An der Nordseeküste

am plattdeutschen Strand — allein die Vorstellung von diesen Pappnasen, wie mein Husumer Fischhändlerfreund selig weiland seine bereits in den Achtzigern nur in Billigheimien glücklichen deutschen Reisenden nannte, gereicht mir zu nicht eben allzu fröhlichen Erinnerungen. Deshalb liegt es auch eine Weile zurück, daß ich mich das letzte Mal auf das Abenteuer einer Schiffreise gen Helgoland aufmachte. Denn ich gehe eher nicht davon aus, daß sich an der Mentalität dieses Menschenschlags etwas geändert haben dürfte. Deshalb habe ich zuletzt auch lieber einen der schnuckeligen kleinen Flieger genommen, von dem aus man die Schwarmintelligenz der Fischlein so wunderschön beobachten kann. Gegen die ausschwärmende Schlichtheit der Tagesbesucher ist man dadurch allerdings nicht gefeit. Erst wenn die alle ihre plastiktütigen, vermeintlich preisgünstigen Errungenschaften an Bord gehievt und wieder an der Bierbar ihres einstmaligen Butterschiffes auf hoher Nordsee verschwunden sind, kehrt Frieden ein in dieses Konsumeiland. Allerdings muß man die Geisteshaltung der vom Tinnef lebenden Insulaner schon mögen, um öfter als einmal bei ihnen zu nächtigen. Aus dieser Perspektive betrachtet verwundern mich die Kommentare zu dem taz-Artikel nicht sonderlich. Aber der hat selbst einige Schwächen, weil die Autorin jammert, anstatt den ohnehin schweren Geist ein wenig lächelnd zu überfliegen – Petra Schellen, die sich ohnehin allzu gerne in Diskursen aufhält («Eine Reise in den Diskurs»; «soziokultureller Diskurs»), statt mal einen Ausflug zu machen.

Aber es ist schließlich auch ein ernstes Thema, der Alkohol, wie das aus der empörten Anklage herauszulesen ist. Dabei dürfte es sich keineswegs um ein spezifisches Problem Helgolands handeln. Da oben wird bis tief ins Festland hinein aus Tassen getrunken: Köm mit einem Schuß Tee. Und zwar seit Beginn der Evolution in Skandinavien. Denn dorthin gehört das Land irgendwie mit seinen kurzen Sommern und ewig langen grauen Wintertagen, und zwar vom westlichen Friesland, das deutsch als Osten bezeichnet wird, weshalb man vermutlich, wie mir dort von Laienforschern versichert wurde, sich sprachlich am besten mit denen von der Ostsee verständigen könne, und in der Mitte eben das nördliche, wo weit draußen im blanken Hans die Schnapsinsel liegt. Zu solchen Landschaften muß man schon Zugang haben, um sich ein Bild davon machen zu können.

Da bildet sich aus Einzelteilen eine Geschichtslandschaft heran in meiner Synapsfabrik. Vielleicht kriege ich sie ja heute noch zusammenkreativiert (mir wird dieser Begriff immer unschreibbarer, seit alle Welt, allem voran Berlin, von diesem Virus und Bakterium gleichermaßen verseucht ist).
 
Fr, 03.06.2011 |  link | (2884) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Als ob Nordseewellen

trekken1 annen ostdeutschen Strand, so sang das huggelige2 Quiddje-Quintett kurz vorm Auslaufen aller erdenklichen, von Zöllen nicht weiter bedachten Schnapsvorräte Ik heff mol'n Hamborger Veermaster seen.3 Das taten die vier rauchstimmigen Sängerknaben von der Wasserkante für das aus reiferen Schwaben und Thüringern bestehende Publikum, das auch brav bereits beim Entern des fröhlichen Aquavitdampfers seegängig mitschunkelte und -klatschte. Mein Gott, sind die blöd, greinte der kürzlich im Mittelmeer wegen eines sogenannten Schusses oder auch Dachschadens von der deutschen OAE-Marine über Bord geschickte junge Kieler (er hatte, für ihn doch recht weit zurückliegende Geschichte und aktuellere Marktgefechte ein wenig durcheinanderbringend, sämtliche Waffen seiner Heimatfregatte entkanonisiert und alle Geschosse durch langstielige Rosen aus Kenia und Tansania ersetzt und gehofft, dafür so etwas wie den Fair-Trade-Preis zu erhalten). Meine Güte, entgegnete ihm sein Betreuer, lass' sie doch, sie lieben eben ihre aus Rundfunk und Fernsehen bekannten volksmusikalischen Psälmchen. Außerdem sei das norddeutsche Platt als solches unlängst von den Wählern des hitparadentechnisch immer gefragter werdenden Häßlichen Rundfunks zur beliebtesten deutschen Sprache erkoren worden, auch wenn sie damit das synchronisierte aus dem hamburgischen Ohnsorg-Theater meinen, vergleichbar mit dem zweitplazierten Oberbayrisch aus dem Münchner Komödienstadl. Das meine er doch nicht, entgegnete der nun frühverrentete Seemann auf Ausgang bei psychiatrischer Begleitung. Die dümpeln in einer Badewanne voller Suff und glauben, sie befänden sich auf einer längst von der Einer-Wird-Gewinnen-Eventliste gestrichenen deutschen Butterfahrt auf der Elbe, aber sie merken gar nicht, daß sie als Alibi herhalten müssen für die neue dänische Schlagbaumpolitik, die nur deshalb diesen ganzen Unblonden aus Nordschwarzafrika den Eintritt verwehren will, weil die nicht genug oder überhaupt nicht saufen.


Den Hafen von Puttgarden laufen zwar einige seesehnsuchtssüchtige Deutsche vorwiegend aus dem mittel- bis hochgebirgigen Süden ihres Landes in ihren vierrädrigen, hochpreisigen oder -klassigen Verkehrsbehinderungen an, er wird jedoch überwiegend von EU-Skandinavieren im allgemeinen, im besonderen aber von Dänen frequentiert, die alltäglich von der Angst getrieben werden, ihnen könnten zuhause die Alkoholvorräte ausgehen. Und da sie schon losmüssen, um ordentlich einzukaufen, nehmen sie die Gelegenheit wahr, sowohl auf der Hin- als auch der Rückfahrt an Bord und mit ihren ebenfalls absolut reinrassigen Verwandten aus dem Süden lautstark auf die Verwandtschaft anzustoßen.
Bis 1990 gab es noch eine Autofähre zwischen Travemünde und Gedser. In letzterem hatte ich bis zu den Anfangssiebzigern des öfteren ziemliches Amusement, war es doch zu lustig, dabei zuzuschauen, wie die dänische Polizei manch einen der vom Dampfer Runterkugelnden in Empfang nahm, um ihn erstmal zur Ausnüchterung in eine Zelle zu verfrachten. Das war für die Uniformierten nicht immer die leichteste Tätigkeit, denn die eher zarteren, aber irgendwie ebenfalls von Wikingerblut durchströmten Dänen können ganz schön schwergewichtig und kämpferisch werden, vor allem, wenn sie voller Spirit sind.


Hinter dem Ramkvillaexpressbuss aus Sverige, den rüstige Rentnerschweden aus Småland nicht nur für die bald anstehenden Fröhlichkeiten der Sommersonnenwende zollgünstig beladen, befindet sich nicht etwa eine dickbauchige Königin Maria, die eigentlich zum xten Mal den Hamburger Hafen anlaufen wollte, dessen Captain sich aber, aus welchen Gründen auch immer, vernavigiert hat. Es handelt sich um das festgemauerte oder besser -betonierte Portcenter, das bis unters Dach mit für skandinavische Verhältnisse preisgünstigen Alkoholika (ab-)gefüllt ist. Es gibt sie also doch noch, die Butterfahrten, für die der Mensch einige hundert Kilometer unterwegs ist, um ein paar Örchen zu sparen.

1–3 Plattdeutsches Wörterbuch
 
Mi, 01.06.2011 |  link | (2046) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Die Welt, die Bildung und die Sexualität

Zeitungen gibt's, gegen die sträuben sich sogar seit einer Woche tote Fische, sich in sie einwickeln zu lassen, jedenfalls solche, die vom Kopf her zu stinken beginnen. Nein, damit meine ich nicht dieses vierbuchstabige, der Aus- und Auflage nach ein ganzes Volk bildendes Blatt, das aus allen Richtungen gleichseitig üblen Gestank verströmt. Sehr (un-)wohl meine ich aber eines aus demselben Haus, das von meinem jugendlich elanvollen Umfeld ebenfalls mehrfach erfolglos blockiert wurde, nicht zuletzt, da es letztlich ebenso Ratten und Schmeißfliegen benannte, nur eben in einer anderen, scheinbar umgekehrten Diktion, in einer ziemlich philosemitischen Direktion, weil sein Cäsar ein biblisches Territorium in sein großes, vermutlich spirituell postkoloniales Herz geschlossen hatte. Dort wurden diese damals noch nicht einmal ungewaschenen Langhaarigen, die später dann allerdings allesamt ein wenig diesem Religionsstifter aus Hollywood gleichen sollten, sprachlich etwas entschärft eben als Ungeziefer oder so bezeichnet. Das Blatt hat sich bis heute seine ewiggestrige Klientel erhalten. Zwar begehrte es, es geschah etwa Mitte der Neunziger, kurzzeitig gegen die eigene Engstirnigkeit auf, aber die Pläne der Horizonterweiterung verschwanden rasch wieder in der Denkschublade der Ärmelschonerei.

Die metropolisch-provinzielle Beschränktheit dieser Tageszeitung wurde mir jüngst von Chat Atkins vorgeführt, der darauf hinwies, mit welcher Zahlenjongliererei aus einem Flohzirkus eine große politische Manege aus dem Redaktionshut gezaubert werden kann. Und doch muß aus dem Aufbegehren gegen diese Einfalt eine gewisse Lust am Restrisiko bis hin zum intellektuellen Höhepunkt geblieben sein. Aus dem Altbestand dieser Risikobereitschaft ist sogar das eine oder andere unterhaltende Element klebengeblieben, hat es gar, wenn auch personenbezogen, auf meine Blog'n'Roll-Liste geschafft. Und hin und wieder scheint es den Wahrzeichenberlinern zu gelingen, tatsächlich kluge Köpfe zu Wort kommen zu lassen.

Die Frau der Stunden brachte mich heute früh darauf. Marko Martin hat einigen hochgebildeten medialen Verlautbarern sozusagen die Leviten gelesen, indem er ihnen ihr Klappentext-, Bachelor- oder Kulturwissenschaftswissen um den Kopf geschrieben hat. Ich stimme mit Horen überein: «brillant». Aber zugleich frage ich mich, wie ein ganzes Volksschriftstellertum dazu kommen kann, solche Vereinfachungen als Vergleiche heranzuziehen. Ich werde den Verdacht nicht los, der Fisch könnte vom Konsum einer Aufklärung her stinken, die aus dem schmidtgenannten Unterschichtenfernsehen genährt wird. Mit letzterem ist beileibe nicht nur das private gemeint, denn längst quillen diese letztendlich nichtsnutzigen, weil hintergrundfreien Wissensbotschaften aus allen Nähten des öffentlich-rechtlichen hervor, die Kultur allein agrarindustrieller Bestimmung zuzuweisen scheinen.

Und da ich gerade bei Boris Becker, Giacomo Casanova, Don Giovanni, Jörg Kachelmann, Alice Schwarzer und anderen Pressevertretern der nicht irrenden Millionen Fliegen bin, die männliche Macht- und Gewaltausübung im Sinne DSK, vielleicht auch ein bißchen die Sexsucht et cetera nicht zu vergessen, dann will ich das auch noch loswerden, weil es mich seit Tagen zwickt und zwackt — die Achtundsechziger! Ja, genau, bei denen wir gerade waren, da oben, in der springerlebendigen Welt (nicht zu vergessen deren spiegelndem Widerpart), die ihnen gerne die Schuld an allem gibt, was niedergerissen, eingeebnet, ja gesprengt wurde von diesen abendländischen gottlosen Fundamentalisten. Ihnen wird ja ebenfalls gerne auch die sogenannte sexuelle Revolution zugeschrieben, also das Aufheben sämtlicher Schlagbäume des Anstands. Zwar ging das um einiges früher los, nämlich mit den Hippies, wenn auch gerade denen die Politik sowas von am nackten Hintern vorbeiging (im Gegensatz zu den allzeit reinen Nudisten).

Also, das da noch: Da stimmt jemand «nicht ein in das Hohelied der ach-so-freien Sexualität». Ausgerechnet eine Frau, die die Religiosität schwinden sieht, die glaubt, daß Moral aus dem Glauben kommt («[...] dass diejenigen Kollegen, denen christliche Werte völlig fremd sind, auch jegliche moralischen Bedenken fremd sind»), an den sie glaubt, erwähnt das Hohelied. Zugestanden, das kommt jetzt ein wenig der Sprachspalterei gleich. Aber sie steht schließlich bei weitem nicht alleine da, es gibt durchaus noch ein paar weitere in diesem Spiegelsaal göttlichen Verlustes. Dem Teufel ist das vermutlich ohnehin alles zuzuschreiben oder vielleicht auch diesen ganzen Langhansens. Dennoch schwingt in mir der Verdacht, da wüßten ein paar Leutchen nicht oder wollten zumindest nicht wahrhaben, daß es lange vor der Revolution den Götzen Sexus gab, der die Menschheit bereits vor der von '68 beschäftigt hat — 1868, 1768, 1568 und so weiter, also einiges vor der Erfindung des Internets, mit dessen Hilfe sich das alles so schamlos und ein bißchen rascher verbreitet als zu Zeiten, in denen die biblia pauperum die einzige Informationsquelle war.
 
Mo, 30.05.2011 |  link | (3278) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten



 







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