Das «gelebte Europa».

Dafür, guter Charon, hätte es keines Vereins bedurft. Ich selbst habe es in jungen Jahren im Norden erfahren, in Finnland und Schweden, später sogar in Dänemark, wo man mit der Montanunion nicht unbedingt Erdbewegendes vorhatte, daß man fröhlich Grenzen überschritt, die irgendwie nicht vorhanden zu sein schienen. Ihr Dorfbürgermeister war also schon früh überall. Nicht unerwähnt bleiben möchte einmal mehr die Betrachtung von S. D. Sauerbier, der in den Neunzigern darauf verwiesen hat, daß es zumindest für künstlerische Gemeinsamkeit keinerlei politischer Vereinsmeierei bedurfte, es Europa genaugenommen bereits in den fünfziger Jahren gab. Als ich in den frühen Siebzigern erstmals nach Aachen kam, befand ich mich nach einer automobilen Erkundungstour auf einmal im belgischen Eupen, ohne je einen Grenzschützer zu Gesicht bekommen zu haben. Ähnliches geschah mir, als ich irgendwo um Vaals herumkurvte und kurz vor Maastricht tief in den Niederlanden gelandet war. Aus diesem Dreiländereck wurde schließlich eine kleine, die wohl erste und dörflich anmutende Euregio gehäkelt, kaum einen Einheimischen hat das seinerzeit ernsthaft interessiert. Die Politiker hingegen, sie hatten wohl groß Karlchens Sarg im Dom gesehen und waren gigantisch erleuchtet worden, benannten es später um in Euregio Maas-Rhein.

Um so bemerkenswerter ist es, zu erleben, daß zwanzig Jahre nach Schengen in völlig offenen, häufig ineinander übergehenden Grenzgemeinden die französischen Kinder lieber auf ihrem nationalen Gebiet spielen und die deutschen ebenso. Man hat nichts gegeneinander, «Erbfeindschaft» ist aus dem Vokabular getilgt. Aber es stellt sich dennoch die Frage, ob sie's von den Alten haben, die auch lieber im schwarz-rot-gold unbeflaggten Wirtshaus unter sich bleiben und das vorm Bistrot wehende Bleu-Blanc-Rouge eher meiden? An der Sprache allein kann es nicht liegen, denn die meisten Elsässer und teilweise gar die Lothringer sprechen nach wie vor deutsch, bei Festivitäten singen sie sogar lauthals im Chor Warum ist es am Rhein so schön? Mir wird es ewig ein Rätsel bleiben, wie nationale Grenzen regionale Mentalitäten auf Dauer durchschneiden können, und das, obwohl sich kaum noch jemand für Geschichte interessiert.

Zum Einkaufen, ja, dafür fahren sie rüber in den Supermarché, reisen sogar aus der nördlicheren Pfalz bis ins französische Bitche an, wenn sie von der Macht des Essens gefangen sind, um die feinen Crevettes zu kaufen. Aber bei den meisten geht's sofort wieder zurück nach dem günstigen Einkauf, der den der Einheimischen verteuert, wie auch die vielen Insassen der Sechs- und Achtzylinder mit den deutschen Kennzeichen die Preise der Gastronomie in die Höhe treiben. Und nicht zuletzt «sparen» die einiges wieder ein, da man dank Europa in den Werkstätten der französischen Randgemeinden längst auch den guten Stern oder die bayerische Raute kostengünstiger ans Diagnosegerät zu hängen in der Lage ist.

Auf Aldi, den es ja nicht erst seit den Neunzigern gibt, der befreundete Aachener Coautor frequentierte ihn bereits Ende der Siebziger heftig, auf Lidl et cetera, auf diese ganze Finanzeuroglobalisiererei habe ich ja noch vor einzugehen. Aber einen Punkt will ich vorab herausgreifen: Die Supermarktidee ist zumindest für den europäischen Raum eine französische. Frankreich war es nämlich, das sie Ende der Fünfziger aus den USA importierte (da tut sich eine gewaltige Assozationskette auf zu Monsieur le Président) und für die Ansiedlung des Konsumrauschs auf der grünen Wiese sorgte; in Deutschland griff das erst richtig nach dem Abbruch der Mauer. Auch an der Tanke war vermutlich französisches Schmieröl elffach ins Minol geflossen. Doch Helmut und François waren schließlich dicke Freunde, die sich sogar an den Händchen hielten. vielleicht nicht unbedingt deshalb, sondern eher um die Erbfeindschaft endlich zu Grabe zu tragen.

Also ich, der ich diese Monstrositäten aus Frankreich seit langem kannte, hatte spätestens ab Mitte der Neunziger schauerliche Erlebnisse des Wiedererkennens angesichts dieser rasend schnell aus dem Boden schießenden Gift- oder auch Atompilze in den ehemaligen Ostgebieten, die sich lediglich im Warenangebot vom tiefen Westen unterschieden. Gut erinnere ich mich an die Beteiligung der Musketiere bei Eurospar, die via Intermarché damals in den deutschen Lebensmittelhandel einzudringen versuchten. Das ging rasch gewaltig den Wirtschaftskreislauf runter, da die Deutschen mit diesem Franzosenkram einfach nichts anzufangen wußten. Meine Erinnerung ist deshalb besonders heftig, da ich, als ich in den Nordosten, also ins Zonenrandgebiet geriet, so glücklich war, beispielsweise im fast in der DDR gelegenen Mölln und gar in der osthamburgischen Schlafstadt Ahrensburg auf Intermarché gestoßen zu sein, in denen ich meinte, wenigstens meine Grundbedürfnisse stillen zu können. Aber ach, allzuschnell war alles, was annähernd französisch aussah oder gar roch, wieder aus den Regalen verschwunden, weil der Bauer nunmal nicht frißt, was er nicht kennt, und schon gar kein so ekelhaftes Zeugs wie Schnecken oder davonlaufenden Käse ohne Haltbarkeitsdatum. Aber trotz Einzugs des Amselfelders ins Warenangebot wollte dieser Markt nicht funktionieren, worauf Frankreich sich wieder in seine Hoheitsgebiete zurückzog, die da lauten: (be)herrschen, nicht teilen.

Das andere, zum Beispiel meine Wirtschaftsausflüge in seltsame EUropäische Fusionierungsversuche, nach dem Fall der Schlagbäume als Joint Venture höchst beliebt, das erzähle ich ein andermal.
 
Mi, 18.05.2011 |  link | (4905) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Eurogrenzwertig

Nicht nur der jede freie Billigflugminute an Ballermanns Sangria-Saugtöpfen verbringende Urlaubsbürger, der nie auf die Idee käme, auch nur einen grenzüberschreitenden Schritt in dieses gräßlich langweilige Dänemark zu tun, regt sich darüber auf. Diese Blättchen vierbuchstabiger grenzwertiger Geisteshaltung, darunter die den zurückgebliebenen Rest der SPD vollsabbernde MoPo, tröten einschaltquotentechnisch mit, um wirklich alle erdenklichen Europa-Aggressionen zu schüren, und seien sie noch so argumentationsfrei. Ebenso nicht wenige volksnahe Politiker stoßen aus ebendiesen plausiblen Gründen ins selbe Horn: Die Reisefreiheit muß gewahrt bleiben! So ist das mit der Freiheit. Man muß es den Gehirnen der Leutchen nur reinstopfen wie einer Gans aus dem schönen Périgord via Trichter direkt in die Leber, dann werden sie's schon glauben. Sie glauben ja auch, daß im Gegensatz zur Foie Gras-Produktion und deren «grausamer Zwangsernährung» das tägliche Kilo Rind- oder Schweinefleisch für ein bis drei Euro neunundneunzig nichts mit Menschen- oder Tierquälerei zu tun hat. Ich erinnere daran: Nichtwissen wird auch Glauben genannt.

Das zwangsernährungsfreundliche Frankreich war wahrscheinlich das erste Land, das die Schlagbäume zu Deutschland angehoben hat. Verständlich, es hat schließlich bereits die Montanunion massiv betrieben. Es sollte jedoch nicht lange dauern, bis ich das erste Mal von freundlichen Douaniers angehalten und kontrolliert worden bin — im Landesinneren. Dänemark gab die begrenzte Freiheit um einiges später auf. Dennoch sollte es nicht lange dauern, bis ein ebenfalls immer freundlcher, aber bestimmter Zollbeamter weit drinnen im Binnenland bis hin zum Inhalt der Zahnpastatube in einem einstündigen Procedere aber auch wirklich alles einer allergenauesten Untersuchung unterzog und zwar, im Gegensatz zu seinen französischen Kollegen, die offensichtlich lediglich potentiellen psychogenen Räuschlein auf der Spur waren, einschließlich der Papiere. «Es wird keine Pass- oder Personenkontrollen geben», meinte der dänische Minister für Integration. «Wir haben viele Probleme mit grenzüberschreitender Kriminalität und wir denken, dass wir durch strengere Zollkontrollen innerhalb von Schengen in der Lage sein werden, einige dieser Probleme zu lösen.» Der Nordschleswiger, die deutschsprachige Tageszeitung in Dänemark, bestätigt indessen meine Erfahrung: «Der Grenzraum wird bereits heute durch eine Schleierfahndung von Polizei- und Zollbehörden engmaschig und weiträumig überwacht. Deshalb ist es absolut überflüssig, dass die dänische Regierung künftig wieder feste Zollkontrollen an den Grenzübergängen einrichten will. Der einzige Grund für diese Überwachung ist, dass die Regierung die Stimmen der DF [Dansk Folkeparti] braucht, um ihr Haushaltskonsolidierungspaket zu beschließen.»

Sie sind für mich und andere ohne jeden Zweifel schreckenerregend, diese ganzen national- und glaubensgesinnten, überwiegend wissensfreien Politiker der sogenannten Splitterparteien. Doch wo war die große Aufregung, als Signore Presidente Berlusconi einfach diesen ganzen Untermenschen aus Afrika einen Freifahrtschein ausstellte, um sie an den Kollegen Monsieur le Président Sarkozy loszuwerden, worauf der prompt die Schlagbäume wieder runterlassen wollte? Sind die Forza Italia beziehungsweise die Popolo della Libertà, die Union pour un movement populaire Splitterparteien? Und es gibt noch ein paar andere politische Formationen innerhalb der Europäischen Union, die es, wie etwa die regierende Ungarns, mit der (geistigen) Freiheit nicht so eng sehen. Nicht zuletzt erwähnenswert erscheint mir anläßlich der nordischen Geschehnisse auch die Argumenation von Martin Marheinke:
«Trotz einiger Besonderheiten — zu denen auch die wichtige Rolle, die Fragen der nationalen kulturellen Identität in Dänemark im Vergleich zu Deutschland einnehmen, gehört — sind ‹dänische Verhältnisse› auch in anderen Staaten Europas gar nicht so unwahrscheinlich. Man stelle sich nur einmal vor, im deutschen Bundestag säße eine rechtspopulistische Partei, vielleicht vom Schlage der glücklicherweise verblichenen ‹Schill-Partei›, und die Regierung Merkel wäre darauf angewiesen, sich von den ‹Rechten› tolerieren zu lassen.
Ich gehe jede Wette ein, dass wir kurz über lang Ausländergesetze vom ‹dänischen Zuschnitt›, wenn nicht noch schärfer, hätten — und diese Gesetze bei einer soliden Mehrheit der Deutschen populär sein könnten.
Dass das bei österreichischen Regierungen mit FPÖ-Beteiligung nicht in diesem Ausmaß geschah, liegt daran, dass eine Partei, die eine Minderheitsregierung toleriert, ein größeres Erpressungspotenzial hat als eine Koalitionspartei. Sie wird zwar zwar quantitativ weniger von ihren politischen Zielen durchbringen als eine koalierende Partei, aber die wenigen Gesetze, die eine erpresserisch eingestellte Mehrheitsbeschafferpartei durchbringt, können dicke Kröten sein, die die Regierungspartei nur äußerst ungern schluckt.»
Meines Erachtens lenkt dieser Schaum vorm Politikermaul ohnehin mehr oder minder wissentlich vom eigentlichen Problem ab. Schließlich ist die Europäische Union nicht gegründet worden, auf daß die Teilergebnisse nordrheinwestfälischer oder südschleswiger Dosensuppenproduktion in der Familienkutsche samt Kinderchen grenzfreiüberschreitend auf jütländische Campingplätze verlagert werden kann, weil die immer so teuer sind, diese dänischen Konserven (weshalb es durchaus von Vorteil ist, in Lübecks Einkaufszentren an Sonnabenden etwas Dänisch sprechen zu können). Anschaulicher wird die Gründung der Wirtschaftsgemeinschaft schon eher anhand dieses Bildes: Eine euroglobal tätige, für sich als Hoflieferant anno Neunzehnhundert des Königshauses werbende dänische Fleischfabrik karrt ihr pharmaziegemästetes Viehzeugs in Gänze nach Branden-, oder Mecklenburg oder Holstein, läßt es im dortigen Billiglohnland von slawisch degenerierten Leiharbeitern nach deren jeweiligen heimatlichen Sozialgesetzgebungsabgaben zerlegen und von preiswert chauffierenden Scheswigern in Lastern wieder zurückbringen, verpackt es sozusagen regional, klebt zumindest das Gütesiegel Frembragt i Danmark drauf und verteilt es anschließend in gesamteuropäische Supermärkte, um es unter königlichen Preisen zu verkaufen.

Nun aber stehen diese ganzen Kriminellen, die der assimilierte einstige Ungar Sarkozy nicht via Lampedusa in sein ganz persönliches Frankreich (Messieurs, l'État, c'est Moi *) reingelassen hat, weil er davon genug hat noch aus seinen früheren afrikanischen Kolonien, an der dänischen Grenze. Ach, die europäische Uridee Reisefreiheit ist in Gefahr. Wenn da möglicherweise nicht doch andere Hintergründe durchschleyern.

Aber über solche eventuellen Verschwörungstheorien lasse ich mich vielleicht doch besser morgen oder übermorgen aus. Der Altersblutdruck benötigt ein Päuschen. Denn momentan sehe ich mich emotional leicht überfordert, weil mir der Kamm anschwillt, wenn ich nur daran denke. Es geht nämlich mal wieder um Fragen des Glaubens — an den des Geldes.


* Der berühmte Ausspruch wird hartnäckig Louis XIV zugeschrieben. Der Sonnenkönig hat das zwar ebensowenig gesagt wie die Österreicherin Marie Antoinette Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie eben Kuchen essen (mit letzterem dürfte ohnehin Brioche gemeint gewesen sein), aber er macht sich durchaus naheliegend, denkt man an den aktuellen Hausherrn des Élysée und auch Versailles, wo er sich hineingeboren scheint.
 
So, 15.05.2011 |  link | (5160) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 

Grün ist die Hoffnung

So spricht das Volk, jedenfalls ein Teil davon; der gleichwohl ständig anwächst, seit die Bürgerlichkeit so wahr ihr Gott helfe brav mitregiert. Wer nicht auf diese Weise mithofft, ist demnach ein nicht ganz ungefährlicher Andersdenkender, das meint jedenfalls das allwissende Medium Jakob Augstein, er ist nämlich «mit dem rechten Virus infiziert».

Ich habe demnach keine Hoffnung zu erwarten. Doch ich war ohnehin dem Willen meiner Mutter unterworfen und bereits früh auf Blau fixiert. Zwar hatte ich mich von ihr und dem gesamten Blut scheiden lassen, aber der Hang zu dieser Farbe brach wieder durch. Deshalb wohl suchte ich bei einer Blauen Reiterin im Voralpenland Zuflucht und Liebe.

Graphik: Ernst und Lorli Jünger

Doch die verschmähte mich und zog sich mit einem Russen in ein weiß-blaues Häuslein zurück. Dem war die Heimeligkeit dann vermutlich zu fad geworden, wie man in dieser lieblichen Vorgebirgsgegend spricht, und ist zu einer gewissen Geistigkeit zurückgekehrt. Ich tat's ihm gleich, da hatte sich die Vererbungslehre im Sinn von ex oriente lux wohl letztlich durchgesetzt. Dieser Herr antizipierte seinerzeit die heutige politische Farbenlehre:
«[...] Grün ist die ruhigste Farbe, die es gibt: sie bewegt sich nach nirgend hin und hat keinen Beiklang der Freude, Trauer, Leidenschaft, sie verlangt nichts, ruft nirgends hin. [...] so wirkt das Grüne nur langweilend [...], wobei diese Eigenschaft von einer Art Fettheit, Selbstzufriedenheit parfümiert wird. Deswegen ist das [...] Grün im Farbenreich das, was im Menschenreich die sogenannte Bourgeoisie ist; es ist ein unbewegliches, mit sich zufriedenes, nach allen Richtungen beschränktes Element. Dies Grün ist wie eine dicke, sehr gesunde, unbeweglich liegende Kuh, die nur zum Widerkäuen fähig mit blöden, stumpfen Augen die Welt betrachtet.»

Komme mir niemand von wegen fehlender Nachweis. Geschrieben hat das Wassily Kandinsky, in: Über das Geistige in der Kunst, VI. Formen- und Farbensprache, 10. Auflage, Bern 1973, S. 94f.
 
Fr, 13.05.2011 |  link | (4602) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 







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