Liebesgeschichte(n)

Hirnkino für Hanno Erdwein und Gattin. Und selbstverständlich auch für die, die's ebenfalls mögen.

Schon hinter Vitrolles spürt man es. Dann, nach dem Kreuz, wo die Autobahn von Westen, etwa von Martigues her einmündet, sieht man es — la mer. Es ist nicht zu beschreiben. Ein pulsierendes, immer höher schlagendes Herz ist nicht zu zeigen. Selbst eine Kamera des höchsten technischen Niveaus vermag lediglich die ansteigende mechanische Pumpfrequenz abzufilmen — die chemische Reaktion dieses Glücksgefühls bekommt sie nicht aufs Bild. Weit geht der Blick hinunter auf die Rade de Marseille; auch am Mittelmeer kann's blasen, und manchmal, eigentlich unvorstellbar so kurz vor Afrika, gibt's sogar richtig Schnee. Aber bei guter, also spätfrühlingshafter Sicht reicht er bis hin zu den Îles de Frioul, zum Zeugungsort meiner armenisch-nordafrikanischen Calypso mit Blut aus Sand, der Île Ratonneau, deren Grenze zur Nachbarin Île Pomègues diese wunderschöne offene, bei aller Geborgenheit das Gefühl grenzenloser Freiheit bietende Badewanne ist, und zum alten Knast des Grafen, der ja tatsächlich existierte, was die wenigsten wissen — la taule de histoire. La vie est un roman!

Zur Linken zeigt sich weit unten die sich über dreißig Kilometer ans Meer schmiegende Métropole du sud mit ihren Ausuferungen, nur unterbrochen — wenn der Begriff der Unterbrechung hier allerdings fast Blasphemie ist — von unzähligen Buchten, insgesamt vierundzwanzig Kilometer Calanques, die unvergleichlichen Buchten mit blauem, grünem, türkisem, manchmal, von den leuchtenden Felsen her fast weißem Wasser, je nach Tiefe. In den Höhlen übersommert so mancher Naturfreund. Und man verhaftet ihn nicht. Gegenüber dem etwa dreißig Kilometer entfernten Cassis ragen die höchsten Meeresklippen Europas auf. Nicht so überragend ist dabei, daß ein — mittlerweile auch keine englischen — Fußbälle mehr fangender Kahlkopf da oben wohnt. Neben altem Adel. Selbstverständlich. Neues Geld zu altem. Die 1864 geweihte Notre-Dame de la Garde begrüßt mich. Sie versucht es immer wieder, obwohl sie genau weiß, daß ich eher ein Techtelmechtel mit dem romanischen Saint Victor habe. Die Stille steht mit sechs- bis neunhundertjähriger Ruhe auf fünfzehn Jahrhunderte altem Grund inmitten des siebten Arrondissements. Die im Vergleich dazu backfischige Basilika-Dame oberhalb von Vauban oder Endoume oder Saint Victor oder wo auch immer — man sieht sie von überall — ist nicht weit davon entfernt, doch sie überragt eben alles und macht sich ein bißchen wichtig. Dementsprechend huldigt ihr auch der — im Vergleich zu anderen großen alten Stätten gleichwohl harmlose — Tourismus, der sich in die geheimnisumwobene Verbrecherstadt des deutschen Sechziger-Jahre-Kinos getraut. Die gigantische Hafenanlage macht sich ebenfalls bemerkbar. Unsinn. In dieser Stadt macht sich bis auf ein paar jüngere BMW-Cabrio-Beurs und eben Notre-Dame de la Garde niemand wichtig.

Der neue Hafen hat wichtigeres zu tun, als ausgerechnet auf mich winzigen, inzwischen ebenfalls antiken Heimkehrer zu achten. Er schiebt sie hinaus, die Fähren nach Afrika, nach Korsika, die Schiffe in alle Welt. Immerhin ist er zusammen mit dem einst gallisch-römischen, nur noch in kümmerlichen Resten ans 12. Jahrhundert erinnernde und heute völlig verdreckten Fos-sur-Mer der nach Rotterdam und Antwerpen drittgrößte Europas; vielleicht aber stimmt das nicht mehr und der schwesternstädtische hat ihn längst überrankingt als Kraftmeier des über die Meere schwimmenden Konsums. Ohnehin hat der Hafen, der alte, heute nur noch als historisches, dem Tourismus dienendes Schmuckstück herumliegende, für Marseille bei weitem nicht mehr die Bedeutung, mit der er diese Stadt über zweieinhalb Jahrtausende geprägt hat, nachdem Protis an Land gegangen war, um sich mit der schönen Ligurerin Gyptis zu vereinen. Protis war Phäake, und die Phäaken, dieses Seefahrervolk von der Insel Scheria, hatten nicht nur einen gastfreundlichen König namens Alkinoos, der den schiffbrüchigen Odysseus aufnahm, um ihn dann in sein Ithaka zu geleiten. Er hatte auch eine schöne Tochter. Nausikaa war es, die den gestrandeten Odysseus fand und ins Haus ihres Vaters führte. Immer diese Mädels. Wie in Marseille. Es wurde von der Liebe gegründet. Aber diese sehr viel eher mit Griechenland als mit Frankreich verwandte Schönheit ist ja sowieso längst selbst Mythos. Und die Mythologie (über-)lebt eben nur in ihres ürsprünglichen Wortes Bedeutung — in der Erzählung, in der Überlieferung. Hier eben als Liebesgeschichte.


Die anläßlich des 2.500. Geburtstages von Marseille abgebildeten Gyptis und Protis entstammen dem Aufsatz Who were the «Celts» des Institute for Advanced Technology in the Humanities der University of Virginia aus der Reihe Ethnic and Cultural Identity, worin die Autoren «the mysterious Ligurians» zur Sprache bringen. Ach ja, unsere US-amerikanischen Freunde: God moves in mysterious ways.
 
Fr, 08.05.2009 |  link | (8655) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches


hanno erdwein   (08.05.09, 17:32)   (link)  
Dank für Köstlichkeiten!
Meine Frau Lyra und ich haben Ihre wort-filmische Darbietung sehr genossen. Sie haben mal wieder einen recht weiten rundumschlag durch Antike und Gegenwart vollführt. Man möchte gern Odysseus sein, der bei den freundlichen Feaken Aufnahme fand. Schade, daß sich Poseidon an den Menschenfreunden rächen mußte. Das Mittelmeer lockt und reizt immer stärker! Nochmals Dank fürs Entführen.


jean stubenzweig   (08.05.09, 18:13)   (link)  
Die Redaktion
der Blogbibliothek hat für morgen das Erscheinen des Ihnen gewidmeten Hirnkinos von heute avisiert. Sie sind also mittendrin. Es wird Ihnen gefallen.


hanno erdwein   (09.05.09, 11:28)   (link)  
Und ob es mir gefällt!
Finde es großartig und freue mich! Dank für alles.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5806 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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