Molière zurück auf Thespis' Karren

Ich hab' geträumt heut' nacht. Von ihm. Es war wie einst zum 1. Mai. Inne Kneipe. Klar. — Ihm ein Denkmal.




Tagtäglich und überall begegnet man ihm. Früh morgens, auf dem Weg zur Arbeit, in der U- oder auch S-Bahn, auch im via Bankkredit zusammengestoppelten unteren Mittelklassewagen, das Gesicht mürrisch zerknittert vom Ständig-viel-zu-frühen-Aufstehen, die Manchesterhose schlotternd um die Beine, die wie übers Faß gebügelt scheinen (dick scheint einer wie er, obwohl er das Glas gern immer nachgefüllt sieht, nicht werden zu können). Abends dann, in der Kneipe an der Ecke, sind die Gesichtsfalten zwar nicht weniger geworden, doch der Feierabend hat die Physiognomie offener, heiterer gestaltet, die Witzchen kommen ihm jetzt leichter über die zwar vollen, aber immer doch ein bißchen zusammengekniffenen Lippen. Im breitesten Hamburger, Dortmunder, Kölner, Stuttgarter oder Münchner Dialekt könnte er sie erzählen. Das laute, meckernd-unbekümmert-freie Lachen, vorwiegend über sich selbst, ist geographisch überall einzuordnen. Wie überhaupt der ganze Typ.

Dieser ‹Allerweltstyp›, von dem hier die Schreibe ist, hat nach zwanzig Jahren Heidelberg, Göttingen, Berlin, Zürich mit überwiegendem Wohnsitz München seinen breiten, gutturalen, temperamentvoll den Rhythmus wechselnden Tiroler Dialekt nicht nur nicht abgelegt in die Lade neutraler, regional nicht mehr identifizierbaren Sprache, er wird sie gar beibehalten bis zum letzten Stoßseufzer, der da lauten könnte: Begrabt mich an der Biegung des Inn, irgendwo dort, wo die Teutonen über den Brenner gehen.

Richtig, vom Brenner wird hier geschrieben. Vorname Hans, geboren am 25.11.1938 in Innsbruck, Sohn eines tatkräftig engagierten sozialdemokratischen Arbeiters und dessen gleichgesinnter Ehefrau, nach dem Abitur beinahe Medizin- oder Forstwirtschaftsstudent, aber dann doch nur Schauspieler geworden.

Anzunehmen ist, daß er, bei seinem Arbeitseifer, besagten letzten Seufzer auf der Bühne tun wird, wie gesagt: in seinem Dialekt. Zu dem ist er, der Polyglotterie der gebildeten Theaterwelt fast überdrüssig, zumindest zum Zeitpunkt unseres Gesprächs, unumstößlich zurückgekehrt. Vorbei, so scheint es, dieses Deutsch der gespitzten und geschürzten Lippen, das mehr oder minder allerorten von den weltbedeutenden Brettern auf ein nur noch vom Ästhetizistischen berauschtes Publikum hinab-, um es wie Brenner zu formulieren, herabgelassen wird.

Er, der die Partitur des deutschsprachigen klassischen (Bildungs-)Theaters rauf- und runtergespielt hat, ist mit vollem Blut zu der Bühne zurückgekehrt (oder auch: endlich dort angelangt), die dramatisch/theatralisch das Leben des vielzitierten einfachen Volkes reflektiert, aber bittschön nicht platt(-deutsch) wie Ohnesorg/Hamburg, vermillowitscht wie in Köln oder wie aus diesen touristischen oberbayerschen Komödienstadl-Küchen, in denen das Bühnenerlebnis schmeckt wie Pappe.

Dialektisch soll es sein, in des Begriffes doppelter Bedeutung. Wie aus der «Hausmanns»-Küche eines Bertolt Brecht, eines Heiner Müller oder eines Franz Xaver Kroetz einerseits und in einer Sprache andererseits, die noch nicht zum Artifiziellen hin abgerutscht ist. Einfach, aber kräftig, für jedermann genieß-, ergo verstehbar, versehen mit der Würze des Für und Wider, basierend auf einer Ästhetikrezeptur, die er, der Volksschauspieler expressis verbis, im Augenblick allerdings noch nicht so recht vermitteln kann. (Überhaupt kommt ihm, dem Virtuosen der Körper- und Bühnensprache, die freie Rede nur schwer über die Lippen.) Diese Ästhetik müsse jetzt, im neuen Haus, erst wieder neu, nein, überhaupt müsse sie erst gefunden werden, es habe sie ja nie gegeben, eine Kleinbürgerästhetik. Bei Brecht ja, der ... Aber was sie, die Regisseure des Bürgertums, gemacht haben daraus auf ihrer Olympiade der Eitelkeiten! Den Brecht oder auch den Büchner, die erkenne man ja überhaupt nicht wieder, man wisse ja gar nicht mehr, was in diesen Stücken gespielt werde ...

Das neue Haus, in dem zunächst einmal die Spuren, die zu einer Kleinbürgerästhetik führen, gesichert werden sollen, ist das am 24. November letzten Jahres eröffnete Münchner Volkstheater. Zusammen mit Lebensgefährtin und Kollegin Ruth Drexel hat er das Zustandekommen dieser subventionierten Volksbühne betrieben wie kein anderer. Hier will er seine seit rund fünfzehn Jahren gewachsenen Vorstellungen vom Theater für die kleinen Leute, gemeinsam mit einer alten Riege bayerisch-tirolerischer Volksschauspieler und unter der Leitung des ehemaligen Chefdramaturgen des Münchner Residenztheaters, Jörg-Dieter Haas, realisieren.

Die Konsequenz: Auf dem Bildschirm, über den Brenner zu seiner Popularität gelangt ist, wird man diesen grantigen, kantigen Übersetzer von ‹Milieu›-Charakteren in nächster Zeit kaum sehen. Zunächst einmal ist es ihm wichtig, die Institution Volkstheater München als Forum «für die Leute, die Schwächeren, die die Abhängigen sind, die dominiert und gegängelt werden», im Bewußtsein der Öffentlichkeit zu installieren, aber auch im Bewußtsein der nach wie vor gegen dieses Theater opponierenden Lokalpresse.

Abgesehen davon: Spricht Brenner von sich als Schauspieler, dann will er das aufs Theater bezogen wissen. Sicher, er ist in den letzten Jahren vor allem im Pantoffelkino ständig präsent gewesen. In der Alpensaga beispielsweise, in der Fernsehfassung von Marie-Luise Fleißers Stück Der starke Stamm, in Folgen von Tatort, Derrick, Der Alte oder Walter Sedlmayrs Der Nächste bitte. Doch das Fernsehen, wie auch der Film, bringt ihn künstlerisch bei weitem nicht so in Wallung wie das Theater.

Nur auf der Bühne ergibt sich für ihn dieses «sehr sensible Miteinander oder auch Gegeneinander», lernt man, «wie doch der Einsatz sein muß, um den Kollegen näherzukommen». Nur beim allabendlichen Live-Auftritt könne er im Publikum das «kontroverse Klima produzieren», in dem die einen, die ihn «am liebsten runterprügeln wollen von der Bühne, trotzdem lachen», und die anderen, die ihn «ans Herz drücken wollen, fragen: Warum muß er denn dem Affen so Zucker geben?». Demgegenüber ist ihm, zweifelsohne ein ranghoher Solist, der Film eine «zu solistische Betätigung».

Zwei, drei Titel sind ihm dann doch zu entlocken, Arbeiten, zu denen er «voll steht», die auch seinem sozialdemokratischen Verständnis vom dialektischen Abbilden der Wirklichkeit entsprechen. Daß er dabei einen Film besonders hervorhebt, fast schwärmerisch auf Peppermint Frieden zu sprechen kommt, ist aus verschiedenen Gründen plausibel.

Die Rolle diesen fiesen, die Kinder eines niederbayerischen Dörfchens in bigotte Lustfeindlichkeit treibenden Pfarrers Expositus hat er nach der Lektüre des Drehbuchs (Marianne S. W. Rosenbaum) mit dem begeisterten Ausruf «Endlich mal ein Film mit Widersprüchen» vorbehaltlos angenommen. Gespielt hat er sie dann mit Team (Peter Fonda, Konstantin Wecker, Cleo Kretschmer u. v. a.) und Thema (Nachkriegszeit aus der Perspektive eines kleinen Mädchens) entsprechender Virtuosität. Allein seine Kanzelworte, mit denen er seinen Schäfchen die Angst vor den antichristlichen, bolschewistischen «roten Sternen, die drohend über den Gipfeln unseres schönen bayerischen Waldes stehen», zwischen die gerade wieder nachwachsenden Hörner drischt, haben die Durchschlagskraft einer mittleren Friedensbewegung.

Da der im Herbst '83 angelaufene Leinwandeinstieg von Marianne S. W. Rosenbaum, von Stern-Kritiker Bodo Fründt als «beste deutsche Kinopremiere seit langem» prädikatisiert, demnächst auch die US-Amerikaner (friedens-)bewegen wird, ist anzunehmen, daß in nächster Zeit manch ein Rollenangebot über den großen Teich kommen und im Einfamilienhaus im oberbayerischen Zorneding anlanden wird.

Hermetisch abgeriegelt scheint dieses Katalogreihenhaus, dem das Wie-du-und-ich-Paar Brenner/Drexel nebst achtjährigem Töchterchen Cilli ‹innewohnt›. Denn, von Freunden abgesehen: Wie's da drinnen aussieht, geht (fast) keinen was an.

Nun ficht da drinnen der Brenner seiner Drexel nicht unbedingt aus Apfelblüten einen Kranz. Da wird schon mehr handfest über die Arbeit gesprochen, die nahezu identisch ist mit dem Privatleben. Vordergründige Sentimentalitäten sind nicht eben die Fracht dieses Schauspielerdoppels, das sich vor den Thespiskarren Volkstheater gespannt hat, seit rund 15 Jahren immerhin.

Dennoch geht es, zumindest was den reichlichen Musikkonsum des Hans Brenner betrifft, des öfteren operettenhaft zu bei ihm zu Hause. Er ist «ein hoffnungsloser Fan des seichtesten aller seichten Milieus». (Es zu überdenken, sei überhaupt vonnöten. Man denke nur an Brechts Kaukasischen Kreidekreis, eine «der schönsten Schnulzen überhaupt». Mit solchen Sujets käme man doch endlich ans «Volk» ran, das den Kulturschaffenden hierzulande bei jeder Gelegenheit mehr oder minder heuchlerisch zwischen den Lippen hervorquille.) Aber auch die ganze Klassik hört er, «bis runter zu Schönberg, natürlich die Mozart-Opern und Verdi». Das sei nicht, «wie man sagt, Musikhobby, sondern das ist eine Leidenschaft». Die Rockmusik nicht ausgenommen.

Und die anderen Künste, die zeitgenössische Malerei und Bildhauerei? Da war er, sieht man vom im Haus hängenden Picasso ab, «kein echter, aber einer von 2.000 handsignierten», bislang abstinent.

Aus zweierlei Perspektiven repräsentiert er da ein altes Dilemma: Zum einen die gewisse Bilderfeindlichkeit, vor allem gegenüber der Moderne, die das Kleinbürgertum entwickelt hat (und Hans Brenner bekennt sich nicht nur zu ihm, er entstammt ihm tatsächlich); zum anderen durch die (ebenfalls historisch bestimmte) Konfrontation einer Kunst der oberen (Adels-)Stände, der ‹bildenden›, mit der des Volkes, des einfacher zu verstehenden Theaters.

Doch Brenner reflektiert die Ablehnung, die er beispielsweise gegenüber der abstrakten bildenden Kunst hatte (und die er für sich selber bald abgelegt haben will), über private Begegnungen mit Malern und Bildhauern: Sie seien ihm «zu monoman, zu egozentrisch, zu zurückgezogen» für ihn, der «gern mit den Leuten am Stammtisch hockt». Aber er, der meint, die bei uns praktizierten Ästhetikvorstellungen stünden im krassen Mißverhältnis zur Nachfrage, will die bürgerliche Kultur keineswegs abgeschafft wissen. Schließlich werde «dieses Land ja von den Bürgerlichen regiert, und die brauchen ja auch ihre Kultur». Nur, daß die ständig in die der kleinen Leute eingreifen, bringt ihn fast in Harnisch. Das war schon so zur Zeit der Studentenbewegung, als er bei Peter Stein an der Berliner Schaubühne war.

Damals, Ende der 60er Jahre, kamen die Studenten jeden Abend und fragten, ob unter den gesellschaftspolitischen Verhältnissen Theaterspiel überhaupt noch möglich sei. «Natürlich», sagt der damals von der bürgerlichen Theaterkritik nahezu Gehätschelte, «die Sympathie, die gehörte denen. Aber diese Leute, die die großen Diskussionen geschwungen haben in irgendwelchen Aulen, die haben mir zum Teil fürchterlich gestunken. Das waren auch so Bürgerkinder mit besten Manieren und hervorragenden Möglichkeiten, sich zu äußern. Denen lief das da alles so runter von den Lippen wie Honig, deren Argumentation.» Und er resümiert, daß das Scheitern der Studentenbewegung daran lag, «daß es diesen Leuten überhaupt nicht gelungen ist, einen Zugang zum Kleinbürger zu finden».

Da er Kunst und Politik voneinander nicht trennen kann und will, wettert er auch, womit wir wieder beim Theater wären, gegen diejenigen, die sich zum Beispiel einen «echten Grattler wie den Karl Valentin in ihrer bourgoisen Hybris reinziehn». Was sie mit ihm gemacht haben, findet er «zum Teil unappetitlich». Es sei «natürlich schon ein Leckerbissen für alle Bürgerlichen, die tausend Nöte und Ängste, diesen fürchterlich chaotischen Boden eines Kleinbürgers so komisch» auszustellen. Ihn, den Valentin, das von den Falschen vereinnahmte Symbol des armen Schluckers, möchte Brenner nach eigenen Vorstellungen vors breite, vors richtige Publikum bringen. Mit Chaplin, mit den großen Shakespeare-Narren vergleicht er ihn, und spielen will er ihn, auch wenn er sich sicher ist, daß er damit «das Maul sehr voll nimmt», schon angesichts der Tatsache, daß doch tatsächlich ein Münchner Faschingsverein sich erdreistet, einen Valentin-Orden alljährlich zu verleihen. «Speiübel» wird ihm dabei. Nicht mit dessen «eigentlich unwiederholbaren, weil originellen Mitteln» will er ihn für (Münchner Volks-)Theater zurückerobern, sondern «einfach mit den Mitteln eines Schauspielers, der für diese Art von Phantasie sehr, sehr viel übrig hat».

Auch Nestroy, den er «für einen außerordentlichen Volkstheaterschriftsteller» hält, habe seine Stücke ja auch für «seine kleine Klitsche, diese Sofittenbühne mit den drei Fetzen», geschrieben, und es sei ja auch gelungen, «den Nestroy für das deutsche Theater zu entdecken». Daß er «manchmal so schlecht inszeniert wird, daß man ihn gar nicht anschauen kann» ...

Aber das sei wieder eine ganz andere Geschichte.


P. S. Hans wurde 1998 jenseits des Brenner begraben.

Flohmarkt: savoir-vivre, Februar 1985

Photographie: © Thomas Karsten

 
Fr, 29.04.2011 |  link | (5689) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Dramatisches



 

Eisenbahnromantik


Besonders in deutschen Landen frisch auf den Tisch des allzeit bereiten Konsumenten servieren die Medien gerne die Inflation. Doch so sehr diese offensichtlichen Urängste des zur Sparsamkeit erzogenen Menschleins immerfort aus ihm herausdrängen, ihn sozusagen über die rechtzeitige Erziehung «authentisch» machen, nicht zuletzt, da ebendiese Unterhaltungssendungen inflationär zunehmen, in denen vermutlich in Kürze viertelstündlich die Gold- und Silberkurse durch den Äther beinahe dauerfunken, es existiert dabei ein Widerspruch, den ich mangels psychologischem Einfühlungsvermögen nicht nachvollziehen kann — die inflationär produzierte Eigeninflation. Möglicherweise gibt es Verbindungen zwischen dem, das der Mensch nicht hat, und weshalb er sich ständig getrieben sieht, es zumindest virtuell in derartigen Massen zu fordern, daß sich bei der dann tatsächlich erfolgenden Forderungserfüllung selbst der Magen des allerärgsten Vielfraßes wegen Überfüllung in die Rotation begibt. Als Beispiele ließen sich Fernsehsendungen nennen, in denen es ums Kochen oder um die Liebe geht oder um nutzlose Gegenstände, die man zu verkaufen trachtet, um im Anschluß daran Gegenstände erwerben zu können, die garantiert nicht benötigt werden.

Zu diesen scheint sich eine weitere hinzuzugesellen: die Eisenbahn, gerne verpackt in dieses blümchenartige Geschenkpapier mit in der fernöstlichen Fabrik vorgefertigten Schleifchen namens Romantik, die sich dann in einer ähnlichen Logik präsentiert wie die Aufklärung im aktuellen chinesischen Kommunismus. Des Eindrucks kann ich mich nicht erwehren, je weniger Menschen mit der Bahn fahren, vielleicht weil es immer weniger nutzbare Strecken gibt oder dort, wo sie noch existieren, gar keine mehr hineinpassen in die Waggons, um so mehr sehnen sie sich nach diesem scheinbar nicht mehr existenten Verkehr auf den Schienen. Reichte es vor noch nicht allzu langer Zeit aus, dem nächtlich Einsamen die Position eines Lokführers anzubieten, von der aus er virtuell irgendwo von A nach B durch irgendeine Landschaft fuhr, so tuckern mittlerweile soviele Bähnleins durch die Fernsehlande, daß selbst wiederbelebte Geleise nicht ausreichen würden, diese Langsamreisen realiter durchzuführen. Mir wurde zugetragen, daß es sich bei den potentiellen Interessenten dieser meist technikspielerischen Bahnfahrten überwiegend um Menschen handeln soll, die sich im Ruhezustand des Lebens befinden.

Vor etwa fünfzehn Jahren bin ich nach einem langen Reifeprozeß zu jemandem geworden, der dieses Reisen mit Muße schätzen gelernt hat, nicht zuletzt auch deshalb, weil ich, im Gegensatz zum ständig irgendwo tunnelnden ICE oder dem in drei Stunden die Strecke Paris-Marseille durchzischenden TGV dabei etwas von Ländern und Menschen sehe und dabei hin und wieder gar von der Muse oder einer Mitreisenden geküßt werde. Das ist mit ein Grund, weshalb ich von der anfänglich genutzten ersten Klasse in die zweite umgestiegen bin. So ziehe ich es beispielsweise vor, für die Bahnreise vom Holsteinischen nach Berlin durch Branden- und Mecklenburgs Weiten zu rollen. Davon einmal abgesehen, daß trotz zweimaligen Umsteigens ich auch nicht später ankomme, als führe ich mit dem Expreß von Hamburg aus zur hauptstädtischen Zentralstation — ich sehe eigentlich nie Menschen meines Alters in diesen Zügen. Aber die reisen vermutlich nicht wie ich zu Zeiten, in denen sie Zeit hätten, allen anderen die Plätze zu überlassen, die diejenigen benötigen, die sich auf dem Nachhauseweg von des Tages Last ein wenig ausruhen möchten. Oder sie sitzen auf den vor drei Monaten und deshalb äußerst preiswerten bequemen Sesseln der Großraumwagen, bevorzugt karten- oder sonstwas spielend bei mitgebrachten Analogkäsebroten, und auch hier am liebsten während der Stunden des Berufs- oder Wochenendverkehrs. À propos: Auch hier scheint es Analogien zu geben — wer am meisten Zeit hat, geht dann zum Einkaufen seiner analogen Grundnahrungsmittel, wenn am meisten los ist in den Läden. Man möchte schließlich auch mal unter Menschen.

So sehe ich nächtlich einsamer, weil von unendlicher Müdigkeit und dennoch Schlaflosigkeit Malträtierter in zunehmendem Maße, wie immer mehr Menschen in hundert Jahre alten Bähnchen auf stillgelegten Strecken drängen. Offensichtlich kann es gar nicht eng genug zugehen, so gemütlich oder auch romantisch muß das sein. Oder sollte es dabei, um in die philosophische Dimension meiner Ansprüche zurückzukehren, andere Seinsursachen geben? Wer war zuerst da — die Bahn oder das Ei, das die Unterhaltungsindustrie gelegt hat? Was treibt die Herde Mensch derart gar in eigens dafür gebildete Schaukästen wie etwa dem hamburgischen Wunderland zusammen, daß sogar öffentlich-rechtlich pausenlos neue Strecken eröffnet werden müssen, derweil in der Wirklichkeit kaum noch ein Vorankommen ist (wobei nicht die berechtigten Streiks auf den privatisierten und deshalb lohndezimierten Bahnstrecken gemeint sind)? Hatten die Älteren während ihrer Kindheit mangels Masse keine ausreichende Gelegenheit, damit zu spielen? Müssen wegen dieser Verklärung einer nicht vorhandenen Erinnerung die Kleinen einen ganzen Nachmittag auf ihre Spiele am Computer verzichten?

Ich habe einen Traum — der Wutbürger demonstriert sich seine Welt zurück, in der er seine Eisenbahn wiedererhält, die in Staats-, also Steuerzahlerbesitz sich weniger um Gewinne und mehr um diejenigen bemüht, die sie als bequemes und, ja, auch das noch, umweltfreundliches Transportmittel benötigen. Dann kämen einige weniger tiefergelegte Bahnhöfe mehr zusammen, und die in kleineren Städten würden samt Toiletten und Fahrkartenschalter wieder in Betrieb genommen. Das wäre mal eine andere Maßnahme, für Arbeitsplätze zu protestieren.

Aber das ginge dann auch schon wieder in Richtung einer Inflation. Die der Nostalgie ist schließlich billiger.
 
Mo, 25.04.2011 |  link | (2155) | 18 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 

Selbsterkenntnis mit Laura

Des einige Zeit in der Nähe von Avignon dichtenden Italieners der frühen Renaissance und sicher bekanntester und bedeutendster Gedichtzyklus in einer zweisprachigen Ausgabe, die für den deutschsprachigen Raum ihresgleichen sucht: der Canzoniere. Der von Francesco Petrarca selbst ursprünglich unter dem Titel Rerum vulgarium fragmenta zusammengestellte Band enthält 366 Gedichte: 317 Sonette, vier Madrigale, sieben Balladen, 29 Canzonen und neun Sestinen.

Ihren großen Ruhm verdankt die Sammlung den Sonetten an Laura, deren zwei Gruppen den Hauptteil des Canzoniere bilden. Nach Gero von Wilpert prägten diese Liebesgedichte nach dem Minnesang des Mittelalters für mehrere hundert Jahre Stil und Wortschatz des «zweiten erotischen Systems der europäischen Kultur». Deutlich unterscheidet sich darin bereits das Bild der Frau von dem, das die Provençalen und die Dichter des dolce stil nuovo zeichneten, die die Frau als engelhaftes Wesen anbeteten und ihre äußere Erscheinung mit stereotypen Redewendungen beschrieben, meistens besungen von den von Burg zu Burg ziehenden frühen Laudatoren einer Liebe, die Körperlichkeit nicht kannte. Die Damen bestellten sie sich häufig vor die Balkone, um sich die Langeweile vertreiben zu lassen, die entstand, wenn ihre Ritter mal wieder zu einem christlichen oder anderweitigen Raubzug durch die Lande streiften. In ihrem Wertekanon hielten sich diese Balladen bis in die Wiederaufnahme des Liebesgeflüsters beispielsweise eines Cyrano de Bergerac etwa durch Edmond de Rostand; bis heute hält sich diese gerne als Romantik fehlbezeichnete geradezu spirituelle Entleiblichung.

Bei Petrarca ist die donna angelicata jedoch kurz davor, von ihrem Podest hinabzusteigen, die Statue des Pygmalion beginnt, Fleisch und Blut zu werden. Seine Laura bewegt sich in der irdischen Natur, entledigt sich gar ihrer Gewänder und badet im Fluß. Eine Wiedergeburt aus der auch körperlich lebhaften Antike bahnt sich an, wenn die frühe Minne auch noch immer wieder durchschimmert. Ihre Bewegungen, ihr Mienenspiel werden wiedergegeben, ihr Verhalten dem Dichter gegenüber ist abzulesen an den Stimmungen, die in den Sonetten evoziert werden. Die wahren Empfindungen der Geliebten werden nicht deutlich, es bleibt offen, ob sie die Liebe des Dichters erwidert und ob ihre Tugendhaftigkeit einem Mangel an Gefühl, einer grundsätzlichen Haltung oder nur natürlicher Scham zuzuschreiben ist. Diffus ist das zwar, aber ein Leben wird bei genauer Betrachtung erkennbar, das später als Beziehungslosigkeit in die Sprache der Psychologie einziehen wird.

Denn die Empfindungen Petrarcas sind ohnehin nicht als Liebe im herkömmlichen Sinn zu verstehen: dieser Liebende findet Erhebung in der Betrachtung der Schönheit und Tugend der reinen Frau; manches aus dem Wortschatz der Marien-Verehrung ist in seine Liebessprache eingegangen. Stärker jedoch als die religiöse Überhöhung kommt der Unmut des Mannes zum Ausdruck, der an der unmenschlichen Tugend und Reinheit der Frau leidet, die ihm keine Erfüllung gewährt, aber möglicherweise auch sein Leid darüber, daß er sich selbst immer auf Distanz hält.

Während Petrarca im ersten Teil der Gedichte in der lebenden Laura seinen eigenen Schmerz idolisiert, findet er allerdings im zweiten, in dem sich sein Seelenzustand nach dem Tod der Geliebten spiegelt, über die Erfahrung des wahren dolore amoroso zur Erkenntnis zutiefst menschlichen Leidens. Die kunstvollen Sonette des zweiten Teils, in denen mit reich variiertem Wortschatz die feinsten Nuancen einer melancholischen Lebensmüdigkeit, einer Zerrisenheit zwischen Liebe, Ruhmverlangen und christlicher Demut aufgezeichnet sind, gelten als die vollkommensten Gedichte des Canzoniere.
«Ich geh in Trauer um vergangne Zeiten,
in denen mich ein sterblich Ding verwirrte
und ich zum Flug, der mich dem Joch entschirrte,
die Schwingen, ach, versäumte auszubreiten.»
[1]
Radio DRS und Radio France (Auszug), Oktober 1993

•••

Die erwähnte, sehr empfehlenswerte (ursprünglich in einem der letzten kleinverlegerischen Bastiönchen erschienene) Ausgabe ist — bedauerlicherweise — vergriffen (die 2002 bei Artemis und Winkler erschienene, von Hans Grote herausgegebene kann ich nicht beurteilen). Sie scheint sehr gefragt, genauer: kaum jemand mag sich von ihr trennen wollen; antiquarisch wird immer wieder mal ein Exemplar angeboten, aber häufig zu einem Preis, der um einiges über dem des dtv-Erstlings liegt, oftmals das doppelte und mehr. Das hat seinen Grund sicherlich auch in den Übersetzungen von Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer, der das Buch auch herausgegeben hat. Hier wird Laura ihres Astralleibes entledigt, bekommt die Magersüchtige der Anbetung Fleisch an die Rippen, die steinerne Aphrodite geschichtsabsenter Verzückung wird beatmet — was der sprachlich-bildhaften Schönheit dieses Werkes keinen Abbruch tut, sondern es eher aufwertet, da ihm das reine, idealistisch Abgehobene genommen wird. Nicht zuletzt der inhaltlich wie sprachlich brillante Kommentar bewegt den Canzoniere im Regal dort hin, wo er (auch) hingehört: ins Fach, in dem die Lyrik aussagebereit und -kräftig neben der Geschichte (nicht nur der Literatur) steht.
«— selbst Hannibal entschlüge sich des Spottes ...
Schenkst du nur einen Blick dem Hause Gottes,
das heute gänzlich brennt, dann wird dir Kunde:
damit der Wunsch gesunde,
genügt es, Funken nur des Brandes, der tobte,
zu löschen, was man noch im Himmel lobte.»
[2]
Dazu bei trägt das Buch mit seinen weit über tausend Seiten, das all dies eben nur in seiner Gesamtheit zu verdeutlichten vermag. Die Reduktion auf 50 Gedichte (384 Seiten) und in der Übersetzung von Peter Brockmeier, die Reclam aktuell anbietet, deutet allerdings auf eine Rezeption hin, nach der sich Petrarca als Troubadour, sich Laura als Liebesgöttin sehr viel größerer Nachfrage erfreuen denn als Geschichtsschreiber beziehungsweise als Figur der Renaissance. Hier scheint die Wahrscheinlichkeit nicht weiter von Belang, daß die engelhafte Blondine im richtigen Leben, im Avignon des 14. Jahrhunderts gar nicht existierte. Für viele Menschen scheint es auszureichen, lesen zu dürfen: «Du kühlst mich nicht, Canzone, du entflammst mich ...»

Dabei werden dann schon auch gerne Andeutungen überlesen, die auf Regungen verweisen, die dem Menschlein auch schonmal in die Glieder fahren.
«Talor m'assale in mezzo a'tristi pianti
un dubbio: Come posson queste membra
da la spirito lor viver lontante?
Ma rispondemie Amor: Non ti rimembra
che questo è privilegio degli amanti,
sciolti da tutte qualitati humane?

Zuweilen stürmt im Weinen den Betrübten
ein Zweifel: wie denn können diese Glieder
so weit von ihrem Geist geschieden leben?

Entsinnst du dich, tönt Amors Stimme wider
daß dies das Privilieg ist der Verliebten,
die sich menschlicher Eigenschaft entheben.»
[3]
Glücklicherweise scheint jedoch auch Peter Brockmeier in der Reclam-Ausgabe dem Cliché der entleibten Liebe keine neue Nahrung zu geben (die offensichtlich allgegenwärtigen nachwilhelminischen Übersetzer-Wehen haben auch allzuzuviel Mißgeburten in die gesamte literarische Welt hinausgepreßt). In seinem Nachwort hält er fest: «[…] Der Konflikt zwischen Körper und Geist liegt auch der Liebesdichtung Petrarcas zugrunde; denn die Liebe ist ohne Sexualität nicht zu erfahren. Schon Augustinus hat von der Gottesliebe, der geistigen Liebe gesprochen und zugleich den Leser an die ‹fleischliche Umarmung› erinnert: Wenn er, Augustinus, Gott liebe, so sei dieser ‹das Licht, die Stimme, der Wohlgeruch, die Speise und die Umarmung meines inneren Menschen.›» (Buch von der Deutschen Poeterey, VI. Capitel.) Und — das läßt auch für die verschlankte Version des Canzoniere hoffen — der Emeritus der Berliner Humboldt-Universität Brockmeier deutet, ebenfalls im Nachwort, an, daß es sich bei diesem Werk wohl kaum um eines handeln dürfte, das eine Angebetete ihrem Ritter beim Hotelweekend unterm Eierbaum selbstgefärbt oder gar -gelegt ins Hasennest säuseln wird.

«Francesco Petrarca, ein beflissener Leser der Bekenntnisse des Augustinus, hat die Form des Selbstbekenntnisses auf die Liebesdichtung übertragen: Er hat sich und sein Leben vor das Gericht eines erfundenen poetischen Ichs gestellt, um die Natur seines vergangenen liebenden Ichs zu ergründen. Die Liebeskunst seiner literarischen Vorbilder hat er in eine Gewissenserforschung verwandelt, die sich von der Faszination der Sünde nicht lösen kann. Das Lebensideal, das Petrarca dem Leser der Gedichtsammlung ansinnt, lautet: Lies und schreib, damit du dich selbst erkennst.»


[1] Ich geh in Trauer um vergangne Zeiten, p 953
[2] Ich wende mich zurück bei jedem Passe, p 35
[3] Es war der Tag, an dem die Sonne, ibid., p 157

Francesco Petrarca: Canzoniere
Zweisprachige Gesamtausgabe, nach einer Linearübersetzung von Geraldine Gabor und in deutsche Verse gebracht von Ernst-Jürgen Dreyer, nach der Ausgabe von Guiseppe Salvo Cozzo, Florenz 1904, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1990, 2. Auflage

Zur Petrarca-Monographie von Karlheinz Stierle einiges via Perlentaucher.
Siehe auch: Francesco Petrarca, Das einsame Leben.

 
Fr, 22.04.2011 |  link | (2759) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 







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