Junge Weisheit «Und Geschwindigkeit! Ich muß mich nicht beeilen. Ich muß nicht erster sein. Denn bei Texten, die ich für mich selbst schreibe, bin ich immer erster. Oder nicht einmal für mich selbst: womöglich völlig zweck- und sinnlos. Und überhaupt die Länge! Es macht mir nichts aus. Ein Text wird so lang, bis ich nichts mehr zu sagen habe. Oder keine Lust mehr. Und wenn ich den Leser nicht dazu bringen kann, den ganzen Text zu lesen, ist das egal. Schade vielleicht, aber trotzdem egal. Irrelevant, hat man mal dazu gesagt, aber der Begriff ist ja auch sehr belastet worden. Ich habe all das gesagt und all das geschrieben, und natürlich freut es mich. Das Schreiben. Und das Gelesenwerden.» Gelesen habe ich das bei Texas-Jim in dessen Dieseldunst. Es ließe sich auch Philosophie eines Bloggers oder Philosophie des Bloggens nennen. Nein, Unsinn, nicht schon wieder dieses bedauernswerte, mißbrauchte Wort Philosophie. Am Ende denkt dabei jemand gar an Werbung oder Public Relation oder die dort in Auftrag gegebene Weisheit eines maroden Bankengeflechts. Es ist schlicht eine wunderschöne, ausführliche Äußerung zum Empfinden beim Schreiben und Lesen et vice versa. Sie ist zauberhaft, nicht nur, weil ich das auch so sehe. Es ist der aktuell in die Blogbibliothek aufgenommene Text. Auf dessen noch relativ frische und begrüßenswerte Existenz von hier aus ebenfalls aufmerksam gemacht worden sein möchte. Dieseldunst
Die Macht des Essens Es ist die Geschichte von dem am Ende von Casino de Vienne erwähnten Menschen. Er ist nicht zu übersehen. Seine Liebe zu Speis und Trank hat ihm die entsprechende Form verliehen. Er ist Masse. Masse ohne Ende. In die Breite. Aber auch in die Höhe. Er frißt aber auch nur. Überall. Aber nur Gutes. Er ist Gourmet und Gourmand gleichermaßen. Gourmand im Sinne von Freßsack, in den immer noch was hineinpaßt, und Gourmet als der, dem der gaumenkitzlerische amuse-gueule ständig die Sinne verwirrt. Und wenn ihm nach besonderem zumunde ist, scheut er keine Strecke. Wenn er einen ganz besonderen Goût im Mund hat, ist ihm keine Entfernung zu weit. Das geht mit einem schlichten Schnitzel los. Er kennt alle Geschmacksrichtungen aller Schnitzel in Europa. Ein Beispiel nur: Irgendwo in der Pfalz, in seiner Heimat, da steht ein Gasthof, in dem sie das Schnitzel, sag ich mal: in einem ganz bestimmten langschenkligen Dreieck hochkant in einer besonderen Panade und selbstverständlich ganz langsam in Butter braten. Wenn diese besondere geometrische Form, umhüllt von besagtem Brotbrei, in einer Pfanne unvermittelt durch sein Hirnkino rast, dann erhalten seine Geschmacksnerven ein Signal, das einer Sirene kurz vor Weltende gleichkommt. Dann muß er los. Egal um welche Nachtzeit. Also, noch zu Öffnungszeiten. Und alle anderen müssen mit. Hundert Kilometer. Seine Geselligkeit ist gnadenlos. Aber schön ist's immer gewesen. Ich kenne keinen anderen, der nicht professioneller Koch oder Gastrokritiker ist, mit einem solchen Wissen. Ach was — auch viele Profis können ihr Werkzeug einpacken. Und er kocht auch phantastisch. Ohne viel Aufhebens. Vor allem aber könnte er vermutlich problemlos eine Équipe von zwanzig Köchen befehligen. Dabei ist er nicht Koch, sondern Bildhauer. Aber keiner, der selber haut. Er weiß eben, wie's geht, also läßt er hauen. Oder gießen. In Italien. Und kommt mit einem Anhänger voller Schinken und Würsten und Wein zurück. Töpfe und Pfannen aus Kupfer sind meistens auch dabei. Mit denen handelt er dann, denn seine Küche ist damit bereits voll ausgestattet. In etwas anderem wird nicht gekocht und gebraten. Er ist konsequent kulturhistorisch bestimmt. Ich kenne einige Künstler, allen voran und für mich nicht ohne weiteres erklärlich die Bildhauer, die gerne und gut kochen. Aber er nimmt eine Sonderstellung ein in diesem Panoptikum. Ich glaube, er hat noch nie irgendein Kochbuch auch nur in die Hand genommen. Er besteht nur aus Instinkt. Was er macht, macht er richtig. Er sitzt auf seinem besonders stabilen Stuhl und gibt seinem Besuch Kommandos. Und der macht es brav — und alles richtig. So habe sogar ich innerhalb von fünf Minuten eine Mayonnaise hinbekommen, für die ich ohne seine Anleitung neununddreißig Versuche benötigt hätte. Um dann alles wegzuschmeißen. Seine Schnell-Mayonnaise zu den selbstverständlich und gerne im französischen Bitche gekauften Garnelen, so mal eben locker, quasi aus französischer Hausfrauenhand, für die andere einen vierwöchigen Kochkurs absolvieren müssen. Bei entsprechenden Temperaturen wird in seinem Garten gegessen. Dort fühlt man sich wie in der Toskana. Und nicht nur wegen des riesigen Pizzaofens, den er sich unter seine Pergola hat bauen lassen, daneben einen Tisch für gut zwanzig Personen. Das Holz für den hat er sich auch mitgebracht. Den Tischler hat er mit Naturalien bezahlt. Er reist überhaupt sehr gerne und viel. Nicht nur wegen des Essens. Aber wenn es irgend geht, orientiert er sich an den Speisekarten dieser Welt. Sie sind seine Landkarten. So hat er beispielsweise einen riesigen Schrank voller Keramikteller. Es sind Trophäen. Nein: Erinnerungsstücke. Es gab oder gibt einen losen Zusammenschluß italienischer Ristorante in ganz Europa. Es sind allesamt schlichte Gaststätten im besten Sinne: zur Wiederherstellung des Gastes. Nicht diese Edelfreßtempel für Besserverdienende, die diese Orte weniger des Essens wegen aufsuchen. Es sind Stätten für Menschen, die gerne gut essen. Und wenn man in eines dieser Restaurants geht, ob in Malmö oder Sevenoaks oder Brügge oder Heidelberg oder sonstwo, und man nimmt eines der Tagesmenues, die sie grundsätzlich anbieten, dann erhält man einen dieser Keramikteller. Er hat, wie erwähnt, einen gigantischen Schrank voll damit. Ich habe auch zwei. Denn zweimal bin ich mitgereist. Einmal davon ist mir unvergeßlich. Ich hatte eine Ausstellung von ihm eröffnet, wie man so sagt, eine Eröffnungsrede gehalten eben. Das war quasi eine Analogie zu seiner Philosophie des Essens. Sie war so opulent wie sein immerwährendes Denken an ebendieses Eine in allen Variationen. Etwa fünfhundert Menschen waren anwesend. Einige davon kannten ihn, ein Teil davon sogar seine Arbeiten. Und die meinten dann nach der knappen Stunde, sie hätten gar nicht gewußt, was er alles draufhabe. Ich hatte wohl keine Ingredienz ausgelassen. Das Volk war satt. Nur ihm war das zuviel Theorie. Nach ihm kommt Kunst von innen. Geschimpft hat er nicht, kam es ihm doch zugute. Doch, gewettert hat er sogar. Aber über die dürftigen Schnittchen, die gereicht worden waren. Was richtiges gäbe es erst am Abend. Also erstmal was ordentliches essen. So sind wir die siebzig, vielleicht achtzig Kilometer in dieses Restaurant gefahren. Ziemlich abgelegen, am Rand einer Stadt, an einer absolut langweiligen Straße. Ich vermute ohnehin, diese Restaurants liegen alle nicht in den Zentren. Die Wirte zahlen lieber weniger Miete und stecken das Geld in ihre Ware. Und den Service. Kurzum, er hatte angerufen und sein, unser Kommen angekündigt. Er war wohl auch nicht zum ersten Mal dort. Er wurde begrüßt wie ein uralter Bekannter. Es war gegen halb eins am Mittag. Raus sind wir gegen sechs Uhr abends. Das Restaurant schließt normalerweise über den Nachmittag und öffnet erst wieder um halb sechs. Als die neuen Gäste kamen, saßen wir eben immer noch. Und es ist niemand vom Personal nach Hause gegangen! Das mag übertrieben klingen. Aber das ist bei ihm normal. Und man kann alles essen, was er bestellt. Er ist ein phänomenaler Vorkoster. Er probiert alles aus, aber auch wirklich alles. Er geht auf jede Empfehlung ein. Selbstverständlich erhält er immer sehr kleine Portionen. Auf seinen Wunsch. Aber er läßt keinen Krümel aus, wenn er gebeten wird, ihn zu kosten. Doch manchmal nimmt er auch noch den winzigen Rest auf dem Teller. Der Patron wich ihm damals nicht von der Seite. Wenn er davon sprach, es stünde gerade ein neuer Fond auf dem Herd — her damit. Irgendein Teig befinde sich in Vorbereitung — der Koch wird in Küche gejagt, zum Herausbacken. So ging das stundenlang. Und es geht. Man hockt ewig, nimmt hier bißchen, dort ein bißchen. Zwischendrin gibt's auch mal einen kompletten Gang. Und es geht aber auch jeder hinein mit seiner Gabel. Étiquette? So ein Konventionenkram. Alles mit Lust. Lust braucht keine Benimmregel. Man wird in solchen Restaurants auch nie diese hochgedrechselten Servietten sehen, mit denen man sich ohnehin den Mund nicht abwischen kann, weil sie steif sind wie die Bretter, auf denen sie gebügelt wurden. Oder sie werden für solche Gäste wie ihn beziehungsweise uns vorher entfernt, ausgetauscht gegen sammetweiche. Der große runde Tisch ist schön und sauber gedeckt. Bis er voller Flecken ist. Aber wie. Weil jeder darauf herumaast. So ist das eben bei einer solchen dauersensuellen Gruppenkopulation. Wir haben jedweden Kontakt zueinander verloren. Aber ich bin sicher, wir würden uns sehr freuen, begegneten wir uns wieder einmal. Wenn, dann vermutlich in Schlaraffenland.
Gefangen im Tour Pomègues m'aidez ! — may day oder Es geschah nicht an einem Tag im Mai. Zwei-Tage-Intermezzo. Raymond. Raymond Saint-Louis. Ich erinnere mich wieder — ich glaube, es war 1996. Nein. Da war ja noch alles im Lot aufm Boot, und es gab noch keine Lebensstürme. Also eher 1997. Oder doch 1998? Wie auch immer — ich war ins Wasser gefallen. Zunächst hatte er mich befreit. Das erste Mal. Ich war oben in diesem kleinen Häuschen auf der Île Pomègues. Na ja, was heißt Häuschen, doch in einer nicht ganz so winzigen Ruine, die der mittlerweile restaurierte Tour Pomègues damals gewesen war. Obwohl eigentlich alles verrammelt war, hat meine Neugierde es geschafft, mich dort hineinzuzwängen. Also, ich hatte mich irgendwie — nein, als ich eine Stunde herumgeschnüffelt hatte, stellte ich auf einmal fest, daß die Eingangstür nicht versperrt war. Und da bin ich — der oberste aller Oberangsthasen! — hinein. Es war eigentlich nicht viel zu sehen. Müll, in erster Linie. Wahrscheinlich haben ihn alle möglichen Clochards hinterlassen. Oder auch junge Leute, die dort Parties gefeiert hatten. Vermutlich hat man deshalb den Turm auch abgesperrt gehabt. Oder weil er baufällig ist. Damals war das noch eine Ruine. Nur für mich muß ihn jemand geöffnet haben — auf daß ich in die Geschichte eingehe. Sozusagen als Turmgeist. Denn als ich wieder hinauswollte, war die Tür verschlossen. Es war zwar glücklicherweise noch Nachmittag, wenn auch später. Aber dort ist ja eigentlich nie was los. Drüben, auf der anderen der Îles du Frioul, der Île Ratonneau, ja, da hat man zu tun, muß man sich der Dauerangriffe der Möwen erwehren. Zumindest während der Brutzeit. Und die Viecher treiben's den ganzen Sommer lang. Aber auf Pomègues, da kann man während der Woche ewig herumspazieren, ohne daß man einer Möwen-, geschweige denn Menschenseele begegnet. Herrlich. Aber nicht, wenn man Gefangener des Turms ist. Also habe ich gebrüllt und gebrüllt: Au secours ! A moi ! Aidez-moi ! — dieses falschfranzösische m'aidez ! von dem ich später irgendwo mal gelesen habe, daß aus diesem Hilferuf das internationale may day entstanden sein soll, weil die Amis oder die Engländer das so verstanden hätten und so daraus der deutsche Frühlingstag der Panik und der Maibaum-Kletter-Besäufnisse entstanden ist. Es hat natürlich nichts genutzt. Es war ja auch längst tiefer Sommer. So habe ich mich langsam darauf vorbereitet, die Nacht in meinem historischen Verließ unter Mäusen und wahrscheinlich auch Ratten verbringen zu müssen. Ein nicht eben beschaulicher Gedanke. Das Gespenst wurde wieder zum Menschen. Denn auf einmal rief jemand: Monsieur! Monsieur. Là-dedans ?! Lá-dedans ?! Dans le tour ?! Und ich brülle wie wild in Richtung der Stimme. Und da sehe ich auf dem Gang, der um den Turm herumführt, einen tiefdunklen Herrn — und rufe. Ici, Monsieur ! Ici, Monsieur ! Délivrer, s'il vous plaît ! Es waren damals, wenn ich mich recht erinnere, gute vierzig Grad. Draußen. Im Schatten. Wenn's denn einen gab. Der einzige hier war der Turm? Und der war Glut-Turm. Auch noch ein bißchen sehr muffelig dazu. Also, er dirigierte mich sprachlich irgendwie zur Tür. Aber die war verschlossen. Irgendjemand mußte sie eben hinter mir verriegelt haben. Dem war auch so, wie ich später erfahren habe. Der Inselhüter hat die geöffnete Tür gesehen und sie ordnungsgemäß verschlossen. Wie sich das gehört. Und mein Befreier hat sie kurzerhand eingetreten. Ganz einfach so. Mit einem Tritt hat er die bevorstehende Geschichte korrigiert. Also, ich habe mich ganz herzlich bedankt. Habe ihn gefragt, ob ich das irgendwie wieder gutmachen könnte, schließlich verdankte ich ihm ein Stückchen meines Restlebens. Er hat immer nur gelacht und gesagt, es sei schon gut. Es klang so wie das hamburgisch-holsteinische Dafür nicht, das anstelle des dankerwidernden Bitte gesagt wird. Dann wünschte er mir freundlichst einen guten Tag und rauschte ab. Er hat noch irgendwas gesagt und dabei auf die Tür gedeutet — irgendwas von réparer und so. Da ich nun ziemlich verdreckt war, vor allem an Händen und Füßen, ging ich hinunter zum Wasser. An die Bucht, ein hafenähnliches Gebilde. Dort sollte ich meiner Dame eröffnen, meine Liebe zu France sei grenzenlos. Ich würde es anders machen als Walter Benjamin. Ich würde in Frankreich ins Wasser gehen und nicht zum Sterben ins spanische Port Bou auswandern. An diesem Tag muß mich die Abenteuerlust geritten haben. Oder der Schwachsinn. Vermutlich eher letzterer. Ich will mich also säubern. Will zum Wasser. Doch anstatt in Richtung Fährhafen und damit zu einer der kleinen Calanques zu gehen — es war ja auch schon relativ spät —, kraksle ich die Felsen hinunter zu diesen Fischbecken. Nein, zum Hafen, offenbar. Der Weg außen herum war mir zu weit. Deshalb habe ich das Bergabsteigen geübt. Ich Übersportler. Weshalb, weiß ich nicht. Ich habe nur drei, vier Menschen gesehen da unten. Das wird wohl der Grund gewesen sein. Die Sehnsucht nach Menschen, da ich gerade dem sicheren Einsamkeitstod entronnen war. Daß es am Fährhafen noch mehr Menschen gegeben hätte, kam mir nicht in meinen Schwachkopf. Unten angekommen plätschere ich in dieser dunkelgrünen Brühe herum. Das war ja kein richtiges Meerwasser, solches für Moules eben. Schmecken tun Muscheln ja gut. Aber — na ja, ich rutsche aus auf so einem veralgten Stück Stein. Vermutlich das einzige weit und breit. Ich falle rein in diese Brühe. Und ich hänge fest. Also wieder gefangen — in meiner eigenen Dummheit. Also wieder rumbrüllen — au secours ! au secours ! Dieses Mal geht's rascher, daß jemand angerannt kommt. Und wer ist es? Wieder mein Anderspigmentierter. Und was macht der? Er lacht. Er lacht sich fast so kringelig wie du gerade. Irgendwas von keinem guten Tag für mich, erzählt er. Und ich schäme mich fürchterlich. Was macht der?! Er hüpft hinein in die Brühe und löst mich aus irgendwas heraus. Irgendein Netz oder sowas ähnliches, was so ein Muschelangler da reingehängt hat. Aber sicher nicht, um mich altertümlichen Weißfisch zu fangen. Dann hievt er mich, mal eben so, auf die steinerne Beckenabgrenzung hinauf und steigt mir — sehr, sehr! sportlich — nach — hups, und er ist draußen. Na gut. Drinnen war ich ebenso schnell. Ich bin sprachlos angesichts solcher Güte und umarme ihn. Es war nicht weiter tragisch, denn naß waren wir ja beide. Dann schüttelte er mir die Hand. Aber nicht, um das Wasser aus uns herauszurütteln, sondern um sich vorzustellen. Sicher nannte er mir seinen Namen. Den hatte ich allerdings, wie üblich, schnell wieder vergessen. Eines blieb mir jedoch auf ewig, Absence hin oder her, in Erinnerung: Guten Tag. Ich bin hier der Hilfsneger, gemäß unserer uns zugedachten Gene: immer zu Diensten. Es war dennoch kein endgültiger Abschied. Denn wir sollten uns noch einmal begegnen an diesem Tag. Lange sollte es nicht dauern. Vermutlich wußten wir damals schon, daß wir beide Andersgeartete sind und auch zu einer Familie gehören. Ich trotte also über den Digue Berry gen Hafen, um zum Festland hinüberzufahren. Als ich ankomme, fährt gerade ein Schiff. Es war das letzte dieses abenteuerlichen Tages. Dachte ich. Heute weiß ich, daß um Mitternacht noch eines fährt. Aber damals war ich einfach nur erledigt. Da sitze ich nun am Anleger auf einem Poller und hadere mit meinem Schicksal. Beinahe eins mit mir. Was soll's, dachte ich mir. Besser, als im Turm gefangen zu sein. Dann werde ich mich eben windgeschützt in eine der Calanques legen und die Natur der Nacht kennenlernen. Das einzige, was mir nicht so recht war, war die Tatsache, am Abend verabredet zu sein. Doch das war eben auch nicht mehr zu ändern. Telephon hatte ich keines dabei. Aber das war damals ohnehin noch fest im Auto installiert. Doch dann kommt ein Boot um die Kurve. Dem bedeute ich nichts weiter bei. Es fahren viele Boote hier ein in den Hafen. Es liegen ja sehr viele vor Anker hier, vor allem im größeren Hafen in Blickrichtung Hôpital Caroline. Aber dieses Boot tuckert langsam auf den Anleger, auf mich zu. Und wer ist es? Mein Nicht-von-der-Sonne-Gebräunter. Und was macht er? Er lacht. Und er fragt mich, ob er vielleicht heute noch einmal etwas für mich tun könne. Er täte es gerne. Er habe sich so an mich gewöhnt, quasi wie an jemand Angeheirateten oder so ähnlich. Schmeißt mich in sein Bateau und schießt mich nach Marseille. Dort trinken wir einen gegenüber im Tabac. Oder auch zwei. Und ich lache mit ihm. Meine Verabredung sage ich ab. Es hat dann nämlich noch ein bißchen gedauert. Auf jeden Fall war's ein wunderschöner Abend. Er hat sich nur mal eben kurz zurückgezogen, um zu telephonieren. Ich nehme an, er hat meine spätere Schwägerin angerufen, um ihr zu sagen, er müsse auf einen extrem gefährdeten Menschen aufpassen. Wir waren dann noch essen — oben, an diesem Platz, in den die Rue de Rome einmündet, wo man diese Fisch- und Austern- und so weiter Berge besteigen muß, um sie zu verputzen. Um sich einen Eiweißschock fürs Leben zu holen. Oben, ja genau, am cours Saint-Louis — ja, richtig, cours Saint Louis! Ich war offensichtlich mit Saint-Louis in Saint Louis. Ich hatte ja längst wieder vergessen, daß der auch so hieß, mein späterer Schwager. Ihr wart bei Toinou. Genau. Selbstverständlich haben wir auch Muscheln gegessen. Irgendwie war das naheliegend, sozusagen natürlich. Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
Casino de Vienne Die Ostumgehung von Lyon gibt, hat man den Stau beinahe hinter sich gelassen, den Blick frei auf das, was dem geneigten Südurlauber in Erinnerung bleibt von dieser Stadt. Wenn er, zurück von seiner Braterei an den Stränden mit Würstel con Krauti, mal wieder unsereiner Schwärmerei vernimmt von dieser Pforte zum Süden, und diese empört zurückweist: Da soll's schön sein?! Da sieht's ja aus wie in der DDR. Oder so ähnlich. Gemeint sind damit in der Regel die Plattenbauten hinten auf den Hügeln, für die man allerdings nicht unbedingt an Lyon vorbeifahren muß, sind sie doch über ganz Frankreich verteilt. Hätte der Urlauber in spe nicht soviel Furcht vor diesem Verkehrsmoloch und führe hinein in ihn, wäre er nicht nur sehr viel schneller über die Schwelle zum Süden, weil's unterm Strich sehr viel flotter vorangeht, käme er auch näher ran an diese Metropole mit ihrer überall sichtbaren, gewachsenen Historie. Und er käme, vorbehaltlich des ausgelassenen Zwischenstops, der ihn dann doch für eine Weile länger in der Stadt festhalten könnte, immer an der Rhône entlang, in diesem Bereich vielleicht nicht so attraktiv, da für Geschwindigkeit angelegt, in Vienne an. Nein, nicht in der österreichischen Hauptstadt, sondern dem Südzipfel von Lyon, der von leicht Unbedarften auch schonmal als Satellit oder Schlafstadt bezeichnet wird, was er nun wirklich nicht ist, sondern ebenfalls außerordentlich was an Geschichte aufzuweisen hat. Und auch eine solche schreibt: Auch in Vienne ist an einem frühen Montagabend nichts los. Das ist ungünstig, wenn die Geschmackssignale ständig laut einen Pausenpastis ausrufen, vielleicht mit einer Kleinigkeit dazu, und seien es die üblichen Aperitiferdnüsse. Doch nahezu alles scheint geschlossen. Bis auf die kleine Bar vielleicht, wie jede trist herumstehende Kneipe im Land genannt wird, die von außen genauso aussieht, als wäre es Mittwoch- oder Samstagabend, sieht man diesem Gastronomietypus doch häufig nicht an, ob er betriebsbereit ist. Und sollte er es tatsächlich sein, heißt das für Fremde noch lange nicht, daß sie auch willkommen sind. Einfach ignorieren, diese französische Variante von Fremdenangst, bestellen, trinken, nochmals bestellen, und dann kann es geschehen, daß man ein leichtes Ziehen in den Mundwinkeln des Wirtes zu sehen bekommt, das unter Umständen als ein Lächeln gedeutet werden darf. Das im konkreten Fall zu prüfen, unterbricht man sogar die Diskussion über eine europäische Verfassung und weshalb manch einer im Land höchstenfalls ein Europa gegen eine Globalisierung wünscht. Da das Gespräch ohnehin in einen Streit auszubrechen droht, steigt man lieber aus und schaut nach, ob wenigstens die banale Bedürfnisbefriedigung geöffnet hat. Es ist einmal mehr ein Treffer. Immer wieder bestätigt sich mein Instinkt. Ich habe ein untrügliches Gespür für mir genehme Gastronomie. Es ist schon geschehen, daß ich eine Stunde herumgegangen bin und überall herumgeschnüffelt habe. Und das war's dann auch in der Regel. Aber häufig weiß ich es auf Anhieb. Wie auch jetzt wieder — eine kleine Bar. Keine Musik. Fünf, sechs Menschen sitzen an den kleinen Tischen und sprechen ruhig miteinander. Der Tresen ist frei. Der Wirt macht, wie gehabt, nicht eben ein freundliches Gesicht. Aber das hat nichts zu sagen, sagt mir die französische Erfahrung. Außerdem sind mir mürrische Menschen lieber als aufgedreht heitere. Clown bin ich selber. Deshalb weiß ich, was hinter einem solchen Gegreine steckt. In spröder Erde steckt tief unten meistens der eigentliche Lebenssaft. Zunächst einmal bestelle ich zwei Café und ein Mineralwasser, gazeuse, s'il vous plaît, Monsieur; ich gehöre zu der Minderheit im Land, die im Wasser neben den Fischen auch noch das Prickeln mögen, und sei es noch so gesalzen, nicht nur im Preis (die Auswahl der kohlensäurehaltigen Wasser ist eher gering), weshalb ich auch auf das überall im Land kostenlos angebotene und in der Regel wohlschmeckende Leitungswasser verzichte. Sehr rasch stellt der Angesprochene das Gewünschte vor uns auf den Tresen und wünscht leicht lächelnd Genuß. Auf deutsch. Mit französischem Unterton zwar, aber immerhin. Verdutzt schauen die freundlich Bedienten sich an. Er beeilt sich, die nonverbale Frage recht wortreich zu beantworten. Er habe ein paar Jahre in Deutschland gelebt. Aber zuhause, am Tor zum Süden fühle er sich doch wohler, und vielleicht ginge er ja auch bald noch ein bißchen weiter runter, hier sei nicht allzuviel los. Ich bin versucht, zu verstehen und zu entgegnen, dieses dunkle Loch hier gebe ja wohl kaum etwas vom Licht der weiter unten leuchtenden Provence wider, einige mich mit mir doch vorsichtshalber auf die höflichere Variante. «Militaire à Spire» kommt es dann noch zusätzlich und leicht gedrückt aus ihm heraus. Aha, Speyer, übersetze ich für mich und füge noch ein hübsch an. In logischer Konsequenz folgert er daraus, ich müsse die Stadt kennen. Das dürfte ihm aber auch nicht allzuoft passieren, zumal die französische Armee das pfälzische Kaff bereits vor einiger Zeit freigegeben hat und ein Speyrer sich wohl kaum hierher an den Rand der Rennstrecke nach Spanien verirren dürfte. Zwar möchte ich mich lieber mit meiner Begleitung weiterhin ein bißchen über die verzweifelten Versuche vieler Franzosen streiten, die US-Amerikanisierung draußen zu halten, und andeuten, man habe sie sich schließlich selber hereingeholt seit den fünfziger Jahren, als man den Supermarkt eingekauft hat im wilden Westen und damit auch noch verantwortlich ist für diese gesamteuropäische Tristesse in den Innenstädtchen und den Dörfern. Aber wir werden die gut dreihundert Kilometer bis Marseille noch ausreichend Gelegenheit haben, den Disput fortzuführen. Zumal er dasteht mit höflich fragenden aufgerissenen Augen und anfügt, er habe während seines militärischen Aufenthaltes viel Kontakt mit Deutschen gehabt, die er allerdings weniger aufgesucht habe, sondern die allesamt zu ihm gekommen seien, um ein wenig französische Lebensart kennenzulernen. Daraus schließe ich, er könne nur im Casino der Grande Armée tätig gewesen sein, und teile meine Erkenntnis mit. Das reißt ihm die Augen noch weiter auf vor Freude und seine rechte Hand um ein Haar eine Flasche Champagner. Ich verhindere das mit heftigem Kopfschütteln und dem Verweis auf eine lange Strecke noch bis Marseille, aber gegen einen Pastis hätte ich nichts, wenn das nicht zu unhöflich sei, zumal ich ab jetzt Beifahrer sein dürfe. Ein bestätigendes Nicken zu meiner Rechten läßt ihn schnell auftischen, damit auch das ersehnte französische, zum Apéritif gereichte Knabbergebäck mit den unvermeidlichen Erdnüssen. Madame bekommt noch einen Café und ich, wie anders, einen Einundfünfziger. Und dann erzähle ich von meinem Freund in dem Städtchen, das heutzutage allenfalls in seiner einstmals bedeutenden Geschichte gemütlich vor sich hinschmurgelt. Dieser Freund hatte sich nach umfangreichen Studien der Kunst in seine Heimatstadt zurückgezogen und sich dort sein eigenes kleines römisches Reich errichtet, in dem an kaum etwas anderes gedacht wurde als an die Macht des Essens. Am liebsten den lieben langen Tag lang, und wenn's ihn kurz vor Mitternacht leicht anhungerte, dann selbstverständlich auch, was durchaus auch schonmal eine viele Kilometer lange Fahrt ergeben konnte, um kurz vor Toreschluß noch eine besondere Art des panierten Kalbsschnitzels zu erreichen. Auch wenn das Gasthaus so gut wie geschlossen war, man erwartete, man kannte ihn, wußte um ihn, wenn sein Gehirn einen alles andere als neutralen Goût ausgesandt hatte.* * Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Die erzähle ich ein andermal. Am besten auch die, weshalb's dann doch nicht weiterging in Vienne. Die Photographie von maerzbow verweist zwar auf ein tiefes Inneres im etwas nördlicher gelegenen Dijon, aber ob sich da drinnen was tut, weiß man auch nicht so genau. Wie überall im Land schaut's aus: Man geht schließlich nicht ständig erhobenen Hauptes durch die Gegend.
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