er sollte ja nach Mamas Willen protestantischer Pastor werden — vor allem Freigeist war. Freigeist! Frei von allen Ismen und Ideologien.

Der Wille zur Macht! Obwohl das nachgelassene Hauptwerk sich längst als Fälschung erwiesen hat, also wider besseres Wissen, murmeln genügend – heimlich — national gesinnte Geistheiler diese magische Formel auch heute noch dem ungesunden Volkskörper ins Herz, die den Dauerwahlkämpfern Hitlers so recht kam wie ihrem teppichbeißenden Führer — wenn der überhaupt mehr gelesen hat als diesen halben Satz, der da komplett lautet: «Wo ich Lebendiges fand, da fand ich den Willen zur Macht.»[11] Ja ja. Sprache. Nietzsche meinte dazu, ganz nebenbei: «Die Sprache trägt große Vorurtheile in sich ...»[11] Ein paar Ver(w)irrte haben sich das vermeintliche Filetstück einfach herausgeschnitten und es als Faschiert's in die Volksküche gegeben. Und das passende Signet auf der Verpackung haben sie auch goutiert.

Faschiert's — Fasch ... fascis? fascisme?
Ja. Fascis, das Rutenbündel der altrömischen Liktoren, das zum Symbol der italienischen Arbeiterbewegung wurde, das sich zum Faschismus wandelte, der heute ständig falsch angewandte Begriff. Heute nennen sie jeden dahergelaufenen Arbeitsplatzvernichter Faschist. Also, Faschiertes. Das ist österreichisch. Paßt ebenfalls zur Geographie des Schreckens. Ich kann den etymologischen Zusammenhang leider nicht erklären. Ich vermute jedoch, daß es damit zusammenhängt. Es meint Hackfleisch. Haché. Also volksmundgerecht hachierter Wille zur Macht. Nochmal, da wir ja beim Thema sind, Nietzsche, quasi assoziativ: Das Gedankenbild besteht aus Worten, ist etwas höchst Ungenaues, es hat gar keine Hebel, um Bewegungen zu veranlassen — an sich. Nur durch Assoziation, durch eine logisch unzugängliche und absurde Beziehung zwischen einem Gedanken und dem Mechanismus eines Triebes (sie begegnen sich vielleicht in einem Bilde, zum Beispiel dem eines streng Befehlenden) kann ein Gedanke (zum Beispiel beim Kommandowort) eine Handlung hervorbringen. Es ist nichts von Ursache und Wirkung zwischen Zweckbegriff und Handlung, sondern dies ist die große Täuschung, als ob es so wäre![13]

Und damit ziele ich auch auf diesen Glucksmann, der in seinen Meisterdenkern geschrieben hat, «in makabrer Modernität sei Deutschland, kein Territorium, keine Bevölkerung, sondern ein Text und ein Verhältnis zu Texten, die lange vor Hitler aufgestellt» und verbreitet wurden. Die «Einigung durch Texte» sei einhergegangen mit der «Auflösung des Territoriums».[14] Und wie wir, damals, später, heute — unter anderem und bei aller Kontroversität oder vielleicht gerade deshalb — den deutsch-österreichischen Oberwahnsinnigen damit überhaupt erst verstanden haben — in meinem Fall: begonnen haben zu verstehen. Es mußte also ein Franzose kommen. Ein jüdischer noch dazu. Der mein in das vom deutschen Kulturgut verdicktes französisch-russisches, vielleicht ja sogar, auf der Wahrheit ruht in Ewigkeit Maman, noch ein bißchen verhugenottisiertes Judenblut therapiert hat, um's wieder fließen zu lassen. Sozusagen kurz vor der Thrombose.


Anmerkungen (Literaturnachweise)
1 Der Talmud, ausgew., übersetzt und erklärt v. Reinhold Mayer, München 5. Aufl. 1980, Über Fahrlässigkeit, p 342ff.; siehe auch: Ruth Lapide: Die Lust an der Thora. Erfahrungen im Umgang mit dem Alten Testament. Eine jüdische Beziehung zum Alten Testament, Sendemanuskript, Sendung des Bayerischen Rundfunks, Abteilung Kirche, Sonntag, 29. Oktober 2000, 9.00 – 9.30 Uhr, Bayern 2 Radio.
2 Hans Friedrich Müller: Berge der Bibel; Seite leider nicht mehr erreichbar
3 Iran Ancient History, Die Arier in den nahöstlichen Quellen des 3. und 2. Jahrtausends v. Chr.; Seite leider nicht mehr erreichbar
4 Engelbert Kämpfer, Geschichte und Beschreibung von Japan, hrsg. v. Chr. W. Dohm, Lemgo 1777-1779, zuerst London 1727, französisch La Haye 1729, p 130; Lutz Geldsetzer: Die klassische indische Philosophie (1999)
5 Lutz Geldsetzer, ibd.
6 Lutz Geldsetzer, ibd.
7 «De cuius — scl. Indiae — Philosophis magna apud veteres fama atque existimatio fuit, adeo, ut qui sapientiae, virtutis cultura et iustam indolem perductae, praecepta inter Graecos discendi cupidi erant, necessarium sibi ducerent, ad Indos excurrere, et sapientiam gentis tanto studio excultum atque custoditam discere; id quod magnos inter Graecos philosophos, Pythagoram, Democritum, Anaxarchum, Pyrrhonem, Apollonium fecisse, et ipsum Alexandrum M. India nuncupata non neglexisse, relationes varias feruntur», Geldsetzer, ibd.
8 Lutz Geldsetzer, ibd.
9 Lutz Geldsetzer, ibd.
10 Rüdiger Safranski, in: Allzu menschlich: Friedrich Nietzsche. Eine philosophische Reise. Dokumentation, in: Arte-Themenabend, 2. Mai 2002, 22.05 Uhr
11 Ausführliches dazu in: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, München, Berlin/New York 1980, vol. 14, p 7-17
12 Nietzsche: Sämtliche Werke, Fragmente, vol. 9, p 191
13 Nietzsche: Sämtliche Werke, Fragmente, vol. 9, p 289
14 zitiert nach: Willi Jasper, Der dämonische Held. Der ‹Faust› und die Deutschen — eine verhängnisvolle Affäre, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 5. Februar 1999 Nr. 6/1999

Siehe auch: André Glucksmann: Die Cartesianische Revolution. Von der Herkunft Frankreichs aus dem Geist der Philosophie; aus dem Französischen übersetzt von Helmut Kohlenberger, Reinbek 1989, p 72f.; Original: Descartes c'est la France, Paris 1987

 
Fr, 28.11.2008 |  link | (4609) | 14 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Zwei Tage. Der erste. I.

Er kommt nach Hause. Im Flur brennt Licht. Hat er es bei der Abreise vergessen auszuschalten? Doch er spürt, daß jemand in der Wohnung ist. Wer? Der Hausmeister? Dann wäre es nicht so still, darf er doch nur bei Katastrophen hinein. Eine leise Katastrophe? Aber nicht bei diesem serbischen Tanzbär. Die Putzfrau kann es auch nicht sein. Dieser Niederbajuwarin hatte er vor seiner Abreise die Schlüssel weggenommen, nachdem sie wochenlang immer wieder mal einen Griff in seine heimlich geglaubte Schatulle getan hatte. Isaac, die einzige, die außer dem Haushüter einen Schlüssel zur Wohnung hat, umturnt gerade in Peking chinesische Multimedialartisten. Oder ist sie vorzeitig zurückgekehrt? So wird es sein. Denn er dreht vor dem Verlassen der Wohnung immer drei Kontrollrunden. Er ruft mit gespieltem Ernst: «I-s-a-a-c, was schleichst Du Dich hier ein? Hast Du keine Wohnung?! Gefällt Dir besser hier, oder wie?» Er fährt seinen Rollkoffer in die Küche, quer durch den Eingangsbereich, um den immer gepflegten hellgrauen Teppichboden nicht einzudrücken. Er würde sich um eine neue Hausdame bemühen müssen, wie sie in der Mutter Sprache bezeichnet würde, ob sie chronisch langfingrig ist oder nicht. «Kannst Du mir nicht wenigstens einen Kurzfunk schicken?» ruft er vernehmlich, in dem Ton, den sie von ihm gewohnt ist, geprägt von sieben Jahren gemeinsamem Leben und anschließendem, geradezu geschwisterlichem, also bisweilen etwas rauh. Keine Antwort. Er wird ungehalten. Entgegen seiner Gewohnheit, die Jacke ordentlich auf den Bügel und in die Garderobe zu hängen, wirft er sie auf den Tisch, von dem daraufhin eines der immer dort gestapelten Bücher hinunterfällt, die irgendwann gelesen werden wollen. Das steigert seinen leichten Ärger. Er mag keine geknickten Bücher.

Merde d'or ! Seit dem Film Marius et Jeannette war auch für ihn aus der großen Scheiße eine goldene geworden. Er hatte es bei den vielen Malen, die er ihn gesehen hatte, jedenfalls immer so verstanden. Es lag aber nicht unbedingt an seinem seit seiner mittelohrvereiterten Kindheit miserablen Gehör. Es war wohl eher dieser sanfte Marseillaise-Gesang in diesem bezaubernd verschachtelten Kathedrälchen der Liebe und des Gemeinsinns von l’Estaque, in dem er gerade wieder einmal zukunftsversonnen vor sich hinmeditiert und auch gut gegessen und getrunken hatte. Merde alors hatten alle diese Jeannettes und Marius' schlicht und immer wieder gegrummelt. Also keine goldene Scheiße, sondern ein schlichtes Donnerwetter. Aber merde d'or klingt ertragreicher. Nicht nur literarisch.

Keine Regung. Das ist nicht Isabella. Isabella von Wyler, von ihm Isa-AC oder Isa-ac getauft. Je nach Lust und Laune — Isa à conto, Isa à Condition, im besten Fall Isa-Appellation Contrôlée, oder auch, im schlimmsten, Isa-Actinium, dieses eher seltene radioaktive metallisches Element, das zählebigste Isotop mit einer Halbwertzeit von 21,8 Jahren. Dieser gelassen in sich ruhende Atomkern wäre längst grinsend, wenn auch vorsichtig herausgekommen aus einem der Zimmer. Sie liebt es, ihn zu provozieren. Sie weiß jedoch ebenso, wie rasch er ins Cholerische gerät. Keine Regung. Sie kann es nicht sein. Seine angeborene und in den letzten Jahren zunehmend gewachsene Hasenfüsigkeit beginnt, ihn in die Garotte zu nehmen. Er getraut sich nicht, der Sache auf den Grund zu gehen und einfach in die anderen Räume zu schauen. Schon gar nicht in den, in dem er jemanden vermutet. Ihm schwant nichts Gutes. Den Erkundungsgang hinauszögernd, nimmt er den Bügel aus der Garderobe, hängt den leinenen Zweireiher darauf und beides auf die Stange. Er rafft dann jedoch all seinen Mut zusammen und geht in Richtung des größeren Zimmers. Tatsächlich sitzt jemand auf dem Stuhl an dem fensternahen Wirtshaustisch aus dem vorletzten Jahrhundert, der mittlerweile für weniger derbe Tätigkeiten genutzt wurde, raucht und schaut in seine Richtung. Die Straßenbeleuchtung und das Licht aus dem Flur geben nur Schemenhaftes frei. Doch daß dort eine Frau sitzt, ist deutlich zu erkennen.

«Salut, Didier.»
Niemand nennt ihn Didier. Es gibt zwar ein paar wenige, die diesen Namen kennen, den ihm, gegen den Willen des zwar introvertierten, aber doch um einiges fröhlicheren Vaters, seine Mutter gegeben hatte, weil er so angenehm belanglos, so unauffällig war wie sie, die immerfort in der Unscheinbarkeit verschwinden wollte, die alles haßte, was, in welcher Form auch immer, ins Rampenlicht geraten konnte. Es gelang ihr sogar, bei aller Gepflegtheit, die sie ihrer Attraktivität angedeihen ließ, trotzdem immer irgendwie graumäusig zu wirken. Ein Leben lang sollte er über dieses seltsame Verlangen nachdenken müssen, in der Unsichtbarkeit verschwinden zu wollen. Im wesentlichen war ihr das auch gelungen. Didier. Vermutlich war sie es, die ihn das letzte Mal so genannt hatte. Alle anderen konnten oder wollten den Namen, aus welchen Gründen auch immer, nicht aussprechen. Ausgerechnet im damals französischen Saarland, wohin er während seiner Kindheit des öfteren und jeweils von weither in die Sommerfrische verschickt worden war, verpaßten sie ihm das Äquivalent: Dietrich. Eigentlich gehört das ja zu Thierry. Aber sei's drum, so sollte er anfänglich heißen, er sich selber dortan so nennen. Aber als er dann in die große doppeldeutsche Stadt gegangen war, um befehlsgemäß etwas Ordentliches zu lernen, war den Kommilitonen das dann zu altbacken. Oder zu germanisch in Zeiten, als das Pariserische quasi existentiell war. Doch er war bereits in den mütterlich vorgetretenen Pfad des Unauffälligen getreten und hatte seinen richtigen Namen nie erwähnt. Er hätte es schlicht als zu eitel, gar als affig empfunden, mit einem Mal en vogue mitzuschwimmen. Die Wirklichkeit wäre ihm zu grell gewesen. Irgendwann wandelte jemand den Dietrich in einen Dieter um. Er war's zufrieden. Es kam dem Original letzten Endes auch phonetisch näher. Dabei war es geblieben.
Aber Didier?

Langsam gewöhnen seine Augen sich an das Dämmerlicht, er sieht mehr von ihr. Er kennt die Frau nicht. Er ist sich sicher. Auch die Stimme ist ihm unbekannt. Er kann sich keine Telephonnummern merken, kann dem Pannenhelfer am Telephon das Kennzeichen seines Gefährts nicht mitteilen, wird bis zu seinem Dahinscheiden 3-3-3, bei Issos Keilerei, mit einer anderen historischen Schlacht verwechselt, also auch mit Hilfe der Mnemotechnik nicht gelernt haben, etwas korrekt aus der Vergangenheit abzurufen. Aber bei Gesichtern von Frauen — zumindest eines bestimmten Typs — scheint er über ein phänomenales Erinnerungsreservoir zu verfügen. Und dieses Gesicht, das war trotz des diffusen Lichts klar, hätte sein Gedächtnis nie mehr aus seinen Hirnwindungen gelassen. Sie hat reizvolle Konturen, ein langgestrecktes, feingeschnittenes Gesicht mit einem eher angedeuteten Nasenhäkchen, darüber sehr dunkle, vermutlich geradezu schwarze Augen. Soviel ist auch im schummrigen Licht zu erkennen. Und diese extrem kurzen Haare. Er kennt diese schwarze Odaliske. Dieses Gesicht hat einen Tryptichon-Altar in seinem Kopf.
Aber diese Frau hat er noch nie gesehen.

Ob ich das fortsetze, weiß ich noch nicht so genau. Wir sind hier doch nicht im Poesiealbum.

24.01.2012: Dies und das Nachfolgende entstand vor etwa zehn Jahren, skizziert in sechhundertdreißig Seiten. Da das Interesse größer zu sein scheint, als ich dachte, denke ich darüber nach, eine geordnete, komplette, vielleicht sogar die (Ur-)Fassung hier einzustellen, die den Lesefluß erleichterte. Doch die Opposition in mir spricht dagegen. Das eine oder andere Signal würde einen Beschluß gegen den Nein-Sager in mir erleichtern.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Do, 27.11.2008 |  link | (2739) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage



 







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