Zementspaziergang Ich bin in meinem Dachboden der Erinnerung auf einen Vortragstext gestoßen, der unter anderem einen Exkurs in den Beton zum Inhalt hatte. Zwar ist er etwas betagt, aber nach erneuter Lekture stelle ich fest, wie aktuell er ist. Deshalb (und des offensichtlichen Interesses wegen) stelle ich ihn als mögliche Anregung und in Ergänzung zu Von Bau- und anderen Häuslern sowie Steinbrüche der Formen unverändert hier ein. Ich warf zur Veranschaulichung — so machte man das früher — seinerzeit einige Dias an die Wand, die mir allerdings nicht mehr zur Verfügung stehen, nicht, weil sie dabei kaputtgegangen wären, sondern weil ich mal mächtig aufgeräumt und so Bild-Abfall produziert habe; aber teilweise konnte mir das nette Netz mit Beispielen behilflich sein. ![]() Ich möchte im Rahmen meiner Rede am Rand etwas aufgreifen, das im Zusammenhang mit der Kritik an der sogenannten modernen Architektur als Verursacherin einer Katastrophe für die Menschheit bezeichnet wird. Ich meine das Baumaterial Beton. Dazu möchte ich aus einem Aufsatz zitieren, den Dolf Schnebli, Professor für Architektur und Entwurf an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, der ETH, in der ersten Ausgabe der Zeitschrift für Architektur — Internationale Beispiele für zeitgemässes Bauen in Beton, veröffentlicht hat. Ich möchte deshalb aus diesem Aufsatz zitieren, weil ich mit Herrn Schnebli im wesentlichen einer Meinung bin und es wohl kaum treffender formulieren könnte. Er schreibt: «Schon lange rege ich mich darüber auf, wie in den Tageszeitungen über das Bauen geschrieben und am Radio darüber gesprochen wird. [...] Wenn gebaut wird und einige Treppen zu einem Eingang führen, wird nicht von baulichen Hindernissen für Behinderte, sondern von architektonischen Barrieren gesprochen. Damit werden Architektur und die Architekten zu Bösewichten gestempelt.» Er, Schnebli, «wurde recht stutzig», als er «in einem Text Friedrich Dürrenmatts den Begriff die verbetonierte Landschaft las. «Wenn selbst ein begnadeter Schriftsteller solche Clichés übernimmt, ist es an der Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, woher solche Missverständnisse kommen. Die verbetonierte Landschaft — die Stadt als Betonwüste — im Beton-Ghetto wohnen — die verbetonierte Zukunft — alles Ausdrücke, die von vielen Leuten gebraucht werden, die weder wissen, was Beton ist, noch sich darum bemühen, genau zu erkennen, woher das Unbehagen stammt, dem sie mit übernommenen Schlagworten Ausdruck verleihen.» Jetzt mache ich im Aufsatz von Dolf Schnebli* einen weiten Schritt nach vorn, einmal, um zum von mir angeführten Beispiel Olympiadorf, sprich der Möglichkeit des menschenwürdigen Bauens in Beton zu kommen (die durch immense Schludrigkeit herbeigeführten Bauschäden lasse ich aus Zeitgründen außer acht), und zum anderen, um die These — mit dem anschließenden Bildbeispiel — zu widerlegen, mit Beton könne man nicht ästhetisch bauen — was alleine sowohl sprachlich als auch inhaltlich falsch ist. Schnebli schreibt — und damit ist sowohl die aktuell praktizierte postmoderne Architektur gemeint als auch falsch verstandener Denkmalschutz: «Dem Problem der Einpassung, das etwelche geistige Anforderungen stellt, wird dadurch ausgewichen, dass alte Fassaden stehen gelassen werden und, wie es in der Fachsprache heisst, dahinter ausgekernt wird. Man tut so, als ob das Ganze ein altes Gebäude sei, und im Innern wird gedankenlos gebaut wie eh und je. Getragen von der Nostalgiewelle der öffentlichen Meinung wird das Echte vorgetäuscht und so die Welt wieder in Ordnung gebracht.» Texte zu den einzelnen Dias Machen wir mal an Hand der Bildbeispiele so eine Art Lebenslauf in Sachen Beton durch. Wir können uns aussuchen, ob wir in einem Einfamilienhaus aufwachsen wollen wie in diesem von Mario Botta im schweizerischen Pregassona. Dieses Haus aus Zementsteinen steht auf einem kleinen Hanggrundstück in einer weitläufig bebauten Wohngegend des nördlichen Stadtrandes von Lugano. Das Gebäude ist innen wie außen in Sichtmauerwerk aus grauen Zementsteinen erbaut. Innen wurden die Wände weiß gestrichen. Die ebenen Deckenplatten sind aus Stahlbeton, die an der Unterseite naturfarben belassen und nur durch die sauberen Schalttafelstöße fein unterteilt sind. Möglicherweise haben sich unsere Eltern aber entschlossen, uns in einer, mit Verlaub, Ausgeburt postmoderner Architektur aufwachsen zu lassen. Diese Stileversammlung aus Beton stammt von Ricardo Bofill und steht Welchen Schaden wir auch immer durch die Architektur erlitten beziehungsweise in welchem Maße sie zu unserem kindlichen Wohlbefinden beigetragen hat: wir müssen zur Schule, auf daß aus uns etwas werde. Gehen wir mal davon aus, daß unsere Eltern nach Amsterdam umgezogen sind und in die Apollo-Schule von Herman Hertzberger gesteckt haben; möglicherweise zuvor in den der Schule angeschlossenen Kindergarten. Die in Typus, Größe und Erscheinungsbild fast gleichen Schulgebäude unterscheiden sich äußerlich lediglich durch die Fensteranordnung infolge ihrer jeweils anderen Lage auf dem Grundstück und etwas in der Eckausbildung am SchuIhauseingang. Die Konstruktion, als architektonisches Ordnungsprinzip aufgefaßt, setzt sich zusammen aus einem zweiteiligen Stahlbetonskelettgefüge mit Auskragungen, ebenen Deckenplatten sowie Treppen- und Stufenanlagen, die zwischengehängt sind. Die außen zum Teil das Skelett verdeckende Ausfachung besteht aus Zementstein-Sichtmauerwerk, desgleichen im Inneren. Gesetzt den Fall, wir sind mit unseren Erzeugern in die Schweiz übersiedelt und leben in Monte Carasso. Dann ließe sich in der Turnhalle der örtlichen Primarschule, gebaut von Luigi Snozzi, der damit 1985 den schweizerischen Architekturpreis Beton erhielt, doch recht gut toben, und nicht nur in der Halle selbst. Die Turnhalle wurde nach einem neu erstellten Rahmenplan von Snozzi in das historische Klosterarreal von Monte Carasso integriert. Das neue Material Sichtbeton, so der Architekt, «führt [...] zu einem Dialog mit den alten Steinmauern und den verwaschenen Verputzen, ohne jedoch ursprüngliche Formen und Materialien durch nostalgische Interpretationen wiederzugeben». Wir haben sämtliche Bildungshürden genommen und folgen einem attraktiven Angebot des Österreichischen Rundfunks — schließlich wollen wir nicht in der öffentlich–rechtlichen Diaspora arbeiten —, ins Landesstudio Burgenland, bedacht mit einem passablen Redakteursgehalt, um über Kunst und Architektur zu sinnieren. Wo ließe sich das besser tun, wie ich meine, als in diesem Betonbau von Gustav Peichl. Hier wurde meines Erachtens mithilfe der Grundzüge des Neuen Bauens städtischer vorgegangen als in seines Landsmanns Hans Hollein nachmodernem Museum Abteiberg im ebenso provinziellen Mönchengladbach, in dessen Schönheit man sich auch schonmal verläuft. Es könnte aber auch sein, daß wir den Sicherheitsbestrebungen unserer Eltern gefolgt sind und einen anständigen Beruf erlernt haben, der uns alle Chancen der freien Wirtschaft bietet. Dann sind wir möglicherweise bei dem Bauunternehmen Zueblin gelandet und somit in dessen neuem Firmensitz in Stuttgart. Gebaut hat ihn Gottfried Böhm, zu dessen Architektur ja wohl weiter nichts zu sagen ist — sie spricht für sich, wie dieses Gebäude, das siebenhundert Arbeitsplätze beherbergt. Nur so viel vielleicht: Die Konstruktion der massiven Bürotrakte zeigt eine Mischbauweise. Neben den vorgehängten Brüstungselementen mit angesetzten Trennwandpfosten wurden alle tragenden Stützen, innen ebenso wie außen, und sämtliche Balken des Skelettgefüges aus Stahlbeton vorgefertigt und am Ort montiert. Lediglich die Deckenscheiben und aussteifenden Wände sind aus am Ort gemischtem Beton. Es ist uns gelungen, nach einem mehr oder minder arbeitsreichen Leben, zu so viel Geld zu kommen, daß wir uns zu Lebzeiten einen Privat-Friedhof entwerfen und bauen lassen können — wie das die italienische Fabrikantenfamilie Brion in San Vito, nördlich von Treviso in der Region Venetien gelegen, getan hat. Der Entwurf dieser zweitausend Quadratmeter großen Anlage am Rande des kleinen Dorffriedhofes stammt von Carlo Scarpa und ist sein letztes (bis 1976) zu Ende geführtes Werk. Hier wird, so meine ich, deutlich, daß sogar eine so sakrale Angelegenheit wie ein Friedhof — auch in Beton — unpathetische Würde ausstrahlen kann. * Dolf Schnebli, Gestaltung von Betonbauten, in: Bauen in Beton, Zeitschrift für Architektur, Internationale Beispiele für zeitgemässes Bauen in Beton, Zürich 1986, S. 3 Angeregt zu diesem Zementausflug wurde ich Mitte der achtziger Jahre von Klaus Kinold, der die neue Zeitschrift gegründet hatte und die nach wie vor existiert: Bauen in Beton • Construire en béton, wenn auch unter neuer Regie. Zwar ist das Blatt neu gestaltet, aber die Inhalte mit umfassenden Aufsätzen und internationalen (Bild-)Beispielen wurde beibehalten. Es kann bei cemsuisse kostenlos bezogen werden.
Offenbar ist mir's gelungen, hier einigen von außerhalb den Zugang aufs hiesige Grundstück zu verwehren. Wem nach Anmerkungen oder Kommentaren ist, aber nicht aufs Gelände kommt — bei Exportabel wurde mir ein Plätzchen für Protestnoten gewährt; dort kann man wütend nach einem Schlüssel fürs Burgtor verlangen. Nieder mit dem Teufelsberg! Freier Blick aufs Mittelmeer.
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