Gewaltige (An-)Triebe Kein Text-, mehr so Ideenklau. Die Inspiration als Archäologin meiner verschütteten Erinnerungen. Als ich mit Peter Rühmkorf Ende der siebziger Jahre im tiefen Keller des nicht ganz so altehrwürdigen Münchner Rathauses ins Gespräch kam — ich meine, mich an diesen Anlaß zu erinnern —, da ich ihn zu diesem und jenem befragen sollte und als erstes seine Meinung zu diesem «jugendlichen Autoren» wissen wollte, sagte er mir, «Junge, bevor wir weiterreden, erstmal eins: hör bitte mit diesem Autoren auf. Du sagst doch auch nicht: Du kannst mir mal den Motoren reparieren.» Wie komme ich denn bloß darauf? Sprachwandel? Ach nein, das muß jetzt nicht sein. Der Anlaß ist ein Anlasser, der sich im niedlichen französischen Automobil meines damaligen Pferdemädchens befand und der den Motoren anlassen sollte. Das tat er aber nicht so oft. Deshalb mußte man, wollte man beispielsweise zu einer Beerdigung fahren, die Motorenhaube öffnen, den immer unterm Fahrersitz parat liegenden Hammer nehmen und draufhauen. Auf den Anlasser. Denn gewaltlos ließ der nicht an. Das schien lange Zeit die einzige Möglichkeit zu sein, bestimmten West-Automobilen Antrieb (oder heißt das Vortrieb?) zu verschaffen. Manchmal, das schien eine weitere Variante der vielfältigen französischen Krankheit zu sein, versagten auch die Antriebswellen. Das klang so lustig. Wenn es bei meinen drei R vier vorne taktvoll klackerte, dann wußte ich, das waren nicht die Zikaden rechts und links der Autoroute, sondern die Rufe der Werkstätten. Die hatten die seinerzeit in Massen vorrätig. Die Massen fuhren allerdings auch nicht mit diesen antriebslosen Franzosen. Jedenfalls nicht rechtsrheinisch. Verständlich. Denn denen gegenüber hatte man nicht nur seine historisch bedingten Vorbehalte. Denn wer Frösche frißt, der baut auch keine soliden oder auch ordentliche Autos. Da ist was dran. Weshalb es auch nicht ohne weiteres möglich war, geeignete Reparateure zu finden. Bevor ich es mir leisten könnte, die Schnauze gänzlich voll zu haben von wirtschaftlichen Formeln pseudopatriotischer Art und für längere Zeit bis hin zu reumütiger Rückkehr auf deutsche Wertarbeit aus Wolfsburg und dann — schließlich! — aus Untertürkheim umzusteigen, war ich beharrlich und vielleicht auch ein wenig halsstarrig weiterhin confortable, also gemütlich unterwegs. Zur Gemütlichkeit gehörte lange Zeit die Nordsee. Die mochte ich schon immer, wie jedes Wasser eben, aber während meiner 504-Epoche tat sich eine verstärkte Freundschaft zu diesem gewaltig getriebenen Meer auf, als es ein mit mir befreundetes kulturkatholisches oberbayerisches Paar in die eigentlich unvorstellbare Diaspora verschlagen hatte, nach Husum, in die protestantisch graue Stadt am grauen Meer, dennoch lange Zeit größter Viehmarkt Europas und deshalb wohl versehen mit einem geradezu ungewöhnlich belebten farbenprächtigen Flugplatz für Bordsteinschwalben aller erdenklichen Typen. Es schien so eine Art Entwicklungshilfe oder: bayerische Ärzte — mittlerweile dürfte mein merkwürdiger Hang zu Medizinern ja bekannt sein — ohne Grenzen retten die nordfriesische Menschheit vor den Spätfolgen dieses Tsunamis der Sittenlosigkeit. Über Hamburg fuhr man dorthin. Hatte man es, wie der oberbayrische Medicus, sehr eilig, wieder an Labskaus und Nordschnaps in Teetäßchen zu kommen, bretterte man über die Autobahn Richtung Flensburg bis Schleswig und bog dann links ab auf die Rennstrecke, die die Schleswig-Holsteiner zwischen Ost- und Nordsee hin- und herwirft wie die Wellen trekken an Strand. Man kann aber auch, wenn man eher so ein Gemütlicher ist wie ich, den Weg über Heide nehmen und dann über die Dörfer weitergondeln. Ausgegondelt hat sich's allerdings, wenn das Franzosomobil, wie anders in solcher Landschaft, vor allem aber bei solcher Küche, antriebsschwach ist. Bereits in Hamburg hatte dem 504 alles nicht so recht behagt und es ihn fiebergleich durchgeschüttelt. Zwei voneinander unabhängige Essyaisten der Motorentechnik hatten jeweils ein bis zwei Stunden recht rat- oder auch herzlos am Froschfressermobil herumgeschraubt. Danach bewegte es sich wieder etwa drei bis vier Kilometer, um sich im Anschluß daran erneut geradezu epileptisch zu schütteln. Ein dritter schaffte es schließlich, dem Gefährt soviel Antrieb dranzudrehen, daß es es bis Rendsburg schaffte — man hatte uns geraten, vorsichtshalber diesen Weg zu nehmen, da der andere über die Dörfer noch franzosenfeindlicher sei. Dort neuerliche Schraubversuche. Wieder ein paar Kilometer weiter. Diesmal bis Schleswig, wo ich eigentlich links abbiegen wollte, um bald ein Täßchen Aquavit mit einem Schuß Tee und pralle oberbayrische, mit ersten platten Plattversuchen durchsetzte Töne genießen zu können. Das klang nämlich mindestens so komisch wie die Versuche der mitreißenden bernerischen Gefährtin, wenigstens in fremdem Sprachgebiet endlich als Münchnerin anerkannt oder sicherlich auch des Nichtberners, im Berner Oberland nicht als Tourist identifiziert zu werden. Im niedlichen Städtchen an der Schlei schüttelte man in der Fachwerkstatt — es waren allesamt Werkstätten des französischen Löwen! — bedauernd die vielen fleißigen Köpfe unter der Motorhaube, wo einer nach dem anderen an irgendeinem Schräubchen drehte. Es täte ihnen leid. Der einzige, der dem Einspritzer die wiederbelebende Spritze setzen könnte, sei bereits ins Wochenende entfleucht. In Flensburg allerdings, dort gebe es vielleicht noch eine Chance. Man rief sogar an dort. Ja, aber bitte Beeilung, es sei kurz vor Sonnabend. Nun denn, also rasten wir ruckelnd und durchgeschüttelt bis beinahe nach Dänemark. Was wir nicht fanden, war die Werkstatt, der wir avisiert waren. Eine andere, zufällig ins Blickfeld geratene sollte behilflich werden, wenn auch nicht so technisch, sondern mehr bei der Wegbeschreibung. Wo denn das Problem läge, fragte der Herr, der auf seinen Status mit Kopf und Händen hinwies, der auf einem geradezu riesigen, noch recht frischen Transparent über der Halle prangte: Meisterbetrieb . Da könne man doch sicherlich hier im Sinne des Preisleistungsverhältnisses, von dem ich jetzt nicht mehr weiß, ob es solch Markantes vor fünfundzwanzig Jahren schon gab, eher helfen als in dieser französischen Apotheke. Bis in den Abend hinein dauerte die Operation. Drei schlimmer als je zuvor verruckelte Probefahrten später: Resignation meinerseits. Der Meister wollte jedoch nicht aufgeben. Erneute Untersuchung. Diagnose: Das Getriebe sei zerstört. Man müsse es in Hamburg bestellen, vor Montag sei nicht damit zu rechnen. Hotel? Zwei bis drei Tage oder länger im reizvollen Flensburg? Mehrere Übernachtungen zuzüglich der geschätzten sechs- bis achthundert Mark Reparaturkosten. Dann vielleicht doch besser die bereits angefallenen dreihundert Märker bezahlen und lieber das andere Abenteuer eingehen, das Wagnis, die totkranke Voiture nach Husum zu schütteln und ihr dort, fern der Biegung des Flusses, ein feines Seemannsgrab zu suchen; eine ihrer herausragenden französischen Eigenschaften, das Rosten, hätte ihr ein sehr rasches Eingehen in ihre natürliche Herkunft ermöglicht. Recycling war zu dieser Zeit noch ein Fremdwort. Wir haben es geschafft. Der äußerst kommunikative Medicus, der, wohl nicht zuletzt dank seiner skurrilen Fremdsprachenversuche, bereits als ein bißchen einheimisch gehandelt wurde, kannte eine Art Geistheiler französischer Löwen in der grauen Stadt am grauen Meer. Nach einer Stunde schnurrte unsere mittelklassige Katze wieder genüßlich. Und sie sollte es noch eine erhebliche Weile tun. Ohne je wieder aufzumucken. Der Operateur mit winziger Werkstatt ohne zugehörige Approbation hatte seine klinischen Jahre in einem französischen Automobilwerk verbracht gehabt, das in der Heimat einer Schwalbe stand, die mal in Husum gelandet war, aber der Küche wegen wieder nachhause nach Sochaux ins schöne Département Doubs wollte. Aber wie das eben manchmal so ist mit der Liebe, die durch den Magen geht. Jeden Tag zweimal ranmüssen mit jeweils mehreren Gängen — das bremst den Trieb eines Nordfriesen doch gewaltig. Jetzt habe ich, wie eigentlich beabsichtigt, die Geschichte mit dem freundlichen Gesetzeshüter und dem Alkohol wieder nicht erzählt. Aber das Internet ist ja freundlicherweise sowas von geduldig. Ach ja, daß es doch zu dieser kurzen Reisenotiz kam, ist dem Wetter zuzuschreiben. Da es recht schwierig geworden ist, mich über die Nebensträßchen zu erreichen, läßt man mich vorsichtshalber im Schnee liegen.
Das Pferd. Dein Freund. ![]() Ich hatte auch mal ein Pferdemädchen. Und das hieß (heißt?) Ursula. Nein, wie Urs sah es nicht aus. Es war wunderschön schlank und rank damals und glänzend brunette. Wie die schönen Pferde auf der Weide oder auch ihr halbes im Stall, die andere Hälfte gehörte zu einem etwas propereren und auch noch pferdeblonden Pferdemädchen aus dem Dorf, in dem sich der Stall befand, in dem sein Papa, einem städtischen Zahnarzt, ein Haus hatte, in dessen Stall kein Platz war für ein Pferd, da darin ein edles, very britisches Automobil wohnte, das heutzutage als Sehr Unangenehmes Vehikel bezeichnet würde, aber sowas kannte man damals noch nicht. Mindestens einmal in der Woche, meistens freitags, wenn mein Pferdemädchen frei war fürs Wochenende und damit für mich, fuhren wir immerfort händchenhaltend zu diesem Stall, um das halbe Pferd zu besuchen, ein ganz sanftes Wesen und fast so schön wie Ursula, nur die großen rehkitzbraunen Augen, also das ihr gehörende eine Auge, also so irgendwie, glaube man, es sei irgendwas sehr tiefsüdlich Mysteriöses, dann wird's schon stimmen, die waren noch schöner als die beiden von Ursula, die waren nämlich weißblau, wie bairisch geflaggt, obwohl sie gar nicht aus Bayern kam, sondern aus dem alten Schwaben. Ich fuhr gerne mit, obwohl ich eigentlich rechte Angst vor Pferden habe, wahrscheinlich, weil meine Mutter, ich befand mich etwa im Kleinfohlenalter, mich mal rittlings auf eine Kuh gesetzt hatte, die dann mit mir losritt, weshalb wohl ich mich auch Kühen gegenüber bis heute recht distanziert nähere, und Pferdewurst und -fleisch lieber mochte, die man beispielsweise am Fäkalienmarkt bekam, weshalb ich dorthin eigentlich auch lieber fuhr mit dem Wagen, weißblau, dem von der Linie acht, als zu dem zwar geteilten, aber eben insgesamt dann doch noch ganzen Pferd. Das liebe Pferd teilte seine Freundschaft nicht nur mit Ursula und dem anderen, stabileren Pferdemädchen, sondern mit noch einem Freund. Der war überall noch etwas breiter als das von einer oberbayerischen Brauerei nahe der Wieskirch abstammende Pferd hinten. Er kam mehrmals täglich, um seinem Freund Futter zu bringen und dessen jeweils sofortige Verwertung wegzuräumen, die das ohnehin gut genährte Pferd in der Folge vermutlich überausreichend gesunder natürlicher Nahrung und obwohl es dort etwas schmaler war als sein Freund in schier unglaublichen Mengen als Düngemittel für die Freunde der Tomaten, die ich fast so gerne mag wie Pferdefleisch und -wurst, unter hocherhobenem Schwanz als Äpfel hinausschmetterte, etwa so wie der andere Bayer, der Mitte der sechziger Jahre mittels eines anderen einheimischen Gewächses sich der vielen Düsenjäger zu erwehren versuchte, die dann aber immer irgendwoanders abstürzten als über der lieblichen Stadt vor den Alpen, die dem sportlichen und auch zivilen Absturzflugverkehr vorbehalten zu sein schien, wo er mit seinem antiken Schießgerät so schnell feuerte, wie seine Gattin die Munition geknödelt kriegte. Allzu oft wurde das Pferd von seinen Mädchen nicht ge- oder beritten, so genau kenne ich mich in diesem Metier nicht aus, weil es da nämlich neben dem Stall eine Stube gab, in der zwar keine leckere Pferdewurst, dafür aber Wurstsalat vom Schwein und Weiß- und anderes Bier offeriert wurde. Das mochten alle sehr gerne oder auch lieber, obwohl sie noch nie Salat von der Pferdewurst gekostet hatten, aber darauf kam es wohl auch nicht so sehr an, sicherlich mehr auf das, was heutzutage etwa Community genannt wird und bei dem es zum Wochenende hin immer durchaus lustig zuzugehen pflegt. Und da es damals auch noch keine Bundespolizei gab und folglich nicht hinter jeder Milchkanne lauernd folgenreiche Wegelagerei betreiben konnte, gab's über den Abend hin auch schonmal mehr als zwei Halbe auf das ganze Pferd, das ja von seinem Freund gut versorgt wurde und deshalb ein glückliches war. Das wußte auch sein Freund, weshalb der sich, es war schließlich Wochenende, auch hin und wieder mal mehr als zwei Halbe, so in Richtung auf ein ganzes Tragerl, zukommen ließ, obwohl er das eigentlich nicht sollte, weil das Pferd nicht nur ein feines war, sondern auch noch eine ebensolche Nase hatte. Mitten hinein in die fröhliche Abendgemeinschaft kam jemand leichenblaß vom Plumpsklo zurück, zu dem man am Stall vorbeimußte, und stammelte Unverständliches, dabei heftig herumfuchtelnd. Die komplette Besatzung des Stüberls folgte ihm, nichts genaues nicht wissend, wie man in Bayern nunmal doppelt verneint, aber auf jeden Fall erstmal sehr aufgeregt. Und da lag er nun, der Freund des Pferdes, das in seinem Unmut über den Biergeruch, den es gar nicht mochte, ganze Arbeit geleistet hatte, so wie der bayrische Sieger über die feindlichen Luftwaffen. Ein kurzer Tritt nach hinten hatte ausgereicht. Beim Boxen oder anderen Kampfsportarten spricht man, glaube ich, vom Solarplexus, den es zielgenauer getroffen hatte als der andere die ganzen Flugzeuge. Am nächsten Freitag sind wir wieder zum Stall hin gefahren, mein Pferdemädchen und ich. Nach dem Kirchhof war'n wir wieder im Stüberl und haben auf d'Leich angestoßen. Verzeihen Sie, werte Dame Damenwahl, daß ich das nach hier rübergehoben habe, das ureigentlich für Ihr Maxilein sowie Ihre Pferdefreunde bestimmt war. Aber ich wollte Ihnen mit einer solch schauerlich langen Geschichte nicht Ihr schönes Poesiealbum zuklecksen. Nun ist erstmal Päuschen. Ich muß Hilfe leisten beim Umzug in der jungen Frau Töchterleins neue große (Wohn-)Welt (und auch in die der Wissenschaft), dies erfordert meine köchelnde Kreativität. Die arbeitenden Brüder samt Mutter und sonstige Helfer können sehr, sehr hungrig sein (um einen nicht ganz so freundlichen Begriff zu umschiffen). Höchstleistung! Zu irgendwas muß ich ja auch noch zu gebrauchen sein. Mein altes Haustierchen muß auch noch zum Onkel Doktor! Renter befinden sich immerzu im Streß.
Knick in der Optik Angeregt von Bagatellen. Es sollte dort ein Kommentar werden, aber immer diese Längen ... Also dann hier ein bißchen Erinnerungsgeschichtchen. ![]() Ich mochte Brillen immer. Nein, ich war ihnen geradezu leidenschaftlich verfallen. Ob's daran lag, daß ich beim ersten Blick in ein bebrilltes Antlitz blickte? Auf jeden Fall setzte es sich fort. Entgegen früherer allgemeiner Verlautbarungen war stets Mein höchster Wille, Frau mit Brille. Zwischenzeitlich hatte sich die Perspektive verändert, da mein Blick eine Weile gerne anderswo festmachte. Irgendwann schien sich das wieder umzukehren, was möglicherweise an immer reizvolleren (Brillen)Modellen lag. Um 1990 herum sagte die Freundin nach einer längeren Autofahrt: «Wenn ich nicht wüßte, daß du es nicht bist, ich würde behaupten, du bist sechshundert Kilometer sturzbesoffen gefahren.» Ich war in regnerischer Dunkelheit tatsächlich slalomisiert, als ob ich circa zwei Promille intus hätte. Man riet mir, es doch einmal mit einem Arzt zu versuchen. Ärzte kannte ich einige, aus unerklärlichen Gründen befanden sich immer irgendwie welche in meiner Nähe. Aber als solche benutzt hatte ich sie, die Kränkelkindheit ausgenommen, eigentlich nie, allenfalls mal als Aufpasser bei meinen spätjugendlichen Selbstversuchen. Dann fiel mir ein, sogar mit einem Augenarzt befreundet zu sein, dessen Nähe ich jedoch bislang immer aus einem anderen Blickwinkel gesucht hatte. Dazu gehörte ein alljährliches legendäres Besäufnis in dessen riesiger Wohnung hoch oben im sehr schönen Haus am Eppendorfer Baum, zu dem viele Menschen von weither, sogar solche aus Frankreich anreisten. Ich kam immer von Nachwirkungen unbeschadet davon, da ich beim Wein junges Gemüse nicht mag und eher dem Alter zugetan bin, ich also jedesmal Gereifteres einschmuggelte und alleine für mich versteckte. Die dicken Köpfe hatten jedenfalls die anderen. Reisen ins schöne Hamburg und sehr gerne auch zu ihm in dessen wohlgestaltete lichte Turmzimmer waren mir von jeher eine Freude. So sollte ich ihn zum erstenmal als Arzt konsultieren. Viel Zeit nahm er sich für mich an einem Sonntag nachmittag. Sämtliche Apparaturen seiner kleinklinikgroßen Praxis wurden genutzt, drei Durchläufe gab es. Bis er leicht spöttisch grinsend meinte: «Sag mir doch, wenn du eine Brille haben willst. Dann verschreib ich dir eine. Dann können wir uns diese ganzen Turnübungen hier sparen und gemütlich was essen und trinken gehen.» Beharrlich verwies ich auf einen offensichtlichen Knick in meiner Optik und die Folgen bei regnerischer Dunkelheit. Er erbarmte sich meiner, ging den gesamten Technikparcour erneut mit mir durch, schaute nicht nur fortwährend auf seine Maschinenauswürfe, sondern mir auch immer wieder in die Augen. Nach einer guten Stunde entschuldigte er sich bei mir. Er habe etwas übersehen. Tatsächlich leide ich unter einer nicht ganz unerheblichen, zunehmenden Linsentrübung. Seither bin ich Träger von Lesebrillen, eine für Bücher und Zeitungen, eine andere für den Computerbildschirm, der ohnehin nicht eben zur Verbesserung der fortschreitenden Behinderung beiträgt. Gebrauchsanleitungen für Brillen kann ich nicht mehr lesen, auch nicht mit Brille. Beim Autofahren nutze ich auch eine für die Ferne. Wegen des Knicks in der Optik, der mich bei schlechten Sichtverhältnissen mittlerweile auch schonmal tagsüber der Verfolgung durch eine Polizeistreife mit anschließender Alkoholkontrolle aussetzte. Deshalb setze ich mich bei nahender Dunkelheit auch nicht mehr ans Steuer. Ja, ich bin manchmal vernünftig und denke bisweilen auch an meine Mitmenschen. Glücklicherweise gibt es welche, die bereit sind, mich zu chauffieren. Der Jüngste hat kürzlich diese Lizenz zum Töten erworben — Töten heißt hier: mich, Diagnose Herzstillstand, weil ich immer Angst habe, wenn andere fahren, und sei es noch so erstaunlich dezent für einen jungen Mann. Setze ich die Sehhilfe(n) komplett ab, kommen ziemliche Unklarheiten auf. Aufgekommen in meinen Augen ist mittlerweile auch ein Star. Gegen die vielen in den Medien kann ich mich wehren, indem ich einfach die Brille absetze. Nicht aber gegen den in mir, der immer näher zu kommen scheint. So hatte ich mir das nicht vorgestellt in den Anfängen meiner Leidenschaft für Brillen. Aber dafür habe ich jetzt auch den Arzt in meiner Nähe, der mir öfter mal in die Augen schaut. Das geht ja alles noch, jedenfalls solange man mich nicht, wie Frau Braggelmann (wo steckt die überhaupt?) zu sagen pflegt, mit der Sackkarre auf die Bühne fahren muß.
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