Blaßbläulicher Frieden. Im Bahnhof Zoo befand sich ein Tabakwarenladen. Dort wollte er sich eindecken für seine im vergangenen Urlaub am Atlantik gemachte Entdeckung. Zu einem ordentlichen Schluck Sandwein, den er zu Zeiten sportlicher Abwehrtätigkeit bei den Preußen auch nicht kannte, gehörte die entsprechende Würze. Den gab es zwar nicht unter dem Himmel von Molle und Korn, aber immerhin diesen Aspekt der Erinnerung. Sie befand sich in blauer Packung, und die, das wußte er, lag dort parat. In den Automaten gab es das Äquivalent lediglich in der roten eines deutschen Herstellers. Als er seine Bestellung an den Verkäufer weitergeben wollte, sah er in in einer Vitrine eine blaßbläuliche Schachtel mit den enorm starken Zigaretten, von denen er zwei oder drei auf Saint-Martin-de-Ré geraucht hatte, wohin sie gereist waren, weil er der ständigen Aufenthalte an dänischen Stränden überdrüssig geworden war wie überhaupt Skandinavien, das er für Heimat hielt, weil es ein Großteil seines Lebens Anlaufstation war. Ein Einheimischer hatte sie ihm angeboten, der bewunderende Blicke auf seinen alten Volvo warf und mit dem er deshalb ins Gespräch kam. Papier maïs, daran wollte er sich geschmacklich und in seiner Lunge erinnern. Auch an diese Art Heimat könnte er sich gewöhnen. Rotwein und Zigaretten schwer wie Asphalt. Nur nichts Gesundes mehr und Ordentliches wie alles hinter ihm. Er würde sich allerdings zunächst mit Aschinger begnügen müssen. Dort saß so ziemlich alles herum, was in der Haupstadt, die keine mehr war, sondern eine von den Bonner US-Mächten notversorgte Insel Wehrflüchtiger und Restschlesier, als Gammler, Penner und sonstige Verwahrloste bezeichnet wurde, und verschlang korbweise winzige Brötchen, die es kostenlos zur Erbsensuppe gab. Dort paßte er als ebenso haltlos Gewordener gut hin. Einer dieser Verwahrlosten überwiegend seines Alters sah die Packung mit den gelblichen, leicht ins rötliche gehenden Papier maïs. Mit aufgerissenen Augen erstarrte er sie und schnorrte ihn sogleich an und erzählte dabei, man habe ihm im Knast nichts zu rauchen gegeben und davon, daß er diese wunderbaren Röllchen erst kürzlich in Frankreich kennen- und schätzengelernt habe. Das sei dann doch ein anderer Stoff als der von diesen ganzen HaBe-Männchen hier in diesem armseligen Laubenpieperkaff, an dessen Rändern die Welt am Kommunismus zerbreche. Er wollte ihn fragen, ob er sich so gut auskenne in diesem politischen System und sinnierte darüber, daß es zumindest ansatzweise woanders doch auch funktioniere, beispielsweise bei den Kibbuzim, denen er, so lange war das noch gar nicht her, beinahe einmal angehört hätte, wäre nicht ein Krieg dazwischengekommen, dem er vorab von der Fahne gegangen war, worüber seine Frau dann doch recht froh war, ihn nicht auf seiner Suche nach Heimat begleiten zu müssen. Doch dann unterließ er es, weil es vermutlich zu einer Auseinandersetzung gekommen wäre, die hatte er gerade hinter und auch vor sich hatte, denn er wollte zurückfahren zu seiner Frau, nicht, um mit ihr weiterhin über den Sinn des Lebens in geordneter Ehe und mit ordentlichen Kindern und einer sich auf diese Weise abzeichnenden Zukunft zu diskutieren, sondern eher, um ihr zu verdeutlichen, weshalb er sie verlassen und an den Atlantik ziehen und nichts anderes mehr tun würde als Wein zu trinken aus dem Sand dieser anderen Insel als der hiesigen mit dem Strand unter Pflaster und sich mit vier Packungen Papier maïs täglich eine Startbahn in die Freiheit zu asphaltieren. Zwar gesättigt, aber auch ein wenig gereizt von den ständigen Versuchen weiterer, möglicherweise kommunistisch motivierter Maßnahmen, ihn ans Gemeinwohl zu erinnern, fast eine Packung hatten sie ihm in der kurzen Zeit weggeschnorrt, nahm er sich noch eines dieser kostenlosen, etwa fünfmarkstückgroßen Brötchen als Wegzehrung und machte sich auf zu seinem Auto, das er in der Sackstraße am Hinterausgang des Bahnhofs abgestellt hatte. Bereits auf der Hardenbergstraße kehrte er sie noch einmal und fuhr wieder in die andere Richtung, zur Gedächtniskirche hin. Ihm war eingefallen, daß der Schalter der Fluggesellschaften der Alliierten auch sonntags geöffnet hatte. Dort wollte er sich erkundigen, ob es eine Möglichkeit des Direktflugs an den Atlantik gebe, vielleicht nach Bordeaux oder gar nach La Rochelle, von wo aus man mit der Fähre zur Île de Ré übersetzen konnte. Das Auto würde er seiner dann gewesenen Gattin überlassen, wie überhaupt all das Mobiliar und die vielen Handtücher und Besteckkästen, die man ihnen beiden zur Hochzeit geschenkt hatte. Er würde es nicht mehr benötigen in der Freiheit. Der Zufall wollte es, nun, es war Sonntag, daß er gegenüber dem Euro-Center einen Parkplatz fand. Es gab keine Direktverbindung, Air France brächte ihn in jedem Fall direkt nach Paris, und von dort aus habe er die Möglichkeit, mit einer der vielen regionalen französischen Fluglinien nach Bordeaux, aber auch zu dem kleinen Flughafen von La Rochelle zu gelangen. Er begann, darüber nachzudenken, seiner Noch-Ehefrau das Auto doch nicht zu überlassen, fuhr sie doch ohnehin nicht sonderlich gerne, gleichwohl meist dann, wenn er mit darin saß. Zunächst über kleinere Straßen und dann über die Joachimsthaler Straße fuhr er wieder zurück, hinein in die Hardenbergstraße, nahm im Café am Steinplatz, wo er werktags, während seine Frau ihrer Tätigkeit bei einem US-amerikanischen Filmverleih in Dahlem nachging, was er ihr regelmäßig vorhielt, des öfteren mit Kommilitonen und anderen streitbaren Geistern zusammentraf, wenn er selbst auch nicht an der technischen und auch nicht an der ebenfalls in der Nähe befindlichen Hochschule der Künste, sondern an der anderen, sich frei nennenden Universität eingeschrieben war, noch einen Pernod, um den Gedanken an seine Flucht in den Westen in sich wachzuhalten. Am Ernst-Reuter-Platz überkam ihn erneut der Gedanke an die Freiheit. Wie fremdgesteuert schlug er das Lenkrad ein, wie vor etwa zwei Stunden am Spandauer Bahnhof nach links, hier nun nach rechts, in Richtung Osten, er fuhr hinein in die Straße des 17. Juni. Dieser Pariser Straßen ähnelnde Boulevard ließ ihn dann doch wieder an die Möglichkeit eines Fluges denken, bei dem er in jedem Fall in Paris Station machen müßte, dort, von wo aus aus die Revolution die Menschenrechte in die Welt hinaustrug. Er kam ins Grübeln über die Idee der Gleichheit, der Brüderlichkeit, ja, der Freiheit. So rollte er dahin, querte Einsteins Ufer, den Friedensengel oder auch die Siegessäule oder auch den großen Stern preußischer oder deutscher Kriege, allen voran die Schlacht von Sedan, mit der er sich quasi mitten in Frankreich befand. Kurz nach dem Kreisel mußte er anhalten. Ein Stau, am Sonntag nachmittag? Das kam ihm ungewöhnlich, gar seltsam vor. Es dauerte lange. Nach einer Weile wollte er, wie andere Autofahrer auch, den Mittelstreifen überqueren und in westlicher Richtung zurückfahren. Doch auch das war mit einem Mal nicht mehr möglich, da sich innerhalb kürzester Zeit auch dort die Autos stauten. Lange stand er, irgendwann stellte er den Motor ab, glücklicherweise war es trotz fortschreitender Stunde nicht kühl oder gar kalt, denn er hatte schließlich nicht einmal eine Jacke übergezogen und an den Füßen lediglich seine Espandrilles von der sonnigen Weininsel. Nach bestimmt noch einmal zwei Stunden sah er die Ursache des unfreiwilligen Halts. Gemächlichen Schrittes näherten sich Uniformierte, die bei näherem Hinsehen als Polizisten zu erkennen waren. Seine schlichten Gedanken an Freiheit wurden von der der Rote-Armee-Fraktion unterbrochen, nach der die Hüter von Freiheit und Ordnung fahndeten. Als sie bei ihm angekommen waren, verlangten sie höflich, aber bestimmt nach seinen Ausweispapieren, die des Fahrzeugs schien sie nicht zu interessieren. Es wäre aber auch egal gewesen, denn er hatte weder das eine noch das andere dabei. Er wollte schließlich lediglich Zigaretten holen. Dann müsse man ihn doch dringlichst bitten, zur gesicherten Feststellung seiner Personalien mitzukommen zum Mannschaftsbus, der fünfhundert Meter weiter in Richtung Brandenburger Tor stehe. Dort sehe man weiter. Das Auto sei kein Hinderungsgrund, hier komme ohnehin niemand weg, bis die Aufklärung absolviert sei. Jetzt habe ich es doch nicht geschafft, in zwei Fortsetzungen an den irrlichternden Grün heranzuführen. Ständig führt mich etwas vom Weg ab. Wahrscheinlich ist Frau Braggelmann schuld, weil sie permanent etwas über Berlin von mir wissen wollte, da sie nämlich morgen nach Potsdam fährt. Ich muß das Wochenend-Supplement eingestehen. Ist aber auch so lang genug. Inselleben • Erzählung • Der erste Teil
Irrlichternder Grün Sie hatten wieder gestritten. Sie wollte ein Kind. Er wollte keines, er habe genug, nicht nur Kinder. — Aber ausgerechnet mit ihr, schimpfte sie in das in ihr aufkommende Schluchzen hinein, wolle er keines. Warum habe er sie eigentlich geheiratet?! Wenn er keine Kinder haben wolle?! — Er habe doch welche. Und geheiratet habe er sie unter Zwang. Weil die Gesellschaft und ihre biedermeierlichen Rudimente es so wollten. Seine Eltern seien auch nicht verheiratet gewesen, seien noch aus dem anfänglichen zwanzigsten, zur besseren Hälfte sogar aus dem neunzehnten Jahrhundert und hätten dem trotz ihrer Erziehung aus dem achtzehnten trotzdem getrotzt. Oder vielleicht gerade deshalb. Und erfolgreich, wie sie vor sich sehe. — Aber Kinder gehörten nunmal zum Leben, schrie sie. Sie könnten ihre Ehe retten. Er schlüpfte in die der Jahreszeit gemäßen leichten Schuhe, hinten hinuntergetretene Espandrilles, die er sich von jedem jeden Urlaub neu mitbrachte, zog sich nicht einmal eine Jacke über, da er vorhatte, gleich wieder zurück zu sein, und verließ die Wohnung im Jugendstilhaus weitab am Rand der Stadt, wohin sie in in der Phase ihrer Verliebtheit gezogen waren, um unter sich zu bleiben in ihrer kleinen Liebeslaube zwischen diesen ganzen Kleingärtnern des gehobenen Mittelstandes, die nichts anderes kannten als ihren gepflegten Lebensstil. Er hatte kürzlich, nachdem er mit dem Sport aufgehört hatte, weil ein Bindegewebsschaden aus geringen langwierige Verletzungen werden ließ, zu rauchen begonnen. Er hatte keine Zigaretten mehr. Er würde sich welche holen müssen. Er sagte ihr das, es würde ihr Gelegenheit geben, wieder ein wenig herunterzukommen von ihrem Verzweiflungsturm, auf den sie sich geflüchtet hatte, seit ihre Kolleginnen im Büro und jetzt auch noch ihre einzige Freundin werfen wie die Säue vom Bauerhof da draußen im Wald, im Niemandsland kurz vor dem eiserenen Vorhang, wo die Evangelen ihre Zöglinge zögen und die Alten aufbewahrten wie zu Kriegszeiten. — Was habe ich nur für einen Zyniker geheiratet, hörte er noch, während er die Tür zuzog. — Du hättest es nicht tun dürfen, murmelte er eher in sich als an sie, die es es ohnehin nicht mehr hören konnte, du hast nur getan, was deine Eltern dir befohlen haben, was gut sei für den Fortbestand ihrer Gesellschaft. Ihrer, nicht seiner. Aber das waren dann nur noch Gedanken, mit denen er sein schlechtes Gewissen ein wenig abzumildern hoffte. Er saß bereits im Auto, das er, wie alle anderen auch, die eines besaßen, grundsätzlich auch für die kürzeste Strecke benutzte, das allerdings auch vonnöten war, denn in dieser abseitigen Abgeschiedenheit der Metropole beendete der Bus bereits um achtzehn Uhr seine Linie, und ein Suchtmittelautomat befand sich nicht einmal in annähernder Nähe. Sie konnte am wenigstens dafür, an einen derartigen Libertär geraten zu sein, als der er sich empfand. Er hätte sich diesem Zwang der Heirat auch nicht unterwerfen dürfen. Er, der sogar gegen den Kranzgeldparagraphen erfolgreich gewesen war, wenn auch mit Hilfe eines Rechtsanwaltes, den ihm sein vor drei Jahren gestorbener Vater quasi vererbt hatte. Er, der auch im anderen Fall die Ehe abgelehnt hatte, wenn das auch auf einer Gegenseitigkeit beruhte, die quasi letztlich ein Wunschkind gebar. Er war nicht wirklich ein Libertär, denn er nahm sich nur das aus diesem Theoriepaket, das seinem Körper und Geist gleichermaßen guttat. Die Liebe spielte dabei durchaus eine Rolle. Doch er war unfähig, sie zu besetzen. Seine Sozialisation war letztlich eine, die die Liebe lediglich in der vom Fachmann Ortega y Gasset so benannten «psychischen Angina» des Verliebtseins kannte. Alles andere war Gewohnheit. Wie bei seinen Eltern. Die hatten einander umschlungen, da sie meinten, sich in dieser Formation auf ihrem insularen Mikrokosmos gegen die erst kaiserlichen und königlichen und dann völkischen Kanonen schützen zu können, die von ihren festgefügten Ländereien her jeweils gesellschaftliche Regeln abfeuerten. Je weiter er darüber nachdachte, um so klarer wurde er sich darüber, daß diese Ehe hätte nie zustandekommen dürfen. Nicht nur, daß er sich seiner Unreife zunehmend bewußt wurde, die nicht nur an seinen jungen, gerademal dreiundzwanzig Jahren lag, sondern möglicherweise an einem Aufwachsen fern jener Realität, der seine noch jüngere Frau mit dem väterlichen Ethos eines Handwerkers ausgesetzt war, der gemäß protestantischer Lehre von Anstand, Sitte und Ordnung die oberste Stufe der Hierarchieleiter erklommen hatte und auf den dessen Gattin sich immerfort äußerst stolz berief. Ein sich vom Ahnen her anschleichendes Bewußtsein bedeutete ihm, so gut wie nicht zu wissen über das Leben, das er unbedingt genießen wollte. Er sah nach etwa einem Kilometer Autofahrt zur Linken einen Zigarettenautomat. Unbewußt ging er davon aus, er beinhalte nicht die von ihm bevorzugte Marke. Es konnte sie gar nicht geben, das fiel ihm ein paar hundert Meter weiter mit einem Mal ein, hatte er sie doch kürzlich gewechselt, hin zu einer mit deutlich mehr Nikotin- und Teergehalt, die, wie im Land ihrer Herkunft, ausschließlich im Tabakwarenladen erhältlich war. Also fuhr er weiter in Richtung Zentrum, zum Bahnhof des eingemeindeten Städtchens am Rand der großen Stadt, wo er sicher sein konnte, sie auch kaufen zu können. Er fand keinen Parkplatz zur frühen Nachmittagszeit an diesem Sonntag, an dem sich alles aufzumachen schien zu Eltern und Großeltern, zu Kaffee und Kuchen, was man in der kleinen Bäckereifiliale des Vorstadtbahnhofs bekam, dazu aus dem winzigen Laden noch die Blumen, ohne die gute Töchter und Söhne nicht antraten zum Wochenendbesuch. Das war der gute Ton, den man sehr früh zum ersten Mal hörte, wie das Klingeln des Christkindes, nach dessen Bescherung man ins Bett mußte, von Oma bewacht, weil Mutti und Vati in die Kirche gingen, dieses eine Mal im Jahr. Er kannte ihn nicht, diesen guten Ton, er hatte lediglich davon gehört, von seiner Frau, die nicht mehr in die Kirche ging, seit sie ihn geheiratet hatte, auch ohne Segen, denn er gehörte keiner Gemeinschaft an, die ihm hätte einen erteilen können. Seine Eltern hatten keine religiösen Festtage. Sie lehnten Rituale ab, weil sein Vater mit ihnen gequält worden war. Dessen Frau, die nicht als seine Frau galt sondern anrüchig als Geliebte, da den beiden kein ritueller Segen zuteil wurde, würde zwar gerne ein wenig ritualisieren zu solchen Tagen wie Chanukkah oder Jom ha-Kippurim oder wenigstens zu Roisch ha-Schana, aber sie war auch ohne Weihe eine gute Gattin und folgte dem ihren. Das erleichterte beider Leben, da sie sich anfänglich meist fern von Zivilisationen aufhielten und selbst dann, wenn sie später in deren Nähe oder gar mitten hinein gerieten, in ihrem insularen Mikrokosmos verharrten. Er überließ sich dem Lauf der Dinge, der nach einigem Suchen das Lenkrad in die linke Richtung drehte und er so auf die Ruhlebener Straße geriet, die ihn immer weiter von zuhause wegführte hin zum Zentrum des Zentrums der großen Inselstadt. Dort würde er sicher einen Hafen finden, wo er nicht nur das Auto abstellen und dann Zigaretten kaufen könnte. Er kannte in der Nähe des Bahnhofs am zoologischen Garten einige Seitenstraßen, die noch gewisse Freiheiten boten. Und er würde sie zu nutzen wissen. Wenn er schon einmal so weit weg war von seiner teilweise selbst aus Holz gezimmerten Heimeligkeit, die er während dieses gesamten Denk- und Fahrprozesses zunehmend als ungemütlicher werdend empfand. Er würde sicher bei Aschinger, der sich direkt neben dem Bahnhof Zoo befand, eine Erbsensuppe nehmen. Er mochte Erbsensuppe sehr. Seine Frau kochte ihm keine. Sie mochte keine Erbsensuppe. Sie hatte während ihrer Kindheit zuviel davon essen müssen. Und seine Mutter wäre nie auf die Idee gekommen, so etwas Abartiges zu kochen. Aber selbst wenn sie sein Sehnen erhört hätte, das in ihm rief, seit ihm in den Schulferien bei Tante und Onkel nahe der Grenze zum deutschen Reich dieser köstliche Brei serviert worden war, sie hätte es nicht vollbracht, denn sie konnte überhaupt nicht kochen. Er freute sich auf die Erbsensuppe. Sie war ihm ein Stück Heimat geworden. Abbruch. Nein. Interruptus. Eine Fortsetzung ist nämlich beabsichtigt. Schließlich hat der Irrlichternde Grün die Berechtigung, erklärt zu werden. Inselleben • Erzählung
Wer jetzt kein Haus/ des Mittelmaßes hat ... Zur Zeit höre und lese ich atempausenlos von der Mittelmäßigkeit, vom Mittelmaß, zum Beispiel eines Wutbürgerpräsidenten. Es kommt aber immer darauf an, wo so einer herkommt, wer oder was dessen Niveau gebildet hat, an dem man sich orientiert, vielleicht auch, wer das Niveau bestimmt, das schließlich gesenkt oder erhöht werden kann, wie das Bild vom Bild-Fahrstuhl bei Wolfgang Michal, mit dem es rauf- oder runtergeht. Zur Auffahrt anderswo scheint mir allerdings kein ernsthaftes Bedürfnis zu bestehen, auch oder gerade bei denen, die dazu beitragen könnten. Ja, Einemaria, das Volk spricht eine seltsame Sprache. Ich meine durchaus, daß Rilke in seinen Satzbauten auch gelebt hat, sich zumindest seine Verstecke gehalten hat darin, etwa in Wer jetzt kein Haus hat/baut sich keines mehr//Sein Blick ist vom/Vorübergehn der Stäbe/so müd geworden, daß/er nichts mehr hält. Ortega y Gasset hat bereits als Dehumanization dell arte die Vertreibung des Menschen aus der Kunst diagnostiziert. Vielleicht sollte man ihn, bin ich als hoffnungsloser Romantiker (sowas kannten die nämlich nicht) heute versucht zu meinen, ihn erstmal reinlassen, den Menschen in die Kunst. Aber wer will das denn? Wirklich. Also nicht nur kreativen Rock'n'Roll an der Volkshochschule. Nichts gegen Volkshochschule. Aber das Denken über die Kunst lernt man dort eher nicht so. Dafür benötigt man vermutlich eher die Einzelnen, die bezahlt werden wollen und auch sollen, und die sind als geeignete Fachkräfte nicht so billig, was für die Discounter der Bildung schwierig wird, da das Bares kostet, das man nicht mehr hat, weil es spätestens seit dem Jahr der geplatzten Blase auf einmal endgültig verschwunden ist im Müllschlucker der Geldverbrennungsanlagen, die auf Vernichtung von Massen geeicht sind, von denen es ohnehin schlicht zuviele gibt und man für die nicht auch noch kostbare Güter ausgeben kann, soll, will. «Die Masse vernichtet alles», hat Ortega geschrieben. Nun gut, er war nicht eben ein Revolutionär, sondern eher dem mir nicht so sehr am gelben Blatt meines Herzens liegenden Adel zugetan. Doch es war eine andere Zeit. Zu der huldigten die meisten noch dem Herrn. Aber ich bin auch kein Revolutionär, wahrscheinlich, weil ich nicht möchte, daß jemand geköpft oder auch nur bildergestürmt wird, nicht einmal eine Statue, und bin obendrein gerade auch mit diesem Herrn Gasset beschäftigt, deshalb richtungsändert dieser Spanier mir, als ginge es um Picabia oder diesen Lichtenberg1 oder Wittgenstein oder wie die alle sonst noch heißen oder hießen, zur Zeit auch ständig im Kopf herum.2 Also: «Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht ‹wie alle› ist, wer nicht ‹wie alle› denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden.» (Das habe ich jetzt auf die Schnelle bei Wikipedia gekopiet und gepäistet, man kann's aber auch bei rororo im Ganzen lesen.) Da kann er noch so jesuitisch — wie das diese von mir auch nicht sonderlich gemochten Katholen im allgemeinen sind, die aber ziemlich was draufhaben — daherschreiben, aber da ist was dran. Ich beziehe mich aber in erster Linie auf den Gewöhnungseffekt. Da ist ebenso eine Menge dran. Da komme ich auf den Einschleifeffekt im Sprachlichen, manchmal tät ein bißchen Rilke gut, zum Beispiel bei Michal, da schlürft und schmatzt die Soße und nicht der Schmatzer und der Schlürfer. Der produziert, so recht er in einigen, aber dem Wissenden — na, das ist vielleicht doch ein wenig zu altbacken unverständlich, das klingt ja nach der Vorstufe des Süttherlin, also: dem informierten Leser — längst bekannten Punkten haben mag, mittels schief im Rahmen hängender Sprachbilder dieselbe totgerührte Soße, die er in einem «Essay» (!) anprangert. Das ist nicht mehr als Sahne aus der Tube, pasteurisierte nämlich, ganz nach dem Geschmack des Volkes, das den Geschmack von der natürlichen, also der nichtlilanen Kuh her nicht mehr kennt. Für viele mag das ein vernachlässigbarer Nebenaspekt sein, für mich ist er aber, da es meines Erachtens nichts ohne Zusammenhänge gibt, mit (mittel-)maßgeblich. Ich habe mal notiert (und mich dabei eingeschlossen): Die Pflicht des Urteilenden, in einer sogenannten Bildungsgesellschaft allemale, obendrein einer, die Informationen sehr viel leichter zugänglich macht als noch vor zehn Jahren, jedoch bleibt: Wer richtet, also (ver)urteilt, der muß wissen. Dazu zählt das Unterscheidungs-, auch Vergleichsvermögen, also die intellektuelle Fähigkeit, zu abstrahieren. In allen anderen Fällen empfehle ich mal wieder den guten alten Wittgenstein in Paraphrase, mit freundlicher Unterstützung von M. A. Numminen. Ach, auch ich sollte mich bei all den «unwürdigen» Debatten (kann eine Debatte eine Würde haben?) zurückziehen auf Wittgenstein.
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