Hafenromantisches (Marseille)

Am neuen Hafen von Marseille ist es wie anderswo auch, wie in der Schwesterstadt Hamburg beispielsweise. Die sogenannte Hafenromantik ist dahin. Die Containerschiffe halten nur noch kurz an, im Eiltempo werden die riesigen Blechbüchsen aus- und wieder eingeladen, und weiter geht's auf große Fahrt ins chinesische Paradies. Für Seemannsherzschmerz ist keine Zeit mehr. Den gibt es hier wie dort nur noch im Lied. Doch im Gegensatz zur Metropole an der Elbe lebt Marseille im Hafenbereich. Na ja, in dem des Alten Hafens. Für den neuen steigt man besser in den Bus, der über la Joliette, wo das Hafengebiet beginnt, nach l'Estaque fährt. Vor allem ist der Tourismus wesentlich leiser, man spürt ihn kaum, er wird untergerührt ins alltägliche Leben, er ist ein Fischbröckchen in einer riesigen Bouillabaise. Die schmeckt noch nach Fisch und hat nicht den Geschmack von frittierter Pappe wie die Fisch genannten Fladen an Kartoffelsalat aus der Friteuse an den Landungsbrücken (die gerade überschwemmt werden, aber nicht vom Wasser, sondern von Hafengeburtstagsfeiernden). In Hamburg richtet sich in der Hafengegend alles auf die Massen aus, die rasch durchs Hafenbecken fahren oder rennen oder schippern, um sich anzugucken, was sie sich an Immobilie mit Sicherheit nicht werden leisten können; aber es ist ja wohl schon immer so gewesen, daß man wissen will, wie der Hofstaat lebt. Eine ganze Armada ist für diese Phototaschen- und Plastiktütenträger bereitgestellt. In Marseille fährt diese wunderschöne alte Personenfähre für früher drei Francs, heute in Ecu die Hälfte, vom Quai du Port hinüber zum Quai de Rive Neuve oder von dort aus zur gegenüberliegenden Mairie, dem barocken Rathaus aus dem siebzehnten Jahrhundert. In Hamburg quert eine zwischen den alten Landungsbrücken und einem Musicalzelt am Rand des Containerhafens. Von den Landungsbrücken aus kann oder konnte man zumindest für sündhaft teures Geld mit einer Art Elbsurfbrett für mehrere hundert Personen den Fluß rauf- und wieder runterfliegen. Vom Quai des Belges aus schaukelt man gemütlich in Richtung Cassis und hält bei der Rückfahrt gegen achtzehn Uhr die Nase in den Fahrtwind und überhaupt in die Abendsonne, die bald über l'Estaque stehen wird. Die Hamburger Reeperbahn dümpelt nur noch für die verruchtsheitssehnsüchtigen «Pappnasen», wie ein befreundeter Fischhändler selig aus Husum die Massen aus Wanne-Eickel oder Castop-Rauxel, wie die französische Übersetzung wohl lautet, oder sonstwoher (zum Beispiel aus Bad Oldesloe, Ratzeburg oder Trittau) mir gegenüber mal bezeichnete.

Doch für den Hafen von Marseille sieht die Zukunft düster aus. So düster, wie die Landschafts- und Städteplaner der bis vor kurzem noch neuen (Geld-)Zeit sie für Investoren rosig malen. Es hat den Anschein, als ob aus dem letzten großstädtischen Refugium Europas für dauerseßhaft Heimatlose vom euroglobalen Brüssel und über die Achse Paris und Préfecture Bouches-du-Rhône zu einem dem US-amerikanischen Denkmalsverständnis gleichkommenden romantizistischen, also erinnerungsverklärenden- und somit klitternden Ort des Kitsches umfunktioniert werden soll. Die Pariser brauchen ja auch nur noch drei Stunden mit dem TGV. Sie sind also längst da. Auch die künstlich hineingedrückte Medienindustrie oder wie auch immer man es nennen möchte. Auf jeden Fall Weltstadt. Aber eben nicht gewachsen wie seit zweitausendsechshundert Jahren. Sondern so artifiziell wie drittklassiges Kino oder Werbefernsehen. Wer interessiert sich denn schon für Geschichte mit all ihren Widrigkeiten, wenn man das Design auch ohne Innenleben vorführen kann. Das von Marseille ist ohnehin ein Rudiment. Fortschritt ist alles. An den Immobilienpreisen im ersten, zweiten und sechsten Arrondissement ist es längst mehr als deutlich spürbar; andere feine Winkel waren ohnehin immer unerreichbar da oben. Aber im Schleifen von Städten und geradezu grotesken Errichten von sogenannter Moderne ist Frankreich allemale Weltmeister.

Im Januar 1943 begannen deutsche Truppen nach der sogenannten Évacuation von fast 27.000 Einwohnern in ein Gefangenenlager bei Fréjus unter Befehl des Generalfeldmarschalls von Rundstedt mit der Sprengung des Hafenviertels. Das kam den Stadtplanern von Marseille allerdings recht, denn die hatten hier bereits in den dreißiger Jahren einen planerischen Kahlschlag vorgesehen, wie man ihn aus der französischen «Sanierungs»-Tradition kennt, etwa aus Paris, das der Architekt und Städteplaner Georges-Eugène Haussmann kontrarevolutionär sanierte. Man kann seine Taten auch überall in Marseille sehen, beispielsweise im bürgerlichen 6. Arrondissement oder im Hinterhof der rue de la République, die das Panier nördlich begrenzt. Unglücklicherweise erinnern die hinter den Reißbrett-Häusern, die man nach Beseitigung der Altimmobilien später rechts und links des barocken Rathauses gesetzt hatte, befindlichen bieder-schrecklichen Werkbund-Verunstaltungen an deutsche Gebäude der dreißiger Jahre. Aber nicht vergessen werden sollte dabei: Ein paar hundert Jahre zuvor hatten es die Marseillais allerdings selbst vorgemacht, wie man sogenannte Kriminelle wegsaniert — beispielsweise den ausgeuferten Hafenstrich ...

Und, ach ja, Fos, wie am Freitag erwähnt, diese, im Wortsinn, ausufernde französische Gigantomanie der sechziger Jahre. Winzig, geradezu grotesk klebt das alte Fos-sur-Mer mit seiner romanischen Kirche und den noch älteren Befestigungsanlagen mittendrin, obendrauf. Eingeschnürt von Schwerindustrie mit Stahl, Aluminium und Petrochemie, vom Erdölhafen und Leitungen nach Norden. Es ist im Nachhinein vermutlich gar nicht mehr zu ermessen, was da alles kaputtgemacht wurde. Nun wird eben neu kaputtgemacht.

Ich nehme direkt die Abfahrt — und tauche hinein in die kleine Welt unseres Heileheilesegens, unserer Insel der Glückseligkeit. Eigentlich gibt es ja eine sehr viel schönere Zufahrt. Seit 2001 kann man von Vitrolles her über das Massif la Nerthe ins nachkriegerisch eingemeindete Städtchen fahren. Ach, was denke ich da für einen Unsinn! Das konnte man früher auch schon. Aber längst haben sie's zur Rennstrecke ausgebaut. Wahrscheinlich, daß ein paar Ortskundige zügiger zum Flughafen Marignane gelangen oder nach Vitrolles. Vielleicht Le Pen, um schneller zu seinem ihn nach wie vor anbetenden Stimmvieh zu kommen. Die Außerirdischen nehmen ohnehin die Autoroute, weil sie Angst haben, sich zu verfahren. Das ist aber auch gut so. Denn in l'Estaque selbst weist glücklicherweise kaum etwas darauf hin, daß man hinter den Hügeln recht gut durchrauschen kann (Sinnbild). Die größeren Lieferwagen bleiben ohnehin weg von diesem Weg, da er trotzalledem noch immer zu viele Kurven aufweist. Richtig — sollen sie auf der Autobahn bleiben. Wir wollen in Ruhe unseren kleinstädtischen Bilderbuchsozialismus, unsere französische Kinowelt leben.
 
So, 10.05.2009 |  link | (7052) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 

Suchend versuche ich's

jetzt hier: Hat irgendjemand von den freundlichen Menschen, die mich beziehungsweise mein Poesiealbum manchmal besuchen, Texte von mir irgendwo verlinkt oder auf eine andere Weise darauf hingewiesen? Zwei davon befinden sich seit dem 2. April nämlich langsam, aber unaufhaltsam auf dem Weg zum Gipfel. Allzu gerne wüßte ich, wer ihnen den steinigen Weg zum Olymp bereitet hat. Auch ließe sich sagen: es macht mich mittlerweile konfus oder: Ich platze vor Neugier.

Ich nenne sie bewußt nicht beim Titel, weil es sonst die Bilanz verfälschte. Und von der Art hatten wir ja genug in letzter Zeit.
 
Sa, 09.05.2009 |  link | (2100) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Aktuelles und Akutes



 

Liebesgeschichte(n)

Hirnkino für Hanno Erdwein und Gattin. Und selbstverständlich auch für die, die's ebenfalls mögen.

Schon hinter Vitrolles spürt man es. Dann, nach dem Kreuz, wo die Autobahn von Westen, etwa von Martigues her einmündet, sieht man es — la mer. Es ist nicht zu beschreiben. Ein pulsierendes, immer höher schlagendes Herz ist nicht zu zeigen. Selbst eine Kamera des höchsten technischen Niveaus vermag lediglich die ansteigende mechanische Pumpfrequenz abzufilmen — die chemische Reaktion dieses Glücksgefühls bekommt sie nicht aufs Bild. Weit geht der Blick hinunter auf die Rade de Marseille; auch am Mittelmeer kann's blasen, und manchmal, eigentlich unvorstellbar so kurz vor Afrika, gibt's sogar richtig Schnee. Aber bei guter, also spätfrühlingshafter Sicht reicht er bis hin zu den Îles de Frioul, zum Zeugungsort meiner armenisch-nordafrikanischen Calypso mit Blut aus Sand, der Île Ratonneau, deren Grenze zur Nachbarin Île Pomègues diese wunderschöne offene, bei aller Geborgenheit das Gefühl grenzenloser Freiheit bietende Badewanne ist, und zum alten Knast des Grafen, der ja tatsächlich existierte, was die wenigsten wissen — la taule de histoire. La vie est un roman!

Zur Linken zeigt sich weit unten die sich über dreißig Kilometer ans Meer schmiegende Métropole du sud mit ihren Ausuferungen, nur unterbrochen — wenn der Begriff der Unterbrechung hier allerdings fast Blasphemie ist — von unzähligen Buchten, insgesamt vierundzwanzig Kilometer Calanques, die unvergleichlichen Buchten mit blauem, grünem, türkisem, manchmal, von den leuchtenden Felsen her fast weißem Wasser, je nach Tiefe. In den Höhlen übersommert so mancher Naturfreund. Und man verhaftet ihn nicht. Gegenüber dem etwa dreißig Kilometer entfernten Cassis ragen die höchsten Meeresklippen Europas auf. Nicht so überragend ist dabei, daß ein — mittlerweile auch keine englischen — Fußbälle mehr fangender Kahlkopf da oben wohnt. Neben altem Adel. Selbstverständlich. Neues Geld zu altem. Die 1864 geweihte Notre-Dame de la Garde begrüßt mich. Sie versucht es immer wieder, obwohl sie genau weiß, daß ich eher ein Techtelmechtel mit dem romanischen Saint Victor habe. Die Stille steht mit sechs- bis neunhundertjähriger Ruhe auf fünfzehn Jahrhunderte altem Grund inmitten des siebten Arrondissements. Die im Vergleich dazu backfischige Basilika-Dame oberhalb von Vauban oder Endoume oder Saint Victor oder wo auch immer — man sieht sie von überall — ist nicht weit davon entfernt, doch sie überragt eben alles und macht sich ein bißchen wichtig. Dementsprechend huldigt ihr auch der — im Vergleich zu anderen großen alten Stätten gleichwohl harmlose — Tourismus, der sich in die geheimnisumwobene Verbrecherstadt des deutschen Sechziger-Jahre-Kinos getraut. Die gigantische Hafenanlage macht sich ebenfalls bemerkbar. Unsinn. In dieser Stadt macht sich bis auf ein paar jüngere BMW-Cabrio-Beurs und eben Notre-Dame de la Garde niemand wichtig.

Der neue Hafen hat wichtigeres zu tun, als ausgerechnet auf mich winzigen, inzwischen ebenfalls antiken Heimkehrer zu achten. Er schiebt sie hinaus, die Fähren nach Afrika, nach Korsika, die Schiffe in alle Welt. Immerhin ist er zusammen mit dem einst gallisch-römischen, nur noch in kümmerlichen Resten ans 12. Jahrhundert erinnernde und heute völlig verdreckten Fos-sur-Mer der nach Rotterdam und Antwerpen drittgrößte Europas; vielleicht aber stimmt das nicht mehr und der schwesternstädtische hat ihn längst überrankingt als Kraftmeier des über die Meere schwimmenden Konsums. Ohnehin hat der Hafen, der alte, heute nur noch als historisches, dem Tourismus dienendes Schmuckstück herumliegende, für Marseille bei weitem nicht mehr die Bedeutung, mit der er diese Stadt über zweieinhalb Jahrtausende geprägt hat, nachdem Protis an Land gegangen war, um sich mit der schönen Ligurerin Gyptis zu vereinen. Protis war Phäake, und die Phäaken, dieses Seefahrervolk von der Insel Scheria, hatten nicht nur einen gastfreundlichen König namens Alkinoos, der den schiffbrüchigen Odysseus aufnahm, um ihn dann in sein Ithaka zu geleiten. Er hatte auch eine schöne Tochter. Nausikaa war es, die den gestrandeten Odysseus fand und ins Haus ihres Vaters führte. Immer diese Mädels. Wie in Marseille. Es wurde von der Liebe gegründet. Aber diese sehr viel eher mit Griechenland als mit Frankreich verwandte Schönheit ist ja sowieso längst selbst Mythos. Und die Mythologie (über-)lebt eben nur in ihres ürsprünglichen Wortes Bedeutung — in der Erzählung, in der Überlieferung. Hier eben als Liebesgeschichte.


Die anläßlich des 2.500. Geburtstages von Marseille abgebildeten Gyptis und Protis entstammen dem Aufsatz Who were the «Celts» des Institute for Advanced Technology in the Humanities der University of Virginia aus der Reihe Ethnic and Cultural Identity, worin die Autoren «the mysterious Ligurians» zur Sprache bringen. Ach ja, unsere US-amerikanischen Freunde: God moves in mysterious ways.
 
Fr, 08.05.2009 |  link | (9003) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 







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