Eine Revolte ...

Ich erinnere mich. Von wegen. Jetzt fällt's mir wieder ein — ich wollte das damals sehen. Wollte. Aber auf StudiVZ mußten zum wiederholten Mal die Bilder von der vorletzten Party angeschaut werden, das Vokabeltraining für den anstehenden Gummispringseilaufenthalt in Neuseeland wollte repetiert, ein kindergeburtstägliches Gesellschaftsspiel erneut in Augenschein und zwischendrin noch ein Blick auf lustige T-Shirts genommen werden. Ich nahm zwischendrin mal einen kurzen Blick auf prügelnde Polizisten oder Soldaten in Berlin, Bonn, Chicago, Paris, Warschau und Panzer in Prag und Bomben in Vietnam, das war die action, die bei mir momentan Priorität hatte. Aber der Begriff Familienunterhaltung erfährt bisweilen unterschiedliche Auslegungen. Kurz vorm Platzen meiner zum Denken führenden und ohnehin leicht verengten Halsschlagader zog ich mich zurück in die von einem Zweitfernseher beheizte Kemenade. Der Tag, der Abend, die Nacht sollte diesem voluminösen Erinnerungsmenü auf 3sat gehören. Doch es wurde nichts daraus. Zum Zweck des Mensch-ärgere-dich-nicht wurde der Raum meines Abseits' evakuiert. Tagelang hatte 3sat den Thementag Traum von '68 angekündigt. Ich war irgendwie auf anderes heiß als auf Backfischträume.
 
Do, 05.05.2011 |  link | (2007) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ich schau TeVau



 

Blick ins Mai-Rohr

Eine Familienzusammenkunft bei der besten Brateuse seit aller Anfänge. Der ehemalige frühpensionierte Kieler Fördegeneral hatte sich zu Mutti eingeladen, sich eigens dafür von seinem vielväterlichen Beschäftigungsprogramm beurlauben lassen, um leicht verspätet zu seinem Jubeltag das satt zu bekommen, das er als sein Gemüse bezeichnet, ohne die entsprechende Literatur dazu je bewältigt zu haben. Aus dem Rohr auf den Tisch sollte ein feines Teil dessen, das sich kurz zuvor noch im Ehebett der Lütjenseer biologischdynamischen Bauersleute räkeln durfte und von ihnen die formalerotischen Massageeinheiten nach dem Demeter-Ritus empfing. Für ein derart vitales Stück Muskulatur legt die kommende Nobelpreisträgerin für transzendentale Zellkultur sogar ihr streng vegetarisches Sein eine Bratenlänge lang auf den Prüfstand. Ihr Ehemaliger, dieser informationsdesigntechnologisch fastpromovierte Computerchinese, wäre für so etwas gar aus dem fernen nordöstlichen, am Mare Balticum gelegenen Hafenstädtchen angereist und hätte ein Kilogramm handgeklaute Linda und nochmal soviel von dem roten stormarnischen Heimatkohl als Sättigung beigelegt; aber der ist längst abserviert, und endlich, endlich (!) massiert sie andere Partien. Der Grammy-Preisträger in spe komponierte und dichtete vorher schnell noch eine von diesen mittlerweile kaum mehr zählbaren Balladen auf Sonntagsschweinereien nach des nicht ganz so barbarischen* US-Amerikaners Richard Brautigan selig Sinnlichkeitsvorbild.

Das faulste aller wochenendlichen Jutebehältnisse bereitete sich währenddessen auf ein sonntägliches Ritual vor, das seit mittlerweile vierzig Jahren nur ausgelassen werden darf, wenn man sich außerhalb des Sendegebietes von bestimmten lustigen Tierchen befindet (glücklicherweise gibt es das wenigstens im Nordbüro nicht mehr, wo seit einiger Zeit arte Süchtige sogar ex terra auf französisch, nämlich digitalisch befriedigt). Um sich einzustimmen, betreibt es schonmal Kanalhüpfen. Und er bleibt unwiderruflich hängen, der alte Jutesack, stolpert innerhalb seines Festplattenaufzeichnungs- und überhaupt Empfangsgerätes, dem er eigentlich lediglich nebenbei die korrekte, nämlich sommerliche Zeit einjustieren wollte. Vergessen war das kindliche Vergnügen für Großväter. Nicht einmal die mediterran verunstaltete stormanische Tierschulter schien ihn noch zu locken. Schuld an dieser Abstinenz waren Bilder und Töne, die an frühere Zeiten erinnern. Nicht nur der jungväterliche Ex-Fördegegeral, für den das Jungschwein jäh aus dem Demeterbett gerissen wurde, sondern auch '68 hatte in einem April Geburtstag. Den vierzigsten. 2008. Man entkommt ihr nicht, der Erinnerung. Aber die hat Zeit. Bis morgen. Oder übermorgen.


* Barbaren, das sind nach Meinung südlicher Siedler Stotterer oder Stammler, die oberhalb des Breitengrades von Lyon, des französischen «Weißwurstäquators», leben und mit denen eben deshalb keine Verständigung möglich ist.
 
Di, 03.05.2011 |  link | (3222) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache



 

Realität versus Satire

Es gibt keine Feinde mehr. Der eine ist endgültig in seine Partei integriert, der andere überlebt kaum mehr als in Bildern der Erinnerung — als die Schwarzen noch farbecht waren und noch nicht so bunt gesprenkelt.

Der Kandidat

«Sagen Sie den Menschen, daß diesmal um unser Schicksal gewürfelt wird. Sagen sie ihnen, daß sich keiner mehr dem Wellenschlag der Politik entziehen kann. Es gibt kein Glück im stillen Winkel mehr. Sagen Sie es den Verschlafenen, Verdrossenen, Saumseligen, Letscherten und Lapperten in diesem Lande.»

Der Kandidat — Original-Ton. Wiedergehört am vergangenen Freitag im Münchner ARRI-Kino. Da hieß es ‹Leinwand frei› für den großen Schauspieler, den Selbstdarsteller Franz Josef Strauß. Eine seiner Lieblingsrollen ist die eines Führers, der Führer eines Landes, das auch das unsere ist. Für diesen Part probt er bereits dreißig Jahre.

Daß er die Hauptrolle bekommt, wollen viele Menschen verhindern. Die einen rocken gegen rechts, andere machen Bücher wie Aus Liebe zu Deutschland, Kabaretts widmen ihm ganze Programme, und wieder andere machen Filme wie Der Kandidat.

Sie heißen: Volker Schlöndorff und Alexander Kluge, Stefan Aust und Alexander von Eschwege. Die ersten beiden Spiel-, die anderen Dokumentarfilmer. Theoretisch finden alle vier Gnade vor den Augen des Großen Bayerischen Vorsitzenden: Sie haben Abitur. Entstanden ist der Film auf Vorschlag von Theo Hinz, dem Geschäftsführer des Filmverlags der Autoren, der sich eine Fortsetzung des Films Deutschland im Herbst vorstellte. Und um aus Deutschland im Herbst 1980 keinen zweiten, dritten oder werweißwievielten Frühling des politischen Stehaufmannes Strauß werden zu lassen, haben die vier Filmer zurückgeblickt. Aber leider nicht im Zorn.

Ob Der Kandidat den Kandidaten in seiner Rolle erschüttern wird, ist fraglich. Andererseits: Was hat diesen ‹Vollblutpolitiker› je wirklich aus seiner Umlaufbahn geschossen? Die Biographie von Strauß liest sich wie ein Politik-Thriller: Hispano Suiza, Spiegel, FIBAG oder Onkel Alois, Starfighter heißen die Stationen, die Affären. Daran zu erinnern, ist das Anliegen des Films, im Dokumentarischen liegt seine Stärke. Denn wer von uns weiß noch genau, wie das war?

Daß Strauß als Verteidigungsminister den Schützenpanzer HS 30 zu einer Zeit kaufte, als das Kriegsgerät lediglich im Holzmodell existierte; er wegen des «landesverräterischen» Artikels im Spiegel dessen Redaktion ausheben und den damaligen Chefredakteur Conrad Ahlers über sämtliche (juristisch legitime) Grenzen hinweg in Spanien verhaften ließ. Auch der plötzliche Reichtum seines Nenn-Onkels Alois und die zahlreichen runtergefallenen Starfighter sind bei vielen von uns der Schnee zweier vergangener Jahrzehnte. Das alles holt Der Kandidat aus unseren Hinterköpfen hervor, hilft den Jüngeren bei der Aufarbeitung bundesdeutscher Geschichte.

Und das, obwohl ARD und ZDF den Autoren den Zugang zur verfilmten deutschen Nachkriegsgeschichte verweigerten! Im Wahljahr könne man sich das nicht leisten, war die Begründung des elektronischen Meinungspools.

Der Hauptinitiator des Films, der Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff, ist der Meinung, daß nicht von Strauß die Gefahr ausgeht, sondern von der «Trägheit unserer Gesellschaft, die bereit ist, eine mehr oder minder funktionierende Demokratie aufzugeben und sie einem sogenannten starken Mann zu überantworten». Diese These bestimmt auch den Film. Hätte der starke Mann Strauß gewußt, wie wenig ihm das Vierergespann auf die Zehen tritt, die Kamerateams wären bei den Dreharbeiten am Ort nicht immer wieder ‹rausgeflogen›. Strauß bei der Arbeit, in der Familie, als noch ranker Jung-Politiker unter Adenauer, als Hochzeiter und ballspielender Vater. Immer ein bißchen verschwitzt und auch verschmitzt, ein Unikum halt. Selbst wenn er in Passau vor Tausenden seine Sozialisten-Hatz runterbelfert, kann er einem in diesem Film fast leid tun. Ihm verhagelt's darin viel öfter die Sprache als dem Kinogänger.

So gesehen sind die (kommentarlosen) Bilder und Original-Töne am interessantesten und aufschlußreichsten, die diese schauerlich-herbstliche Stimmung im Deutschland der achtziger Jahre zeigen: das von den Massen in der Passauer Nibelungenhalle gesungene Deutschland-Lied (zu dessen dritter Strophe Strauß — demonstrativ? — schweigt); unser Proporz-Bundespräsident auf Wanderschaft in der Lüneburger Heide («Finden Sie nicht auch, daß es nicht mehr so stark regnet?»). Auch die Parallelität der beiden Führungspolitiker ist frappierend dokumentiert. Da macht der Film spätestens den dramaturgischen Schlenker in die informative Satire, vervollständigt von der Gegenüberstellung des Gründungsparteitages der ‹Grünen› und einem Luftwaffenball und der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht in dessen Amtssitz — beide im Glauben, daß die Kamera noch nicht läuft.

Nach gut zwei Stunden Der Kandidat resümierte ich mit dem Passauer Kabarettisten Siegfried Zimmerschied: Die Satire ist nicht in der Lage, die Realität einzuholen. Der Kandidat ist (am Ende) Satire. Stoppen dürfte Der Kandidat den Kandidaten kaum. Allenfalls könnte er ein bißchen nachdenklich machen, allerdings nur diejenigen, die das ohnehin tun: nachdenken nämlich.


Flohmarkt: savoir-vivre, 1980
 
Mo, 02.05.2011 |  link | (2459) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kamerafahrten



 







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