Reifende Früchte Der Geschichte Ungleiche Brüder erster, zweiter, dritter , vierter, hier fünfter Teil. Gegen achtzehn Uhr schob der Bruder ein außerordentlich umfangreiches Stück Quiche à la lorraine in den kleinen Strahlenkasten. Dabei gackerte er fortwährend etwas von einer «Junggesellenmaschine». Als er die beiden verdutzt fragenden Gesichter sah, erklärte er seiner Gattin, mit dem Kopf auf seinen mittlerweile mit einem Pastis ausgestatteten nahen Verwandten weisend, von dem da, dem Kleinen, habe er das. Das sei früher dessen Bezeichnung für den so verachteten Mikrowellenherd gewesen, den der ja nicht benötige, da er selber und richtig koche oder sich bekochen lasse. Er erinnerte sich. Tatsächlich befand sich in seinem Haushalt längst ebenfalls ein solcher, den er sogar selbst gekauft hatte, wenn auch mehr aus Mitgefühl mit den Werkern, denen zusehends mehr abverlangt wurde, nachdem der Gründer der Fabrik in der Normandie dieselbe seinen Mitarbeitern «überlassen» hatte. Doch da er unmittelbar danach keine weiteren Gedanken mehr an dieses Ereignis verlor und ihn auch nie benutzte, was auch kaum möglich gewesen wäre, war er doch nahezu unerreichbar weit oben aufgestellt worden und ihm somit der möglicherweise tatsächlich von ihm geprägte Begriff abhanden gekommen. Des Bruders Gedächtnis indessen schien von der Zeit ihrer beider letzten Begegnungen zu zehren, die weit davor lag. Ob er seine Hure de cochon nicht möge, fragte sie ihn, sie habe den Schweinskopf eigens für ihn gekauft. Sie könne ihn ja zubereiten, er äße ihn morgen, er habe schließlich eine Junggesellenmaschine, aber nun müsse er sich hinlegen, er habe eine anstrengende Nachtschicht vor sich. Er schlang das enorme Stück Speckkuchen hinunter und verließ die Küche, ohne den Gesprächspartnern auch nur einmal in die Augen geschaut zu haben. Nach dem Ausschlafen werde er abreisen, teilte er ihr lakonisch mit, er wisse nicht, was er hier ansonsten zu tun habe. Zunächst einmal gut essen, entgegnete sie, in etwa einer Stunde sei alles bereit. Und ob sie nicht, schob sie fast ein wenig herausfordernd lächelnd nach, auch eine kleine Begründung für seine Anwesenheit sein könne. Die Vorstellung habe durchaus etwas Appetitliches, dachte er, aber sagte es nicht. Er vermied eine klare Antwort, indem er lediglich nickte. Lieber nahm er von dem weißen Burgunder, den sie für ihn geöffnet hatte mit der Bemerkung, der Bruder tränke so etwas leider nicht, lieber mal ein Bier oder auch zwei, die nähme er dann allerdings inmitten der Kollegen. Für später habe sie ihnen beiden noch eine schöne Flasche Champagner kühlgestellt, ein Freund sei in einer kleinen Kellerei tätig, die diesen ambrosischen Trank ausschließlich für Franzosen produziere und der bereits nach Aphrodites Meeresschaum rieche. Auf das Essen freute er sich, durchaus auch auf das Danach, die Unterhaltung mit ihr, die zusehends aus dem Bild eines eurasischen Dummchens heraustrat, das er von ihr gezeichnet hatte. Andererseits begannen ihm ihre Koketterien zunehmend auf die Nerven zu gehen. Er mochte es nicht, wenn Frauen sich als Damen gerierten und damit alle Natürlichkeit an der Garderobe abgaben, weil sie glaubten, Männern damit gefallen zu können oder zu müssen. Selbst wenn er ihren Kulturkreis berücksichtigte, der ohnehin von einem früheren Jahrhundert sowie der Kolonialisation beeinflußt schien. Er kannte diese Attitude, die häufig besonders von Menschen gepflegt wurde, die in den Niederadel eines passablen Einkommens erhöht worden waren, aus anderen französischen Kolonien, selbst dann, wenn es ehemalige sein sollten, wo der Mann noch als jemand gesehen wurde, zu dem mehr oder minder raffiniert aufgeschaut werden mußte. Auf ihn wirkte das als alberne Geziertheit, und die war ihm ein Greuel. Diese Haltung wurde ihm des öfteren zum Vorwurf gemacht, die einmal in der spöttelnden Bemerkung der in Österreich sozusagen gerne in der Diaspora lebenden Freundin gipfelte, er sei gar kein richtiger Franzose oder einer, dem die vielen Auslandsaufenthalte die Wurzeln gekappt hätten. Seine «schöne Arlesierin», wie er sie hin und wieder nannte, hatte es eines Künstlers wegen nach Graz, den Artisten dann ins tiefe Klagenfurt verschlagen, was ihren gewohnten Vorstellungen von Süden zuwiderlief. Worauf sie jedoch nicht etwa in die von ihr bei jeder Gelegenheit gepriesene heimatliche Region am Rand der Camarque zurückkehrte oder zumindest, wie so viele Menschen vom Land, in die weltweit gloriolisierte Metropole der Grande Nation eintauchte. Sie blieb. Aber nicht etwa aus verletztem Stolz, den man ihr zuhause nicht ansehen sollte. Da genoß sie lieber ihren Status als eine Einäugige unter diesen Blinden, die Frankreich aus dem Fernsehprogramm, allenfalls von einem verlängerten Wochenende um Montmarte, Montparnasse und Quartier Latin kannten. Kaum ein gesellschaftliches Ereignis gab es, zu dem sie als «Pariserin», die ihre Hauptstadt auch nur von einigen Wochenenden her kannte, nicht eingeladen worden wäre. Möglicherweise hatte es jedoch auch mit ihren hervorragenden Deutschkenntnisen zu tun, an die sie als Studentin der Germanistik an der Universität zu Montpellier sowie in Bett und Küche des Hochschullehrers gelangt war, des gemeinsamen Freundes aus Köln. Zurückblickend meinte er auch, dieses offenbar von Frauen geforderte Verhalten an seiner Mutter oft genug erlebt zu haben, häufig dann, wenn ihr ein Gläschen mehr verabreicht worden war, und durchweg während ihrer vielen gemeinsamen überseeischen Aufenthalte, obwohl sie verantwortlich im Beruf stand, nicht zuletzt deshalb materiell bestens versorgt war und diese Selbsterniedrigungen nicht notwendig gewesen wären. Der fremderzogene und wohl deshalb leicht andersgeartete Bruder konnte aus diesem Grund über solche Erfahrungen nicht verfügen. Um die Situation zu entzerren, kam er wieder auf die Photographien zurück. Mit leichtem Entsetzen, von dem er nicht wußte, ob es echt oder gespielt war, wehrte sie ab. Später, entgegnete sie mit abgesenkter Stimme, wenn er aus dem Haus sei. So überließ er sich zunächst seinem Schicksal, das außergewöhnlich schmeckte. Seit er zweimal bei dem Freund in Paris zu Gast war, hatte er nicht mehr so gut thailändisch gegessen. Leider war der unlängst nach Brasilien versetzt worden, so daß er seither keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, in den Hochgenuß dieser Küche zu kommen, diesem idealen Konglomerat unterschiedlicher asiatischer und europäischer Regionen. Dieser Freund war es auch, der ihm den Rat erteilte, solche Restaurants grundsätzlich nur in Begleitung jener seiner Landsleute aufzusuchen, die selbst für eine eigene ausgezeichnete Küche bekannt waren. Seine Schwägerin könnte eine solche Begleiterin sein. Doch diesen Gedanken verwarf er rasch wieder, war ihm doch nicht an einer Restauration familiarer Antiquitäten gelegen. Andererseits schufen die unterschiedlichen Genüsse samt dem Wein aus der Nähe von Beaune eine sinnliche Atmosphäre, in der ihm zusehends wohler wurde. Kreuz und quer hatte sie sich durch das Angebot der Märkte gekauft, auch bretonische Austern hatte sie aufgetischt und tatsächlich thailändische Garnelen ergattert. Erst jetzt verstand er es richtig, das entrückte Gesicht des Bruders angesichts der Fülle, wenn der wohl auch eher an die Kosten gedacht haben dürfte. Vier hochwertige Qualitätsreifen samt Felgen, Auswuchtung, Montage und einem Servicevertrag für zwei Jahre dürften sicher einen Gegenwert darstellen. Oder vielleicht zwei Monate täglich Quiche Lorraine. Bis etwa elf Uhr am Abend aßen sie und tranken in einem fort. Dann war ihm nach dem angekündigten Champagner als Krönung des abendlichen Mahls. Sie schüttelte den Kopf, schenkte ihm noch einmal nach vom Grand Cru aus der Bourgogne und meinte, erst sollte ihr Gatte aus dem Haus sein. Dieser besondere Champagner und damit die Verbindung zu dessen Lieferanten löse unter Umständen heftige Reaktionen bei ihm aus, das wolle sie vermeiden. Kurz danach schlurfte sein Bruder in die Küche, sah die immer noch üppigen Reste der Tafelei, warf leicht unwillig den Kopf hin und her, murmelte Unverständliches, das nicht freundlich klang, und verabschiedete sich. Durch das geöffnete Fenster hörten sie, wie der gute Stern angelassen wurde und sich entfernte. Sobald das Geräusch des abfahrenden Diesels, von dem ein Freund einmal meinte, ein solches Auto klänge immer, als ob dessen Motor defekt sei, nicht mehr zu hören war, stand sie auf, ging in den Keller und kam mit einer dort gekühlten Flasche zurück, deren Etikette ihm bekannt vorkam. Und richtig, es war dieser Schaumwein, den seine Gastgeberin Meeresschaum genannt hatte und der ihm vor einiger Zeit von einer Ecuyère de cuisine in Verneuil einmal kredenzt worden war, ein Jahrgangschampagner, wie es ihn ausschließlich im Land gab und von dessen Fruchtbarkeit er wußte. Eine Fortsetzung fehlt sicherlich noch. Vielleicht auch zwei.
Duftmarken Der Geschichte Ungleiche Brüder erster, zweiter, dritter, vierter Teil. Er entließ sich aus dem Grübeln über diese Seltsamkeiten und ging zum direkt nebenan gelegenen Badezimmer, um sich frischzumachen. Wie bereits im unteren Geschoß kam ihm eine Duftmischung aus leichter Muffigkeit und synthetischem Geruchsaufheller entgegen, wie er sie auch aus anderen französischen Haushalten des Nordens kannte. Sogenannte Düfte erfreuten sich im Land der Frische außerordentlicher Beliebtheit, nicht nur im Norden. Einer ansonsten überaus wohlriechenden — Napoleon kam ihm dabei in den Gegen-«Sinn», der in einem Brief an Josephine schrieb, sie möge sich nicht waschen, er komme (in zwei Wochen) heim — und überhaupt appetitlichen jungen Frau, die im österreichischen Süden lebte und nicht allzuoft in den ihres französischen Zuhauses kam, hatte er bei seinen Besuchen von seinen regelmäßigen Reisen via Italien stets drei preiswerte Artikel mitzubringen: zum einen einen bestimmten nußartigen, aber auf ihn doch eher künstlich wirkenden Brotaufstrich, da der vom italienischen Hersteller in ihrem Heimatland weicher, geradezu dünnflüssig hergestellt wurde; der zweite war ein Raumgas, das den im Laboratorium produzierten Lavendel der Haute-Provence suggerierte; sowie der dritte, ein speziell für Frankreich kreiertes und etwas wie Maiglöckchen vermittelndes Geschirrspülmittel eines belgischen Produzenten. Daß sie an kein erwähnenswertes Baguette und andere Selbstverständlichkeiten französischen Lebens kam, daran hatte sie sich gewöhnt. Aber ohne diese synthetischen Geruchsnoten wollte sie nicht leben. Die Neugierde ließ ihn wieder hinausgehen auf den Flur des Obergeschosses. Ob es überall so roch, wollte er wissen. Er öffnete die direkt neben dem Bad gelegene Tür. Es handelte sich dabei offensichtlich um das eheliche Schlafzimmer, stand doch ein sehr breites Bett darin. Andererseits nichts auf eine männliche Anwesenheit schließen ließ, auch keine zwischenzeitliche, und mit Sicherheit nicht die seines Bruders. Dazu war das Zimmer zu angenehm schlicht, ein wenig zu feminin und zudem mit einigen buddhistisch oder auch indisch anmutenden Wandbehängen samt auf einem Stuhl abgelegter, in eine ähnliche Richtung weisende Literatur ausgestattet. Von alldem konnte er sich, nicht nur nach den Worten der mütterlicherseits hinzugeheirateten Stiefschwester, nicht so recht vorstellen, daß der Bruder es in unmittelbarer Umgebung zulassen oder gar goutieren würde. Und es roch, abgesehen von leichtem Parfumschimmer, auch zu neutral. Offenbar wurde es des öfteren gelüftet. Und dann erinnerte er sich, wie rasch er am Telephon war, als seine Frau ihn aus dem Schlaf gerufen hatte. Demnach dürfte er seine Ruhestätte im unteren Bereich des Hauses haben. Es lag auch nahe, denn immer wieder fuhr er auch Nachtschicht, wie er meinte, innerhalb der Gesprächsrunde der Taxifahrer vernommen zu haben. Vom Geschäft war die Rede, das am Freitag ab Mitternacht begänne, manchmal sogar Fahrten bis ins rund sechzig Kilometer entfernte Nancy einbrächte und das man sich selbstverständlich nicht entgehen lasse. Heute war Freitag. Nachdem er weitere Neugier unterdrückt und sich ein wenig aufgefrischt hatte, ging er hinunter. Sein Bruder saß vor dem Fernsehgerät, das er nicht ausschaltete und auch kaum aufblickte, als er in den Raum trat. Es war offensichtlich und wie früher, man hatte sich nicht sonderlich viel zu sagen. Auch das geschwisterliche Wiedersehen nach zwanzig Jahren ergab keinen Wissensdurst. Das schien eine der wenigen Gemeinsamkeiten zu sein, die sie hatten. So bedeutete er dem Bruder, sich ein wenig umschauen zu wollen und fragte, ob es recht sei. Das kurze Nicken des Kopfes, dessen Blick gebannt auf das Gerät gerichtet war, in dem gerade Piloten verschiedener automobilähnlicher Gefährte dabei waren, sich gegenseitig von der Strecke zu rammen, wertete er als Einverständnis. Bevor er sich abwand, schaute er noch einmal genauer hin und sah, daß der eher flaumige Bart die in der Jugend heftige und offenbar noch immer nicht ausgestandene Akne nicht verbergen konnte. So richtete er seinen Blick auf das Ambiente. Es war die obligatorische Einrichtung der meisten Franzosen, die beim Einzug in eine Wohnung oder ein Haus sich einmal eine solche zulegten und dann nie wieder das Bedürfnis nach Erneuerung spürten. Auch der röhrende Hirsch, hier in Form einer Phototapete, die ein Stück recht dunkel bewaldeter nördlicher Vogesen darstellen könnte, wäre da nicht das elsässisch wirkende Dörfchen im Hintergrund, dürfte seit dem Hausbezug die Wand zieren. Die Vergilbung, sicherlich hervorgerufen von den selten ausgehenden und seltsam riechenden Zigarillos, deren Art er meinte, vor langer Zeit in Deutschland gesehen und gerochen zu haben, würde sicherlich halten bis zum Ableben des Hausbesitzers. Für solche Neuerungen mochte man nicht ins Portemonnaie greifen. Das tat man um so mehr für das Essen. Im Land gab man gut zwanzig Prozent seines Einkommens dafür aus. Allerdings zweifelte er an, ob das in diesem Haus ebenso der Fall war. Der heutige Einkauf der Schwägerin schien ihm eher eine Ausnahme zu sein. Um nach ihm zu sehen, ging er dem Geklapper der Töpfe nach, hinüber in die Küche. Die allerdings machte auf ihn den Eindruck, wie ihre Haupt- oder einzige Akteurin jüngerer Generation zu sein. Überrascht war er, sich inmitten einer in letzter Zeit Mode gewordenen sogenannten Cuisine américaine zu befinden, gemäßigt zwar, aber ausreichend für zwei Menschen, die wohl nicht allzu häufig Besuch bekamen, und mit Sicherheit nicht so alt wie der Hausherr. Die Köchin bewegte sich anmutig und lächelnd inmitten von Gerüchen aus fernöstlichen Kräutern und Gewürzen, die ein hohes Maß an Sinnlichkeit verströmten. Ja, das hier sei ihre kleine europäische Kochkiste, ihr petit sanctuaire. Etwas größer hätte sie es sich gewünscht mit etwas mehr fröhlicher Helligkeit und auch ausgestattet mit «offenem Feuer», womit sie das in Frankreich zum Kochen lieber benutzte Gas gemeint haben könnte, aber sie habe dem Gatten glücklicherweise zusätzliches Gerät abtrotzen können, sonst würde das nicht so recht mit dem indochineschen Mahl für den Ehrengast. Da fielen ihm die Photographien wieder ein, und da er nicht annahm, sein Bruder hätte sie für ihn bereitgelegt, fragte er sie danach. Bevor sie sich zur Seite drehen konnte, sah er, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. Offensichtlich stammte diese Art Heiligenbildchen tatsächlich von ihr, und sie hatte sie wegzuräumen vergessen. Oder aber, wohl wissend, daß ihr Mann nie einen Fuß in diesen Haushaltsraum setzte, bewußt für ihn und wie zufällig aufs Bügelbrett drapiert? Langsam drehte sie sich ihm zu und bedeutete ihm mit einem zwar ernsten Gesicht, in dessen Augen er allerdings ein Flunkern zu erkennen glaubte, ihm das erklären zu wollen, aber bitte erst später, wenn der Bruder aus dem Haus sei. Sie habe ihn einfach nicht davon überzeugen können, die Nachtschicht für den doch wahrlich seltenen Besuch ausfallen lassen zu müssen. Von jahreszeitlich bedingten Imponderabilien zum Stillsitzen verurteilt, wollte das kleine Präsent noch raus. Eine Fortsetzung dürfte allerdings aus der Kälte des nahenden nächsten Jahrzehnts kommen.
Bewegung Der Geschichte Ungleiche Brüder erster, zweiter, dritter Teil. Wie sollte er sich verhalten? Bereits die Küsse für die Mutter, auch wenn sie landesübliche auf die Wangen waren, hatten ihn Überwindung gekostet. Und nun dieses grizzlyartige Wesen, aus dessen rötlichbrauner Behaarung etwas Grau durchblitzte, womit die Farbigkeit der Person sich erschöpft hatte. Bestimmt dreißig Kilo hatte er zugenommen seit der letzten Begegnung, es konnten auch vierzig sein, es verlor sich ein wenig bei diesem Hünen, der ihn um zwei Köpfe überragte und die ihn immer wieder einmal hatten rätseln lassen, welche verwandtschaftliche Erbmasse dafür verantwortlich zu machen sein könnte bei elterlichen Formaten wie auch dem eigenen, die weniger Altnormannisches assoziierten als mehr mittelasiatische Reiterei. Der ein wenig an Thor erinnernde Koloß nahm ihm seine Nachdenklichkeit ab, indem er ihn umarmte und ihm anschließend heftig auf die Schulter klopfte. Wie in alten Zeiten, als er ihn unzählige Male gebeten hatte, das zu unterlassen, er sei schließlich kein Römer. Frühstück gebe es später, bei den Freunden. Hierbei regte sich massiver Protest in ihm. Nein, ohne einen Kaffee verlasse er dieses Haus hier nicht. Kaum hatte er es ausgesprochen, stand eine geradezu widerspenstig gelockte Blondine vor ihm, die dem Aussehen nach die frische Tochter eines Sammlers von Pferdefüßen oder ähnlichen Feinheiten aus der Bretagne oder der Normandie sein konnte, und reichte ihm lächelnd eine Tasse mit seinem südlichen Lebenselexier. Hastig schüttet er das passable Gebräu hinunter. Er würde noch einige Tassen benötigen. Das war vermutlich das einzige, das er von der Mutter hatte: Kaffee, zu jeder Zeit und wo auch immer man sich aufhielt. Den Bruder hatte er nie welchen trinken sehen. Seine Hoffnung lag nun alleine bei seiner Schwägerin und deren Ankündigung, ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Ohne Kaffee würde er auf dem Absatz umdrehen und das Haus verlassen. Aber das auch für den Fall, daß man extra für den Kaffeekauf nach Deutschland führe, «der Qualität wegen». Sein Wagen stand in der Hotelgarage. Er durfte ihn dort stehen lassen, das hatte er mit dem Direktor des Hauses vereinbart. Es waren nicht sonderlich viele Gäste anwesend zur Zeit. Er hatte kein Bedürfnis, mit seinem Bruder über Autos zu sprechen. Dazu käme es zwangsläufig, sähe er die Type. Einen solchen Franzosenschrott könne man nicht fahren, allenfalls schnell verkaufen, die Neger da unten in Afrika nähmen sowas gerne, hörte er den begeisterten Anhänger des deutschen Sterns sagen, ihn anheben zu einem sicherlich seit Jahrzehnten gehaltenen Vortrag. Deshalb ließ er es lieber gleich und sich in guter rechtsrheinischer Wertarbeit herumkutschieren. Das schließlich war des Bruders Profession, die sich leidenschaftlich seines Leben bemächtigt hatte, über die ging bereits in jungen Jahren nichts, auch daran dürfte sich nichts geändert haben. Als er eingestiegen war in das schwarze Gefährt, das auch in seinem Herkunftsland gerne als Traktor bezeichnet wurde, fragte sein Chauffeur ihn, wie er eigentlich in die Heimatstadt gekommen sei. Er gab vor, bis Paris geflogen zu sein und von dort aus seine Reise mit der bummeligen Bahn fortgesetzt zu haben. Diese abwertende Bemerkung über ein von ihm nicht sonderlich geschätztes Verkehrsmittel würde ihn milde stimmen, und da der Bruder früher schon nicht geflogen war, weil er unter anderem die Sicherheit des Transportmittels Flugzeug stark anzweifelte, dürfte der die Umständlichkeit einer solchen Reiseroute nicht bemerken. Frankreich verfügte über ein dichtes Netz regionaler Flugverbindungen, und so gab es von allen möglichen Flughäfen aus raschere Wege nach Metz beziehungsweise Nancy. Als Taxifahrer sollte er das wissen, aber Paris klang einleuchtender. Und die Frage nach dem Fahrzeugtyp war damit rascher vom Tisch. Zumal die Autofrage auf andere Weise schnell wieder aufkommen sollte. Auf dem Weg zu den Kollegen waren sie. Denen habe er heute früh zu Schichtbeginn bereits von seiner Ankunft berichtet, und einige unter ihnen seien ihm sicherlich noch bekannt, er ihnen auf jeden Fall. Daß das zwanzig Jahre zurücklag, kam ihm in seinem mikrokosmischen Blick auf die Welt nicht in den Sinn. Er ahnte, worüber gesprochen werden würde oder auch gestritten. So war es denn auch, nachdem ein paar der Herren, an die er sich allesamt nicht erinnerte, ihn begrüßt hatten wie einen in der Fremde verlorenen Sohn. Doch bald kam man zum die Welt bewegenden Thema. Einmal mehr ging des Bruders Stern als Minderheit unter. Doch das focht ihn nicht an. Bei dieser Thematik war er gerne Exot. In anderen Bereichen war man sich schließlich einig. Beim Essen beispielsweise. Da herrschte der regionale Patriotismus vor. So war er dann doch auch recht bestürzt, als er sah, was seine Frau an argen Exotereien eingekauft hatte. Vermutlich dachte er zunächst an die Kosten, etwa, daß man dafür sicherlich vier neue Pneus bester Qualität erwerben könnte. Aber vorrangig dürfte gewesen sein, daß ein Teil des Einkaufs sich noch bewegte. Da die Gattin, ein zartes, geradezu filigranes Geschöpf, diese Bewegung offenbar vorausgesehen hatte, beeilte sie sich, ihm mitzuteilen, eigens für ihn habe sie eine Hure besorgt, auch das sei letztlich eine südostasiatische Spezialität. Damit sei er nicht ganz so ausgegrenzt von der heutigen, zu Ehren des Gastes etwas orientierteren Küche. Das kulinarische Mitbringsel für den Bruder wollte er gar nicht so recht anschauen, doch auch auf die anderen, ihn in all ihrer Farbigkeit schon eher beindruckenden Köstlichkeiten vermochte er sich trotz seiner eigentlichen Wahrnehmungsfähigkeit nicht recht konzentrieren. Um ein Haar hätte er laut ausgerufen: Wie kommt solch ein grober Klotz inmitten dieser Umgebung maschinell gestrickter röhrender Hirsche zu einem derart feinen Gebilde?! Mit einem Mal erinnerte er sich an die wie nebenbei einfließenden Worte der Stiefschwester, denen er keine Beachtung geschenkt hatte, was sie nicht davon abhielt, weitere Charakteristika zu liefern, die ihm nun im eigenen, von leichter Garstigkeit geprägten Wortformat präziser aufschienen. Es sei, nach einer über eine Art Wettbüro gekauften Philippina, die nach einem knappen Jahr gen London entschwunden sei, die dritte, über die erste wisse sie nichts, Ehefrau des Bruders. Diese staatlich sanktionierte Verbindung habe nun bereits seit drei Jahren Bestand. Über Katalog hätten sie sich kennengelernt. Kurz nach ihrem Eintreffen, eine Visitation in ihrem Land habe er aus Verkehrssicherheitsgründen abgelehnt, hätten sie geheiratet. Mit ausschlaggebend dürfte gewesen sein, als sich herausgestellt hatte, daß ihr Vater ein in Indochina stationierter Soldat aus einem lothringischen Dorf nahe der Grenze zu Deutschland war, der in thailändischen Urlaub geflohen und gleich dort geblieben sei. Sieben Kinder habe er hinterlassen. Jedes Jahr eines. Dann sei er erschöpft dahingegangen. Dem Bruder würde das sicherlich nicht passieren. Denn es habe den Anschein, als sei er derjenige, der nicht so recht zugange komme und nicht, wie zuvor gemutmaßt, seine Ehefrauen. Er traute seinen Augen nicht. In dem kleinen Zimmer, in dem vermutlich ansonsten die Wäsche aufbewahrt und geplättet wurde und das für ihn aufgeräumt worden war, lagen auf dem zur Seite gestellten Bügelbrett Photographien. Sofort hatte er sich darauf erkannt. Es waren Bilder ausschließlich von ihm und, bis auf eines, aus einer Zeit, als er sämtliche Familienbande längst gekappt hatte. Dieses eine konnte er seinem Bruder aus Höflichkeit geschickt haben. Es zeigte ihn als jugendlichen Bräutigam neben seiner Braut, die ihm an der Universität in Kopenhagen aufgefallen war, da sie grundsätzlich in Tracht erschien und immer in seiner Nähe Platz nahm. Zwar kam sie aus Südwestfinnland, akzeptierte jedoch, wenn auch widerwillig, seinen Wunsch, in diesem etwas anderen Rathaus zu heiraten, dessen Baumeister er sehr verehrte. Man hatte sich kurz danach in Freundschaft getrennt, sicherlich auch, weil sie ihre Heimatverbundenheit gar zu ungern ablegte. Auf den anderen Photographien war er als agil wirkender Redner in einer Umgebung zu sehen, die Hochschulcharakter hatte. Höchstens anderthalb Jahre alt konnten sie sein, denn zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Gastprofessur im Südwesten Frankreichs angetreten, zugeschanzt von einem Freund mit Lehrstuhl. Wie zufällig lagen sie dort, als hätte man vergessen, sie wegzuräumen. Das bewegte ihn durchaus, machte ihn aber vor allem nachdenklich. Über eine Fortsetzung wird noch nachgedacht. Aber zunächst einmal habe sogar ich den jahreszeitlichen Ereignissen gemäße Verpflichtungen: Erma mam (das ist kleinmoritzisch und heißt in der Übersetzung: Erstmal was essen. Alles andere ist unwichtig.) Ich wünsche allen die dafür erforderliche Ruhe.
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