Die neue Gier nach Neuem


Angesprochen habe ich's immer wieder mal, versucht, es anzutippen in der Hoffnung, das Denkdackelchen in der Hutablage des Kopfes würde lächelnd oder sonst irgendwie zu nicken beginnen. Die Begriffsgegenüberstellung habe ich auch bereits ausprobiert, nach Neu- und altgierig kam tatsächlich einige Bewegung hinein. Aber die Welt habe ich sozusagen natürlich wieder nicht bewegt damit — immer wieder vergesse ich, was ich seit einigen Jahrzehntchen weiß und woraus ich eigentlich beruflich die Konsequenz gezogen hatte: der Welten Lauf läßt sich durch Mahnen und Warnen nicht verändern. Die Kugel zieht unaufhörlich ihre Bahn, wie die Deutsche ihre auf dem Weg in die Zukunft, wenn die Störungen letzterer möglicherweise genau dadurch bestimmt sind. Es wird nur noch nach vorn geblickt. Deshalb heißt das, was früher mal Wißbegier genannt wurde, heutzutage unverbrüchlich Neugier. Letztere Bezeichnung habe ich als eindeutige Negativbewertung gelernt. Nach Neuem gierte beispielsweise der heimlich durch die vorhanglosen Fenster starrende Nachbar, vermutlich, weil er diese Transparenz als ein Zeichen religiöser Reformation deutete und hoffte, dahinter vielleicht doch ein wenig Sünde zu entdecken, was ihm selten gelang, da es hinter dreckigen Gedanken nicht allzuviel Unmoral zu erblicken gibt. Neugier, das brachten mir meine Deutschlehrer bei, ist die unterste Stufe, Neues sehen zu wollen. Die Wißbegier(de) hingegen sei an keine Aktualitäten gebunden, im Gegenteil, das sei der Blick in eine Vergangenheit, die auf Erfahrung basiere. Nun ja, es ist die Erfahrung anderer, und die scheint zusehends mehr zu langweilen. Geschichte, wen interessiert denn dieser verstaubte Kram?

Ende der neunziger Jahren sprach eine nicht unbedingt alte Dame aus dem Vorstand eines zu dieser Zeit mit führenden deutschen Kunstvereins einmal von der «eingeschränkten Halbwertzeit». Es ging um die Planung einer Ausstellung über das Informel, auch über die Situationistische Internationale. In diesem Zusammenhang erwähnte sie einen Künstler, der dabei maßgeblich mitgewirkt hatte, im deutschsprachigen Bereich sogar zu dessen geistigen Vätern zählte (Mütter hatten damals noch hinterm Herd zu stehen). Der als Kapazität geltende und deshalb eigens aus dem Ausland geholte künstlerische Leiter dieser Institution kannte diesen Mann nicht, dem auch als Publizist zumindest unter kunstbewegten Menschen ein Ruf, im besten Wortsinn, wie Donnerhall vorauseilte. Er hatte sich allerdings nicht nur aus dem Kunstmarkt herausgehalten, er hatte sogar mit brillanten, teilsweise streitschriftartigen Essays kräftig dagegengehalten. Das dürfte einer der Gründe dafür sein, daß der immer nach vorne blickende Direktor dieses Kunstvereins diesen Namen noch nie gehört hatte. Der andere Grund ließe sich in der «eingeschränkten Halbwertzeit» erblicken, denn zu dieser Zeit setzte der unwiderstehliche Drang ein, die neuere Kunstgeschichte ab dem marktgewordenen Andy Warhol neu schreiben zu wollen oder überhaupt erst beginnen zu lassen. Das postmoderne anything goes oder auch Alles ist machbar, Herr Nachbar spülte alles davorliegende Moderne in die Abwasserkanäle der Vergangenheit.

Gestern abend wurde in Kulturzeit von 3sat über eine Trauerfeier zu einem in jüngster Vergangenheit schlimmen Ereignis berichtet. Nein, das Gedenken zum Einjährigen war nur der Aufhänger — wenn ich auch zu beobachten meine, der Boulevard spiele sich auch in diesem Fernsehfeuilleton zusehends in den Vordergrund — für ein Buch. Ich habe es nicht gelesen und kann deshalb nicht beurteilen, inwieweit die Autorin neue — also auf Altem basierende — Erkenntnisse eingebracht hat. Doch darauf dürfte es auch nicht ankommen, handelt es sich dabei doch in erster Linie um Trauerarbeit. (Dabei fällt mir der Begriff Erinnerungsarbeit ein, nach meinem Wissen geprägt in den Anfängen der Achtziger von Wolfgang Ruppert, der auf diese Weise die Menschen aufforderte, auf ihre Dachböden der Vergangenheit zu steigen, um der Gegenwart näher zu kommen.) Die Verfasserin hatte das Buch zum Anlaß genommen, über den Tod ihrer vor einem Jahr ermordeten Tochter hinwegzukommen, die als Referendarin an dieser Realschule tätig war, also angetreten war, Kindern das dringend benötigte Wissen zu vermitteln. Im begleitenden filmischen Beitrag wurde deutlich, worauf sie die Ursachen für Gewaltausbrüche wie die sich allüberall häufenden zurückführt. An offenbar vorderster Stelle steht für sie dabei der ungeheuerliche Druck, dem die Kinder bereits vom Kleinstkindalter an ausgesetzt sind. (Selbstverständlich wurde einmal mehr zur Bestätigung dieser Erkenntnis ein Experte ins Bild gesetzt, vermutlich, weil einem das sonst niemand glaubt oder weil wir uns alle so an die Fachleute gewöhnt haben und es deshalb nicht mehr ohne sie geht.) Alle Welt hat nach vorne zu schauen, als ob die Kugel sich immer schneller drehte. Das Glück dieser Erde liegt in der Zukunft — oder in der Hoffnung, mittels dem, was heutzutage Bildung genannt wird, es doch noch zu schaffen an den Zenit des beruflichen Spezialisiertseins (von dem Arnold Gehlen vor vielen langen, eben zurückliegenden Jahren noch schreiben durfte, er sei spezialisiert auf das Nichtspezialisiertsein).

Neugierig leben, wird seit einiger Zeit verführer- oder auch aufforderisch hineingeblendet in mein heiß- und manchmal auch haßgeliebtes Blütensternengärtchen, in diesen überwiegend von mehr oder minder tänzelnden Damen moderierten «Fernsehanstalt gewordenen Zen-Buddhismus». Glücklicherweise tut man dort meistens nur vordergründig so, als ob es nur hinter gelifteten oder gar keinen Vorhängen auf der Alm koa Sünd' gäb'; gleichwohl dem neugierigen Affen tatsächlich seit langem auch dort vermehrt ordentlich Zucker gegeben wird. Aber wer wißbegierig ist, bekommt dort, mehr als anderswo auch im Sinn von Sendezeit, seinen Teil ab vom großen Erfahrungskuchen, da häufig tiefschürfend zurückgeblickt wird in eine Vergangenheit, die Zusammenhänge erfassen, die eine Entstehungsgeschichte namens Gegenwart und damit auch Zukunft erkennen läßt. Es müssen wahrlich nicht immer nur hundert Jahre alte Bücher sein, aus denen Wissen zu beziehen ist; das mit der Wahrheit ist ohnehin eine Sache für sich. Ein bißchen was ist schließlich auch in der Wirklichkeit danach passiert, was sich im einen oder anderen später erschienenen Druckwerk spiegelt. Aber mit Neugier hat das, nach meinem Verständnis, eher weniger zu tun. Wie will ich beispielsweise eine digitale Revolution* verstehen, wenn ich von der industriellen nichts weiß? Manchmal ist es durchaus von Vorteil, auf den Dachboden der Erinnerung zu steigen. Auf meinem liegt sozusagen nur Altgier herum, mit der ein neugieriger Nachbar seine Lust nicht befriedigt bekommt. Aber ich kann damit lustvoll in Erkenntnisse eintauchen, weil jeder Blick sie erneuert.
 
Fr, 12.03.2010 |  link | (3506) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Hummer streicheln

Während des angenehmen Gesprächs, das sich vom sonntäglichen Nachmittag bis in den vielflaschig verweinten und deshalb wohl albern bis trivialphilosphisch, also sehr lustig ausgehenden Spätestabend zog, war einmal mehr vom Kind die Rede.

Da saß der Vater, von dem noch die Rede sein wird, aber das Schöne mal zuerst, und gab Beglückendes zum besten. Von seiner Vierjährigen erzählte er, mit der er, wie mit allen anderen Menschen auch, grundsätzlich gerne gut essen geht. Deshalb wohl ißt dieses Prachtkind alles. Nur kein Fastfood. Das kennt es nicht. Wenn die beiden unterwegs sind, geht es langsamer vonstatten. Zum Beispiel in dem Fischrestaurant, in dem die Hummer in einem großen Aquarium schwimmen. Einer gefiel ihr besonders gut. Sie zeigte auf den «großen Krebs» und meinte Papa gegenüber, ihn haben zu wollen. Order wurde gegeben und Platz genommen am Tisch. Nach kurzer Zeit des Sinnierens fragte sie ihren Vater, ob sie den Hummer vorher noch einmal streicheln dürfe. Papa fragte in der Küche nach, und der erstaunte bis verblüffte Koch «spielte» mit bei dieser Lektion des Erfahrens. Zunächst wurde erklärt, weshalb dem Tier mittels kräftigen Gummibändern die Scheren fixiert worden waren, weil die nämlich sonst ein Fingerchen durchzwicken könnten. Dann hielt der Mâitre der Kleinen den gefesselten Hummer nach unten hin, und ihre Hand glitt sanft über seinen Rücken. Danach gingen die beiden wieder ins Restaurant, setzten sich an den Tisch und warteten, bis der nun rote Zehnfußkrebs aufgetragen worden war. Mit Genuß aß das Mädchen vom Inneren der Scheren, die Finger durchschneiden können, und auch vom Fleisch, dessen Panzerung es einige Zeit zuvor noch gestreichelt hatte, gab's einige Stückchen. Den Rest genoß der Papa.

Das Kind hat auch eine Mutter, die ihre zwei und vier Jahre jungen Töchter zumindest juristisch nur für sich haben möchte, den urkundlich nicht festgehaltenen Vater dennoch gerne als Kindermädchen einsetzt und es anschließend fast jedesmal zu auch strengeren Debatten über Früherziehung kommt. Dabei geht es bei weitem nicht immer nur um zuviel Schokolade oder Gummibärchen, also wesentliche Ingredienzien der Nahrung (wenn das auch, aus meinem Blick auf die Brustduftdrüsen, einen entscheidenden Beitrag zur Sozialisation leisten könnte). Der Erzeuger der kleinen Genießerin ist nämlich der Meinung, daß man Kinder nicht nur in Zielrichtung Egozentrik zu Lasten der Allgemeinheit verbiegen kann, indem man ihnen, wie in heutzutage selbsternannten etwas besseren Kreisen üblich, geradezu jedes denkbar schlechte Benehmen durch gar keines anerzieht, das sich in einem völlig aus dem Ruder gelaufenen oder überhaupt nicht vorabbedachten laisser-faire* darstellt. Auch das Gegenteil ausdrückende, mich einmal mehr an meine frühe Kindheit erinnerende, Verhaltensübungen vermögen Kinder zu verkniffenen Erwachsenen werden lassen wie im konkreten Fall die Mutter der beiden, die offensichtlich auf diese Weise ihrem Leben eine Ordnung geben möchte. Da muß Benimm und Geradesitzen und pünktlich Zubettgehen et cetera geübt werden bis zum späteren auch geistigen Haltungsschaden. Ich hatte das Glück, mich relativ rasch von den Büchern unter den Armen und dem Stock im Rücken befreien zu können, indem ich zuallererst mal immer das Gegenteil von dem tat, was man mir von dieser Art Erziehung angedeihen ließ. Um so unverständlicher ist mir, daß es Eltern gibt, die nach dem ersten Dezennium des 21. Jahrhunderts solche Foltermethoden anwenden und das ganze auch noch unter Knigge verbuchen. Das kann ich nicht anders bezeichnen als einen Totalschaden da oben in dem Bereich, der das Denken regulieren soll. Er dürfte sich für die Gesellschaft ebenso negativ auswirken wie die Anleitung zu einem neuen Terrorismus, der zu einer Variante der Sozialisation zu werden droht: Kinder in die Welt setzen, die das Ego spiegeln und das Selbst schmücken, und sie dann einfach machen lassen. Vom mittlerweile fast überzitierten «Elternführerschein» war an diesem Abend selbstverständlich auch die Rede.

Auch die beiden mitdiskutierenden, entschieden nachwuchslosen und nicht nur deshalb wunderbaren Damen haben brillant zur Praxiserfahrung beigetragen. Schließlich waren sie selber mal Kinder, und Kunst kommt nicht von Kinderkriegen. Was geblieben ist? Dieser marinierte Fisch war, wie immer, köstlich, ebenso die Törtchen und die Pasteten zuvor und die Käse danach. Und der Wein, ja, der war gut. Fast so gut wie der Champagner.

* In Frankreich haben Begriffe ihre Heimat, bei denen die Deutschen so gerne die Augen verdrehen — einige vor Glück, weil sie dabei das bequeme Denkschema im Erinnerungskopf haben, alles fallenlassen zu dürfen, auch die Scheiße in den Windeln der Gören. Und die wiederum, die damit so schlimm durchgefallen sind, daß sie ihre Alten dafür heute am liebsten mit dem Gegenteil dessen provozieren, was die damals für laisser-faire oder laisser-aller hielten: immer sauber frisiert, am besten auch das Auto, und bloß nicht anecken, schon gar nicht mit dem Auto. Daß dieses französische, vor allem im Süden beheimatete — ursprünglich dem Vokabular der Wirtschaftssprache entstammenden — Sein- oder Gehenlassen sozusagen aus dem Substantiellen herrührt, nämlich den anderen in seinem Sein nicht zu behindern, also dem Nachbarn auch nicht meine ganz persönliche Interpretation von Freiheit aufzwingen zu wollen, wird bis heute auch als Mißverständnis nicht anerkannt. (Unterschiede)
 
Di, 09.03.2010 |  link | (4318) | 12 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kinderkinder



 

Kindheit, deine Sternchen

«Das war wohl nicht so das richtige», war die Antwort der Maman von Henri le Premier auf meine Frage, wie denn die fast zwei Wochen ohne großstädtische Wohnung und mal Päuschen vom immer treusorgenden Kindsvater gewesen sei. Ein schrecklicher Junge sei das, ach, gar kein Junge, eher so ein Mädchen, das ständig am Hosenzipfel oder irgendwas anderem an ihr hinge. Nicht davon wegzukriegen sei er gewesen. Keinerlei Möglichkeit zur Flucht in ein Entspannungseckchen, sofort sei diese kakophone Alarmsirene losgegangen, lauter als ganz Paris, wenn es abends die arbeitende Bevölkerung vor die Stadttore jage, ein schreckliches, weitaus mehr als zwölftöniges Gebrüll des Kindes nach der Mutter, kaum daß sie mal außer Sichtweise gewesen war. Doch kaum zurück im Lärm der Stadt, da kehrte auch schon die Ruhe ein, die Anlaß war für diese Reise aufs Land, wo's so still sein sollte und dann eben doch so schrecklich laut war wegen dieses Dauergeschreis. Mit diesem Blag könne man ja nirgendwo hinfahren.

Da brach es wieder erinnernd über mich herein, all dieses tantenhaft verzückte Gesäusel der Damen, als sie von meiner Kindheit hörten, die ich nahezu komplett auf Reisen, fast bin ich geneigt zu behaupten, in Koffern verbrachte, oft genug, als ich dann schon etwas stolpern konnte, mit einem Schild vor dem Brustkörbchen, das die Tante am Bahnhof oder am Flughafen darauf hinwies, wohin ich mal wieder verfrachtet werden sollte, weil die Erzeuger keine Zeit hatten, da sie dauernd anderweitig zu tun hatten, oft genug neue Wohnungen irgendwo zu besichtigen, die sie kurzzeitig mieten würden, um sie alsbald wieder zu verlassen. Mit mir im Gepäck, wenn ich Glück hatte. In den Anfängen sind wir einmal jährlich bestimmt irgendwoanders hingezogen, jedesmal in ein anderes Land auf einem anderen Kontinent, etwas später dann alle zwei Jahre. Das wog auch die spätere sogenannte feste Wohnung nicht auf, da sie nichts anderes war als ein Reisezentrum oder eine Kofferpackstation mit wechselnden Kindermädchen. Das Internat etwa ab meinem Vierzehnten war mir so ein Stückchen Heimat geworden, wenn dort auch die Insassen so häufig ausgetauscht wurden wie die Krawatten des Personals; es gab auch früher bereits Menschen mit häufig wechselndem Geschäftsverkehr. Der Vater ließ sich ab dieser Zeit ohnehin allenfalls noch zwei-, bis dreimal jährlich blicken. Er robbte lieber in gebirgigem oder wüstem Gestein herum. Ich verfügte mal über eine beachtliche Mineraliensammlung, gleichwohl das süße Kind durchaus auch andere Geschenke erhielt, zum Beispiel Koffer, die ich nach der Schule dann sofort packte und aus dem Haus hetzte. Womit dieser Wandertrieb bei mir eingesetzt hatte. Unverbrüchlich zum Nomaden war ich erzogen worden. Oder waren es doch die genetischen Hinterlassenschaften väterlicherseits, die kurz hinter dem Ural ja mal zwischengelagert worden waren?

Die Gipfel der Begeisterung über ein solches Leben ging oft genug in der Bemerkung auf: Wie wunderbar, in frühester Kindheit schon so viel und weit gereist, die Welt gesehen zu haben. In den Anfängen habe ich noch ein wenig verschämt, gleichwohl nicht ganz ohne Stolz über derartige Würdigungen, abgemildert, ach wissen Sie Verehrteste, als kleines Kind nimmt man das vielleicht dann doch nicht so recht wahr. Später, als ich mich selbst bereits mehrfach reproduziert hatte, konnte ich dann, je nach Gegenüber, den Damen — es waren nahezu ausnahmslos Frauen, die sich dafür begeistern konnten, überwiegend solche von gehobenener Bildung — gereizt oder auch schonmal mindestens sarkastisch die Gegenfrage stellen: Was meinen Sie wohl, was ein kleines Kind empfindet, wenn es in einem der höchsten Flughäfen der Erde steht oder in einem von Wasser oder Wüste umgebenen? Glück? Ein Weltreisender zu sein? Wird ein solches Kind verzückt seine arg fremde Umgebung wahrnehmen, beseelt von der Empfindung, ein Frühprivilegierter zu sein? Die Reaktion war fast ohne Ausnahme eine irgendwie leicht indignierte, als ob meine Antwort so bösartig gewesen wäre wie die Frage dumm.

Lange Zeit habe ich diese reisende Vergangenheit mit mir herumgeschleppt und mich des öfteren gefragt, ob meine spätere Unstetigkeit sowie die sich als geradezu gnadenlos erweisende Heimatsuche damit zusammenhängen könnte. Denn noch jedesmal, wenn ich meinte, mein Haupt in ein Körbchen hinter einem Öfchen betten zu dürfen, da es einen so heimeligen Eindruck erweckte, als ich, oft genug, selber Nest bauen wollte, da riß es mich kurz danach, verängstigt vor soviel schlichter Sehnsucht nach Seßhaftigkeit, wieder hoch und fort, neue Heimat suchen. Auf die vierzig zugehen mußte ich, als ich mich einem Mann offenbarte, zu dem sich freundschaftliche Bande entwickelten, der nicht nur fröhlicher Vater von drei ebensolchen Kindern war, sondern obendrein einer, der sich auch beruflich mit der Entwicklung des Nachwuchses beschäftigte. Da hielt er mir einen spannenden Vortrag, an dessen Ende die Bemerkung stand, die immerwährende Bewegung in jüngsten Jahren könne durchaus diesen Effekt der Ruhelosigkeit mit bewirkt haben. Vor allem in den ersten drei Lebensjahren sei es für Kinder nämlich ungemein wichtig, über eine jederzeit erkennbare Umgebung zu verfügen, beim Öffnen der Augen nach dem Schlaf immer wieder dieselben Sternchen zu sehen, die Mama und Papa für sie an die Decke geklebt hätten. Dazu gehörten im Bettchen die immerselben Spielzeuge, später dann die identischen Räumlichkeiten. Dort werde die Welt erkundet und nicht während eines stundenlangen Fluges an einen Ort mit völlig fremdartigen, oftmals wilden Geräuschen, Gerüchen und Gesichtern. Dem folge das nächste Unabdingbare, etwa sich herausbildende Nachbarschaften zu anderen Kindern, wenn schon keine Geschwister anwesend seien. Und so weiter. Wem das fehle, der könne sich in späteren Jahren unter Umständen durchaus schwertun mit Beziehungen. Eine sogenannte Beziehungsunfähigkeit könne sich daraus durchaus ergeben. Ich habe nicht nur keinerlei Kinder- und Jugendfreundschaften, mir geht jede Erinnerung daran ab, was ich oftmals bedauert habe.

Ich habe das der Mutter von Henri I sicherlich nicht nur dreimal erzählt. Jaja, sie kenne die Geschichte. Aber wahrscheinlich müsse sie sie immer wieder mal hören. Dabei will ich ihr nicht einmal eine leichte Gereiztheit unterstellen. Aber nutzen täte es ohnehin nichts. Erfahrungen von Älteren bewirken in der Regel erst dann etwas, wenn man längst selber viele gemacht hat. Ich weiß, wovon die Rede ist. Aber eines ist hängengeblieben und umgesetzt: Der Kleine wurde immerhin bislang noch in kein Flugzeug für ein Weekend an der Côte d'Azur und auch in keinen Billigflieger nach Ballermann geschoben und sonst irgendwohin geflogen. Wie das so üblich geworden ist unter diesen vielen Menschen von Welt, die das bei den anderen so sehen, etwa bei den extrem spätdynamischen Müttern, die ihre drei Monate jungen Süßen gerne von Drehort zu Schauplatz schleppen und die deshalb bereits in der Pubertät so weltgewandt mit ihren Neuröschen umzugehen lernen, die sich später zu einem vielbeachteten, überproportionalen Neurosenbuschgetrüpp entwickeln können. Ich bin nicht sicher, ob das im Hinblick auf die kommende Arbeitswelt frühe Flexibilitätsübungen für den Nachwuchs darstellen sollen, und vermutlich gibt es längst (mir mal wieder unbekannte) kinderpsychologische Studien, die eine völlige Unbedenklichkeit frühkindlicher Reisetätigkeit belegen. Ich halte solche Untersuchungen, so es sie denn geben sollte, sozusagen postpräjudikativ schonmal für ebenso bedenklich wie die zunehmende Praxis, Kinder nahezu grenzenlos aufwachsen zu lassen.
 
Fr, 05.03.2010 |  link | (2992) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kinderkinder



 







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