Zur tiefblauen Nachtstunde böte herbstliches Werben sich an, schrieb vor ein paar Jahren, als das Internet um diese Uhrzeit noch schlief, ein routinierter, mittlerweile bereits leicht auffällig gewordener Nachtradiohörer: Die dreiunddreißigjährige Moderatorin klärt den zweiundsiebzigjährigen nächtlichen lieben Studiogast über die vielfältigen pharmazeutischen Präparate gegen prostatabedingten Harndrang auf. Morgens gegen drei oder auch um zwei. Zwischen Häppchen von Pergolesis Stabat Mater oder dem gounodschen Ave Maria oder dem von Donizetti. Besonders Mütter (wobei nun nicht gerade an solche mit A-A-Problemen gedacht wird und auch nicht AAO [dazu das Bild der Grazer Künstlergruppe G.R.A.M aus dem Zyklus Wiener Blut] assoziiert werden soll) wissen ja bekanntlich am ehesten, was für die Gesundheit am besten ist. Auch ein kleiner Schnupperaufenthalt im Wellness Studio, das die Evangelian Church Foundation neuerdings in ihrem Augustinum Recreation Center installiert hat, zeigt neue Vitalitation auf, wenn der präsenile Bettflüchter kurz nach dem Aufstehen, so gegen halb drei oder noch früher, von diesen erotisch säkularisierten Betschwestern angepriesen wird, untermalt von Nigel Kennedys Violine, die aus Antonio Vivaldis Vier Jahreszeiten den immerwährenden Second Spring rüberspielt. Auch für Menschen des Statusses krankhafter Oblomowerei gäbe es sicherlich vorantreibende Angebote, die sich in Frau Lunas Lichte noch besser ausleuchten ließen. Aus den köstlichen Mündern dieser edlen Geschöpfe hörte es sich sicherlich ausnehmend klangvoll an, vermittelt zu bekommen, in welchem florentinischen Hotel man alle erdenklichen Vorläufer der französischen Cuisine an die Wiege serviert bekommt. Gut, sie müssen immerfort sagen, zum unerdenklich wievielten Mal: Es spielten James Galway und die Academy of St. Martin-in-the-Fields unter der Leitung von Sir Neville Marriner. Sie dürfen das solange sagen, bis eine andere Plattenfirma zahlt. Was spielt das für eine Rolle?! Hauptsache zur nachtstundenen Zeit flüstern sie unsereins zu, was einen in seinem Lieblingskaufhaus erwartet, wieviel Rabatt man einem via Clubkarte elektronisch bucht auf den Restposten des 89er Château Laroque, diesem wirklich ganz ordentlichen Grand Cru aus St. Emilion, der der Besucherin zumindest diese zutiefst fröhliche Melancholie mitgab, als sie sozusagen schließlich meinte, sich doch besser auf den Nachhauseweg zu begeben. Oder sie sollen uns ganz sanft in die Hörgeräte säuseln, wie hotelparadiesisch dieses oder jenes Weekend in La Bourboule mit seinen arsenhaltigen Quellen würde, quasi so, als ginge man zu ihnen nach Hause und kröche hinein zu ihnen ins Austernschaumbad. Oder wenigstens, wo im Internet man den neuesten Rilke downloaden kann.
Tanken und beten Aus einem Flugblatt, das Anfang der neunziger Jahre eines vergangenen Jahrtausends in der Mensa der Universität zu Kiel auslag. Heutzutage aber bleibt einem nichts als Tanken & Beten. Von Lisa Fitz habe ich dieser Tage eine bemerkenswert logische Eloge auf ihren alten Amischlitten gehört. Nicht nur, daß sie aufgezählt hat, was die Herstellung eines Neuen an Ressourcen verbraucht, auch der dezente Hinweis darauf, daß man an dem chipfreien Alten auch noch selbst Hand anlegen könne, hat mich gut schmunzeln lassen. Interessant sind die sprit(z)igen Preise, die der scherzende Künstler in sein obiges Bild hineingezaubert hat. Möglicherweise greift das randeuropäische Portugal mittlerweile auch auf global Gedenglishtes zurück und nennt es handyleicht ebenfalls Flatrate-Tanken. Aber zum «Aufnahmedatum» Juni 2009 kostete auch dort der Liter Benzin durchschnittlich einen Euro dreißig. Hier dürfte es sich also um ein retrospektives Traumbild handeln — das mich an die gute alte Zeit erinnert, als ich mir mit meinem sich kurzzeitig in meinem Besitz befindlichen Oldsmobile Cabriolet während der zwanzig winterabendlichen Ku'damm-Runden die dreißig Liter à fünfzig Pfennige noch leisten konnte. Aber damals (!) hieß ich auch noch Student und nicht Studierender. Vielleicht hätte ich doch etwas Anständiges lernen sollen. Kabarett zum Beispiel. Oder Comedian, wie die vielen Nachkommen von Heinz Erhardt sich heute polyglott zu nennen pflegen. Klar, der Urvater war auch immerzu klamm und sein Publikum bereitwillig lustig vorgestimmt. Aber bei den vielen und hohen Gagen wäre ich vermutlich nie Entenpilot geworden.
Legendenenden Zwei mehr oder minder legendäre (Bild): Fernsehanstalten kamen am Wochende ihrem Bildungsauftrag nach. Der Sender aus Hauptstadt und Brandenburg ging grenzüberschreitend vor und funkte ins Hoheitsgebiet des parallel ausstrahlenden norddeutschen den nahe des eher als lustiger Dom bekannten Heiliggeistfeldes statt-findenden Tag der Legenden. Es war tatsächlich legendär. Frau Braggelmann wurde im Stadion am Millerntor von einer Kamera erfaßt. Hanseatisch-anglophil wie sie nunmal ist, trug sie gleich den Damen beim Derby südlich von Windsor einen dieser legendären Hüte. Dabei hatte auch sie sich obenrum dem Ereignis angepaßt: Das auf ihrem Kopf plazierte Euter glich einem Bündel an Bratwürsten. Sie hingen ein wenig, wie die bierlichen Bäuche der sich jeweils fünf bis sechs Minuten über den Jungrasen rettenden Legenden. Die Legende vom Heiligen Pauli wurde bei dieser Gelegenheit gleich ein wenig mit überschrieben. Was manch einem mit älteren Rechten offenbar nicht sonderlich behagte. Wie mir zugetragen wurde, sollen sich sogar einstmals hartnäckige Paulianer von ihrem Verein abgewandt haben und in die Nachbarschaft zu Altona 93 übergelaufen sein. Sogenannte VIP-Lounges in der neuen Hall of Fame des Sponsorings, das ertrugen sie nicht. Dem sportlichen Geld war offenbar auch vorm Millerntor nicht Einhalt zu gebieten. Wie es zuvor bereits das Schanzen-Viertel erobert hat. Für ihr Eintreten für informationelle Fremdbestimmung einschlägig bekannte Neuigkeitensender verkündeten deshalb wohl am Vortag per Dauerlaufbandmeldung: Krawall! Randale! Straßenschlacht! Und wer ist schuld? Ich. Mit meiner früheren, nicht minder legendären Sucht, mit der ich einmal zur (gleichwohl leicht hinterhinkenden) Avantgarde gehörte, zu denen, die das Ende des Antikonsumismus zwar nicht unbedingt einläuteten, es aber als wahrhaftige Glückseligkeit priesen. Die legendäre Jugend hat Tücken, vor allem, wenn sie mit Mitte vierzig so langsam ihr Ende zu finden scheint. Auf dem die Rote Zora umgebenden, mittlerweile prachtvoll dahinsiechenden Schlachtfeld, das seit Anfang der Neunziger langsam und ab deren Mitte immer heftiger von den Jungen Kreativen in Beschlag genommen wurde, gab es im Schanzen-Viertel, dem der seinerzeit ebenfalls in München ansässige, aber das Quartier gut kennende Autor in seinem polyglott-konnotierenden Einfallsreichtum den nachgerade idealen Werbe-Spott «Chancen-Viertel» (Chance = Glück, Zufall; Herbert Achternbusch: Du hast keine Chance, aber nutze sie.) geschenkt hat, eine Halle enormen Ausmaßes, vor der die Hamburger Freundin immerzu gewarnt hatte: Geh da nicht hinein! Das ist für dich äußerst gefährlich! Dort bist du extrem gefährdet! Doch es heißt ja Chancen-Viertel, weshalb man es verständlicherweise immer wieder aufsucht, wenn man auf der Suche ist nach dem ultimativen Glückskeks, kreiert von den konsumgestalterisch erfindungsreichen Freunden jenseits des Atlantiks. Und auf der in der Kaffee- und Teestadt abseits des Kaufrausch nachgerade ungeheuerlich schwierigen Suche nach einem die beinahe mediterrane Luft stützenden Espresso winkte dann eine. Eine Fahne, auf der zwar filigranlettrig, aber weithin lesbar Café geschrieben stand. Unglücklicherweise wehte die Chancen-Fahne genau von eben diesem Gebäude her, das ich meiden sollte. Aber der Espresso war nunmal einer, der die ohnehin menschenfreundliche Nordmetropole noch näher an ihre Schwesterstadt Marseille heranrückte, sie noch ein bißchen südlicher machte (wenn’s dort auch auch bißchen eher nördlich-nieselig frisch ist dann im Winter, wie ich später feststellen sollte). Mittlerweile kenne ich als Ein- und Anwohner des Hanseatischen auch andere Stehausschänke; in einem der besten in Zeitnähe kann man sogar sitzen. Aber damals habe ich sehr lange suchen müssen nach Maurizio Molinari. Nein, nicht der La Stampa-Korrespondent in New York oder der Psychiater in Basel, sondern der Italienisch-Lehrer aus Rom, der schlicht und ergreifend den wohlschmeckendsten Café außerhalb Neapels zubereitete, und der ihn portionierte wie an der Südküste: nicht mehr als einen heißen Schluck, einem Conjäckchen gleich, nicht, wie üblich in der vollintegrierten deutsch-italienischen Philosophie des viel und billig: das Täßchen gefüllt, bis das Untertellerchen der Oberflächenspannung wegen dem Untergang gleicht. Deshalb mußte ich hinein, in diesen KaffeeKulturBazar, und nur deshalb. Aber, ein Stück des Wegs dorthin führte den Blick über diese Halle. Alles war geradezu ungeheuerlich preiswert. Chancen, die man sonst nie wieder geboten bekommt. Also: Messer gekauft. Messer braucht braucht man immer. Zumal man immer noch eines findet, das besser in der Hand liegt als die vielen anderen, die kaum benutzt in der Schublade herumliegen. Weinpumpe, nein, gleich zwei, denn eine könnte ja, man weiß ja heutzutage nie, schon bald defekt sein. Ein Spitzsieb, eine Passiermühle. Die alte ist vom vielen tatenlosen Herumhängen schon ganz angelaufen. Wunderschöne Geschirrhandtücher! Auch die soll man der vielen Bakterien wegen ja täglich mehrmals wechseln. Und außerdem kann man die alten, deren Kauf ja auch schon acht Wochen zurückliegt, schlecht für die ebenfalls dort frisch erstandenen Chianti-Gläser hernehmen. Sie würden zwar ohnehin nie benutzt werden, da ich italienischen Roten nur trinke, wenn er aus dem Piemont kommt, also dialektisch irgendwie francoprovençal schmeckt. Aber dennoch hieße es, ihnen den Stil zu brechen. Und einen traumhaften sechsflammigen Gasherd, für den Fall, daß es endlich soweit sein würde mit dem Umzug in die entzückende, knapp vierzig Quadratmeter riesige Wohnung im Cours Belsunce. Er war ein Ausbund an Ästhetik, wie die feinen Stil liebende Friseuse zu sagen pflegt, sozusagen die Inkarnation davon. (André Glucksmann — der als Frontier der Kulturnation schlechthin es ja wissen muß — hat festgestellt, die Italiener seien für die Schönheit zuständig. Weshalb man in Frankreich so etwas auch nur importieren kann.) Vorerst würde er eben in die Garage gestellt werden, der Herd (wie die ebenfalls hinzugekommene Kupferedelstahltopfkollektion). In der Wohnung gab es zwar keinen Gasanschluß, aber Veränderungen kommen schließlich häufig unerwartet. Das Auto muß allerdings kürzer werden. Machte nichts, es wurde ohnehin unfein, mit so einer so schrecklich großvolumigen Voiture den Stadtraum zu reduzieren, und überdies war er schon anderthalb Jahre alt, so daß seine Abwrackstunde sich abzeichnete. Aber damals kriegte man dort noch einen Parkplatz vorm Cucinaria, vor dem Café mit dem wirklich guten Espresso. Jedenfalls war das mal so, als ich noch kaufberauscht durchs Leben flog. Doch mittlerweile ist sogar mein Küchentempel vertrieben worden aus dem Chancen-Viertel. Die Jugend ist zuende. Photographie: findustrip — Ende der Legende
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