Grün ist die Freiheit

1. Irrlichternder Grün2. Blaßbläulicher Frieden

Bis die Aufklärung absolviert sei? Polizisten verfügten über ein seltsames Vokabular, eine zum Komischen hin tendierende Sprachregelung. Oswald Kolle fiel ihm dabei ein, der Avantgardist der aufzuhebenden Sexualstellungen im Krieg der Generationen. Der Missionar, der der Frau wie der Negerin keinen Bewegungsspielraum läßt, ihr seine sittlichen Rituale oktroyiert. Die zusehends bockig werdende Reiterin, die den alten Klepper nach ihrer Lust und Laune zu beherrschen gedenkt. Der Missionar der älteren Rechte, der Benno Ohnesorg vor einiger Zeit in die alten Gesetzmäßigkeiten der Ordnung zurückverweisen wollte und damit den Aufstand auslöste. Die Aufklärung, die vor rund zweihundert Jahren zur französischen Revolution beigetragen hatte und die er innerhalb seines Studiums «absolvierte», konnte der Uniformierte wohl kaum gemeint haben. Und richtig, im Mannschaftswagen wurde auf andere Weise aufgeklart, man fischte den oben auf der Suppe schwimmenden Dreck einfach ab.

Über Funk wurden seine Angaben zu seiner Person abgefragt, geprüft, denn man hatte Zweifel an der Richtigkeit, man machte sich gar lustig über seinen Namen, den man für ein, wie der junge Polizist mit vermutlich besserer Schulbildung und Karriereaussichten in der Art der Laufbahn eines Bürgers nahe der Uniform meinte, Alias hielt, während der ältere verneinend mit dem Kopf wackelte und dahingehend korrigierte, es hätten offensichtlich doch noch ein paar von denen überlebt, die so komische Namen trügen, die entstanden waren, auf daß man sie rasch erkenne, man ihnen also nicht unbedingt ein Zeichen anheften oder gar ein Brandzeichen eintätowieren müsse.

Die Aufklärungsarbeit schien recht langwierig, was jedoch angesichts der Massen, die man in der Mausefalle um des Friedens willen gefangen hielt, erklärlich war. Über fast zwei Stunden hörte er zwar ständig Durchsagen, die klangen wie von einem anderen Stern, aber lediglich von den Melde- und sonstigen Aufsichtsbehörden kam. Nur seinen seltsamen Namen hört er nie. Dabei war der doch gut zu merken. War er durch das Raster des Unaussprechlichen gefallen? Eine weitere Stunde, dann noch eine vergingen. Er döste bei dem Gedanken an seine Frau, die sich vermutlich Sorgen um ihn machte und sich vornahm, das Thema Kind als Mittel zur Eherettung so bald nicht wieder zu erwähnen. Es würde sie nicht viel nutzen, denn er war entschlossen, seine Freiheit wiederzuerlangen. Wohin die ihn führen könnte und was sie überhaupt bedeute, zu diesem früher fast philosophischen, jetzt aber eher lebensnahen, praxisbezogenen Denkansatz kam er nicht, denn er hörte unwirklich mechanisch klingend seinen Namen, dahinter den Begriff positiv. Das habe einen guten Klang, legte er sich diese Äußerung zurecht, dann käme er jetzt ja wohl hinaus aus diesem vergitterten, geradezu ungeheuerlich stickigen Fahrzeug, in dem die Ordnungshüter allesamt eine Zigarette nach der anderen rauchten, daß sogar er sich zurückhielt, um die Atmosphäre nicht noch undurchdringlicher zu machen. Er erhob sich von der harten, lediglich mit Kunststoff überzogenen Holzbank.

Der junge Polizist, der ihn für ein Alias gehalten hatte, hatte sich ihm mit einem leichten Lächeln, es konnte aber auch ein Grinsen gewesen sein, zugewandt mit der Bemerkung, es gäbe ihn ja tatsächlich, was sich jedoch nicht unbedingt positiv auswirke, also möge er sich bitteschön sofort wieder hinsetzen, einsitzen müsse er ohnehin, denn es läge ein Haftbefehl gegen ihn vor. Haftbefehl? Der Beamte konnte oder wollte ihm nicht sagen, um welches Verbrechen es sich handelte, das er begangen haben sollte. Ob seine Frau, grübelte er, ihn wegen böswilligen Verlassens angezeigt hatte und auf diese Weise seine sofortige Rückkehr in die Ehe erzwingen wollte, um die Notwendigkeit einer Vaterschaft zu umgehen? Doch so rasch war das ja wohl kaum möglich. Er wurde zu einem anderen Mannschaftswagen geführt zwecks der Überführung in die Untersuchungshaftanstalt. Dort würde man ihm den Vorgang erläutern, gab der junge, jetzt mit Sicherheit grinsende Polizist ihm mit auf den Weg in die Gefangenschaft.

Man sperrte ihn mit etwa sieben weiteren Männern allen möglichen Alters in eine Zelle, die deshalb so stank, wie ihm ein offenichtlich erfahrenerer Mitinsasse erläuterte, weil es eine des Durchgangs war, von der aus umverteilt wurde in die Verwahranstalten gegen das Unrecht. Er war der einzige in dem völlig verdreckten Raum, der sich des Vergehens schuldig gemacht hatte, ohne Ausweispapiere im Auto unterwegs zu sein. Den tatsächlichen Anlaß seiner Verhaftung erfuhr er erst nach zwei Stunden, er steckte fest in dieser Müllhalde, deren Tür immer wieder auf- und zuging, um den einen herauszuholen und einen anderen hineinzustecken. Als er dran war, eröffnete ein Richter ihm zwei Möglichkeiten: Er könne seine von ihm nicht bezahlte Geldstrafe bezahlen und sofort gehen oder er müsse sie absitzen. An eine Geldstrafe beziehungsweise an ein Delikt, das dazu geführt haben könnte, dessen konnte er sich beim besten Willen nicht entsinnen. Die praktizierende Judikative zeigte ihm das Papier, dessen Anhang zu entnehmen war, er habe vor gut einem Jahr in Frankfurt am Main einen Diebstahl begangen, sei zu einer Geldbuße, nicht etwa einer Geldstrafe verurteilt worden, die nicht eingetrieben werden konnte, weshalb ersatzweise Haft angeordnet sei.

Anfangs dunkel, dann immer erhellender erinnerte er sich. Es war unter einigen Kommilitonen, allen voran denen der Geisteswissenschaften und aus gutem Hause, zum Sport geworden, sich des Kapitalismusses zu erwehren, indem man Bücher nicht mehr kaufte, sondern stahl. Eine sich bereits in ihrer Magisterarbeit befindliche Romanistin hatte ihm stolz von ihren Beutezügen erzählt. Sie verfügte über eine nahzu komplette Bibliothek an Nachlagewerken, darunter recht teure, äußerst umfangreiche Wörterbücher für professionelle Übersetzer; sie trug mit Übertragungen aus dem Französischen zu ihrem ihrer Meinung nach dürftigen Unterhalt aus dem professoralen Elternhaus bei. Sie hatte ihre gesammelten Werke nahezu ausnahmslos und ohne viel Aufhebens aus einer Buchhandlung hinausgetragen, die sich anschickte, zu einer mit dem Charakter eines Kaufhauses zu werden und deren reger Publikumsverkehr den Bücherklau unversehens zuließ, ja nachgerade förderte. Er hatte der sportiven jungen Frau nacheifern wollen und beschlossen, Einzelbände der von ihm überaus geschätzten vierundzwanzigbändigen Brockhaus-Enzyklopädie ebenfalls auf diese Weise zu erwerben. Der Transport des Bandes A bis Apt ging reibungslos vor sich. Doch kurz danach erwischte man die Kommilitonin und legte ihr den Diebstahl weiterer Bücher zur Last. Sie verwies die Kriminaler auf ihn, der er gerade am Anfang seiner antikapitalistischen Karriere stand. Da ihm jedoch nur dieser eine Klau nachgewiesen werden konnte, beließ die Gerichtsbarkeit es bei einer milden, seinen weiteren Werdegang nicht beeinträchtigenden Geldbuße in Höhe von zweihundert Mark. Das Urteil hatte er zwar empfangen, es aber wohl nicht sonderlich ernstgenommen und auch vergessen im Rahmen seiner «psychischen Angina» sowie anschließender Heirat, die ihn nach seinem Gaststudium in der hessischen Metropole des Geistes wieder zurückführen sollte in sein Berlin bleibt doch Berlin.

Nun war er doch in arge Nöte geraten. Wie sollte er aus ihnen herauskommen? Soviel Geld hatte er nicht, jedenfalls nicht dabei. Schließlich hatte er lediglich vor, Zigaretten zu kaufen, und fast den gesamten Rest hatte er bei Aschinger in Erbsensuppe investiert. Er war so gut wie pleite. Man hatte ihm daraufhin angeboten, sich quasi auslösen zu lassen, dann sei die «ersatzweise Haft» aufgehoben. Der ihn in die Zelle zurückführende Beamte, dessen Gesicht sich aufgehellt hatte, als er mitbekam, daß er nicht den Schwerkriminellen von der Straße des 17. Juni zuzuordnen sei, teilte ihm mit, es gebe die Möglichkeit, von jemandem die Geldbuße einzahlen zu lassen. Er habe doch bestimmt Eltern. Gerade wollte er zu einem Klagelied anheben, das den verlassenen Sohn besingen sollte, da besann er sich und sprach, wenn auch widerwillig, von einer Ehefrau. Das schien den Strafvollziehenden geradezu glücklich zu machen, und er bot ihm an, auf eigene Kosten zwar, aber immerhin, die Gattin anzurufen, auf daß diese die staatliche Rechnung am nächsten Tag, man habe schließlich bereits Sonntag, zu begleichen. Bis dahin sei er Gast des Hauses.

Schweren Herzens rief er zuhause an. Wo er denn bliebe, ob er die Fabel vom Ehemann unter Beweis stellen wolle, der vom Zigarettenholen nicht mehr zurückgekehrt sei. Was ihm einfiele, sie so lange allein und im Ungewissen zu lassen. Ihm fiel dazu lediglich ein, auf eine befristete Zeit des Telephonierens hingewiesen worden zu sein. Ungehalten wollte er ihren Wortfluß unterbrechen, verfiel aber angesichts der Situation in Sanftmut und teilte ihr seine Zwangslage mit, die sich aus einer Ungeschicklichkeit seinerseits ergeben habe. Sie gab keine Ruhe, bis er ihr erklärt hatte, was er beschönigend geschildert hatte. Ihr Schweigen war schwierig auszulegen. Die Ungehaltenheit brach sich Bahn. Wütendes Schimpfen war ihre Reaktion. Im Knast. Sie sollte ihn dort verschimmeln lassen. Dann erklärte sie sich doch bereit, ihn zu befreien. Dauern würde es allerdings. Er könne sich derweil überlegen, was er zu seiner kriminellen Vergangenheit zu sagen habe.

Als er um Rückführung bat, nutzte er die Gelegenheit, um etwas Lesestoff zu bitten, am liebsten Bücher, zur Not würde er auch die Bibel nicht ablehnen, Hauptsache lesen können. Das könne dauern, entgegnete der Verwalter der Gefangenschaft. Auf solche Fälle sei man nicht eingestellt. Allenfalls ein paar zensierte Illustrierte habe man zur Verfügung. Doch bereits nach etwa einer Stunde kam der Justizbedienstete, der ihn in sein Herz geschlossen zu haben schien, mit drei Büchern zu ihm in die Zelle und legte sie ihm auf das Oberstockbett. Er könne zu ihnen nichts weiter sagen, er lese nur den Kicker. Auch mit der Bibel, nach der er verlangt habe, könne er nicht dienen, anscheinend seien noch ein paar Fromme eingeliefert worden. Er habe nur kurz reingeschaut und «Da! ... Da ... Da ... rollt ... ein Kopf!» gelesen und daß es um irgendwas mit Arbeiteralltag in der Schwerindustrie gehe in dem einen Buch, um Betriebsräte und Gewerkschaften, denen der Autor Kumpanei mit den Unternehmen vorwerfe. Da habe er gedacht, das könne ihn interessieren, da er ihn ein bißchen so wie diesen Dutschke einschätze, der ja auch so ein bißchen ein Frommer gewesen sei und nicht immer das Falsche von sich gegeben habe, weshalb man ihn vermutlich auch erschossen habe, was man hier in diesen ehrenwerten Haus auch eher begrüße.

Bei dem Buch. aus dem der Justizbeamte so sachkundig wiedergab, handelte es sich um Irrlicht und Feuer von Max von der Grün, von dem er bis dahin noch nie etwas gelesen hatte. Es fesselte ihn derart, daß er nach mehr von diesem Autor verlangte, tatsächlich ein weiteres titels Stellenweise Glatteis erhielt, und er gar nicht mehr in eine Freiheit entlassen werden wollte, von der er, nach dieser Lektüre, ohnehin eine drangvolle Enge in seinem Gehirn befürchtete. Denn mit ihr war ihm ein Licht aufgegangen, das sämtliche Dispute in Dahlem oder am Steinplatz in den Schatten stellte.


Inselleben • Erzählung
 
Fr, 20.01.2012 |  link | (1113) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inselleben



 

Jugendsünde '68. Anderssprachig.

Denn wenn man auch auf den ersten Blick in die Versuchung geraten konnte, anzunehmen, daß die Vielfältigkeit der Sprachen dem Menschen zum Unglück gereicht und eine Trennwand zwischen den Völkern aufgerichtet habe, so bemerkt man doch bei näherer Betrachtung, daß dem nicht so ist. Ja, im Gegenteil, die Verschiedenheit der Sprachen gibt dem Menschen die Gelegenheit, die Vielfalt des menschlichen Geistes in sich aufzunehmen. So wird die Kenntnis der Sprachen zu einem unvergleichlichen Vorteil und einer fast unumgänglichen Notwendigkeit in der Ordnung der Dinge. Hier scheint es mir, daß gerade meine Landsleute, die Franzosen, sich etwas mehr anstrengen müßten, da sie lange Zeit glaubten, es nicht nötig zu haben, aus dieser Quelle der Menschenkenntnis zu schöpfen. Wie eingebildet sind doch diejenigen, die annehmen, daß wir keiner fremden Sprache bedürften, weil überall die unsrige geläufig ist. Abgesehen davon, daß in England zum Beispiel die Kenntnis des Französischen nur sehr ungenügend gepflegt wird, finden sich auch in Deutschland, wo nahezu alle gebildeten Leute französisch sprechen, aufs ganze gesehen nur wenige, die es wirklich beherrschen.» (Mirabeau)1
Ich hatte gestern auf eine interessante (Pflicht-)Lektüre beim hinkenden Boten verwiesen, in der es um Götz Aly und, mal wieder, um die schlimmen Achtundsechziger geht: ein Esel schimpft den anderen ein Langohr. Dort hatte ich auch kommentiert. G. hat mir darauf geantwortet beziehungsweise neue, andere Aspekte eingebracht und über ein anderes Blog auf solche verwiesen. Ich war dabei, zu entgegnen, als mir einfiel, daß mich bei dieser Thematik vielleicht doch nicht so die historische Dimension als mehr eine persönliche Sichtweise bewegt, die somit also auch weniger eine Entgegnung darstellt als einen das Thema erweiternder Eintrag. Deshalb äußere ich mich, auch der Länge wegen, in meinem Poesiealbum. Zur allfälligen '68er-Aly-Diskussion gehe man bitte wieder hinüber zum hinkenden Boten.

Ich sehe das vielleicht aus einem anderen Blickwinkel. Als ich, Sohn zweier Freigeister, von denen einer einer wurde, da er sich aus dem gelöst hatte, was man heute landläufig als konservativ2 bezeichnet, auch wenn es gar nichts bewahrt, sondern vielfach zerstört, aus einem traditionellen, tiefreligiösen Umfeld seiner Familie, als ich also um 1964 nach Berlin kam und sofort unter anderem die BRD bereiste, begegnete ich überall alten Nazi. Daran hat sich lange nichts geändert, und bei diesen Strukturen ist es aus meiner Perspektive bis heute geblieben, oder anders: sie scheinen wieder aufzuleben. Nein, ich meine nicht das, was so urmordsplötzlich in den Medien aufgetaucht ist. Ich kann es auch das altverbreitet Urkonservative nennen. Es ist möglicherweise das, was in den meisten, in uns allen steckt, vor dem sich manch einer sich richtiggehend fürchtet. Zähle ich mal Aly dazu. Zum Urwüchsigen. Ich darf munter daherplappern. Ich bin kein Historiker. Ich blogge, ich ramme einen Pflock in dieses leichige Gespenst.

Ich muß dabei beispielhaft an meine Mutter denken. Sie hat sich, nachdem mein Vater gestorben und eine gewisse, Anstand und Sitte gebührende, also rituelle Trauerzeit vorüber war, rasch einem Mann zugewandt, der sein Leben lang ein von Anstand, Ordnung und Sitte, quasi von den Preußen, letzten Endes von den Nazi geprägter Modellpolizist war, sie hat sich dann auch noch auf eine für mich unerträgliche Weise in ein geradezu seltsames Gefüge eingebracht: Sie hat, nachdem ich zuvor jegliches Erbe abgelehnt hatte, ihr passables Hab und Gut der Kirche vermacht, und zwar, ich fasse es bis heute nicht, der evangelischen. Mir wurde der mögliche Hintergrund erst sehr viel später klar, als ich von einem elsässischen Généalogiste erfuhr, daß der deutschhassenden, wohl weil zur Zwangsdeutschen ernannten Juive Familie ursprünglich, im 18. Jahrhundert hugenottisch war (ich gehöre demnach sogar historisch betrachtet Andersdenkenden, besser vielleicht Andersgläubigen an). Wer da wen und aus welchem Grund wohin konvertiert hatte, das entzieht sich meiner Kenntnis, da ich die (Werde-)Gänge meiner mütterlicherseits französisch-deutschen Verwandtschaft des Blutes nicht weiter verfolgt habe, da es mich lange genug verfolgt und ich konsequent alle angiologischen (dieser Terminus technicus muß jetzt sein, da er mich in letzter Zeit akut allzu sehr beschäftigt) Verbindungen abgebrochen hatte. Aber mir wurden mögliche Mechanismen, Automatismen klar, die da eingesetzt haben könnten: zu einem ordentlichen Leben und damit zur «Geborgenheit» zurückkehren zu wollen, die es einst in ihr gegeben haben mag. Von ihr kamen, in unserer freigeistigen Familie, Begriffe wie Zucht und Ordnung, nicht nur in der heutzutage im Prinzip fälschlicherweise nach einem alten Adeligen benannten und dem Ritual verpflichten Tischbenimmlehre, aber um so häufiger vor.

Ich werde das Gefühl oder auch die anwachsende Sicherheit nicht los, daß viele Menschen '68 als begangene «Jugendsünde» verstanden und sich deshalb wohl später davon nicht nur abwandten, sondern eine Gegenposition bezogen, die sie in Altbewährtes zurückbrachten, auf den «besseren Weg». Ich tendiere dazu, es den bequemeren zu nennen. Gestern sah und hörte ich von mich seltsam anmutenden, weil nicht wissenschaftlich abgesicherten Umfragen, aus denen hervorging, ein Großteil der deutschen Bevölkerung sehne sich («wieder») nach mehr Moral und dergleichen. Irgendwie lande dabei assoziativ bei dem erwähnten Philosemitismus, den ich sehr wohl, nämlich als unendlich verlogen miterlebt habe, der für mich meinungstechnisch immer springergelenkt war und woran sich bis heute nichts geändert hat wie bei den paar wenigen ebenso, die nicht diesem Meinungskonzern angehören, der allerdings mittlerweile allein dem goldenen Götzen Mammon huldigt — ein Konvertit hatte die Geldverleiher aus dem Tempel gejagt — und nicht einem möglichweise schlechten Gewissen wie bei seinem Gründer-Cäsar.

Nehmen wir den bei G. erwähnten Broder. Erinnern wir uns: Er war kurz in Israel, tätig für den Spiegel, meine ich mich zu erinnern, kehrte dann aber rasch reu- oder wehmütig (?) zurück. Ich nehme an, nenne ich's mal so, er meinte, von der BRD aus mehr für Israel tun, zum Beispiel später den Islam von dort aus besser an die Kandare nehmen zu können. Er schwang sich vor allem auf zum Redenschwinger für die Freiheit. Und die war nunmal, da sind wir wieder beim Meinungs-Cäsar, uramerikanisch, ur-US-amerikanisch. (Kurz-Exkurs: Mich ärgert spätestens seit Kohls mit Einführung des endgültigen Kommerzes vehement betriebener Abschaffung auch von '68, daß das andere Amerika, das lateinische, südlich gelegene, aus sehr vielen Ländern beziehungsweise Völkern und unterschiedlichen (Ur-)Mentalitäten bestehende immer durch das Rost fällt.) «Die Deutschen», (ich zitiere, auch fast zehn Jahre danach, die immer noch lesenswerten und äußerst amüsanten Briefe von Daniel Rapoport) gab er qua Religions-, also Gesinnungsamtes zu Protokoll, «würden ‹mit dem Holocaust im Gepäck› eine überlegene Moral beanspruchen, die sie zur Kritik an Amerika geradezu verpflichte.»

Ich sehe mich nachgerade verpflichtet, die nachfolgende Rapoport-Passage zu zitieren, um aufzuzeigen, daß es auch ein anderes (allerdings säkulares) jüdisches Verständnis gibt, das, ich getraue mich es zu sagen, von jemandem kommt, der '68 vielleicht gerade mal geboren wurde, aber dennoch aus einer Perspektive argumentiert, die '68 geboren worden sein könnte.
«Mit knirschender Feder setzt H.M Broder nun gegen jene an, die ‹alles relativieren› und den 11. September womöglich mit anderen Verbrechen vergleichen. Jedes Opfer hat zugleich mit seiner Opferrolle auch die Unvergleichlichkeit seines Leidens gepachtet. Vergleiche nivellieren das Leid, ja leugnen es geradezu. Also sind Historiker, die nur durch vergleichende Untersuchungen zu allgemeinen Aussagen gelangen können, unhistorisch. Aber weiter: Nun spritzt seine Feder Hohn, weil die Anti-Amerikaner plötzlich etdeckten, daß die USA kein Wohlfahrtsverein seien, sondern Weltmacht-orientierte Interessenpolitik betrieben. Setzt dagegen, daß auch deutsche Konzerne im eigenen Interesse handelten. (Radiumhaltig.) H.M. Broder kontert Little Bighorn, Dresden und Hiroshima mit einem schulterzuckenden ‹Na und?› Nun ist nicht jeder mit der Gefühlstaubheit des H.M. Broder geschlagen, allein das gehört beiläufig nicht hierher. Hierher jedoch gehört die Frage, wer denn nun ‹alles relativiert›? H.M. Broder relativiert ganz offenbar das Unrecht aneinander, seine Botschaft lautet: ‹Der Mensch ist schlecht, so what?› Wenn also dereinst (zB. Merz 2003) wieder einmal amerikanische Bomben auf den Irak fallen, dann sollen wir ‹Westeuropäer› aufgeklärt schweigen. Schliesslich hatten wir unsere zwei Weltkriege, unser Bosnien und unseren Kosovo, sollen die USA also ihr Hiroshima, ihr Vietnam und ihren Irak haben. — Dass es jemandem einfallen könnte, all diese Entgleisungen der Menschen, Amerikaner oder Deutsche, in Krieg und Jahrzehnte währendes Leid zu verdammen und vehement dagegen einzutreten, fällt H.M. Broder nicht ein. Dass ein Deutscher aus rationalen Gründen zur Kriegsgegnerschaft gelangen könnte scheint ihm absurd. Wahrscheinlich sogar, dass man überhaupt zur Kriegsgegnerschaft gelangt. (Dabei kann man durchaus beweisen, daß die Kulturlosigkeit auch ohne Krieg Bestand hat).»
Das ist, so meine ich zu wissen, eine Minderheitenmeinung. Wenn man die ungefähr 40,1 Prozent, die dem weiterhin seines Amtes waltenden bundesdeutschen Präsidenten keine zweite Chance geben würden, als Minderheit bezeichnen kann. Es bleiben gestern und vorgestern besagte 59,9 Prozent. Darunter dürften sich viele befinden, die '68 lediglich insofern noch in Erinnerung haben oder aus mehr oder minder dubiosen Büchern kennen, daß damit Anstand und Sitte, vor allem aber Zucht und Ordnung zusammengebrochen sein sollen. Zucht und Ordnung mag man das heutzutage zwar nicht mehr nennen, das wäre dann doch zu wenig zeitgenössisch oder zeitgeistig zu inkorrekt, aber Anstand und Sitte darf schon noch oder wieder sein. Mir klingt dabei jedoch die vielbeschworene Moral in den Ohren. Das wiederum ist eine, bei der etwas mitschwingt, das gut in die heutige Zeit paßt: moralinsauer. Ein ehemaliger Bundeswehrsoldat hat mir mal erzählt, man hätte ihnen früher etwas ins Essen getan, das die unmoralischen Triebe in Sitte und Anstand umwandeln solle: Hängolin habe man's genannt. Mir hat '68 Antrieb zu einer Freiheit des Denkens und durchaus auch des Handelns gegeben, die offenbar und mit der Verkrampfung der Zeit davor in die Schranken zurückverwiesen werden soll. Da dürften ziemlich viele Fehler auch oder gerade des Denkens unterlaufen sein, wie das nunmal ist innerhalb einer Ausbruchs-, Aufbruchs und Probephase. Aber einer der größten Denkfehler scheint mir in den, wie der hinkende Bote schreibt, «leichtfertigen Parallelen zwischen 33 und 68» von Götz Aly zu liegen. Das läge mir schon näher: «Gerade schießt mir Herzogs ‚Ruck’-Rede in den Kopf und ob sie auch — auf der persönlichen Ebene — unter dem Aspekt späte Rache interpretierbar wäre?» Mir schwebt trotz allem Perönlichen wie da oben bei der Rede Herzogs doch eher «die geistig-moralische Wende, [...] die Propagierung liberaler Wirtschaftspolitik» vor. Mich «freigeistig» Erzogenen, mich bald auf die Siebzig Zugehenden hat Achtundsechzig befreit, hat mich in fortgeschrittenem Alter mehr denn je zu klaren Gedanken gebracht. Wenn andere sie auch für wirr, für die Verwirrtheit eines sich nicht aus seinen Jugendsünden lösen Könnenden halten mögen.

Zur '68er-Aly-Diskussen übergebe ich gerne wieder zurück an den hinkenden Boten.


Um eine Fußnote lesbar zu machen, fahre man mit dem Cursor mitten hinein in die jeweilige Ziffer.1
 
Di, 17.01.2012 |  link | (3158) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Auf gloriolende Gloriosa,

nein, nicht auf die medientechnisch tote Taxis-Unternehmerswitwe Mariae Gloria Gräfin von Schönburg-Glauchau aus Regensburg, sondern auf die Gloriole des ollen Fritzchens, auf die weist meine, ach was, unser aller Vorleserin hin, auf Lese- und Radiostoffe. Ich Fernsehverseuchter habe den «Dokumentar»-Film, das «Dokudrama» auf arte gesehen. Das Filmchen, muß ich wohl sagen, denn auch arte bemüht sich seit Jahren, das sinkende Niveau seiner öffentlich-rechtlichen Geldgeber zu halten.

Nichts gegen Katharina Thalbach, die samt Töchterlein als der junge («Auch mir war Friedrich vom ersten Moment an wahnsinnig vertraut») den verknarzten und verharzten Sarkast gibt, früher habe ich sie sehr geschätzt, nun aber sie unterhält mir zu sehr in letzter Zeit, als ob sie Angst vorm künstlerischen Ableben hätte, nimmt mit, so erscheint sie mir, was sie eben mitnehmen kann, und sei es, weil gerade mal wieder jemand vom plötzlichen Alterstod dahingerafft wurde.♥ Gut, sie darf das, sie ist als Schauspielerin Unterhalterin und eben sterblich, aber sie verramscht mir zu sehr, hier die Geschichte, als ob Schiller aus dem jenseitigen Off medienwirksam das gemurmelt hätte, mit dem Hans-Reinhard Müller, der ehemalige Intendant der Münchner Kammerspiele, und auch der kurzweilige, zum Melodram tendierende Romanedichter Johannes Mario Simmel mir gegenüber das Schillernde als programmatisches Stilmittel unterfüttert hatten. Es mag seine Berechtigung haben, aber mir ist das dennoch alles zu sehr, als ob History-Guido, der mit dem auf der rechten Seite blinden Auge, Regie führen würde, mir geht dabei wesentliches verloren, was zur Verfälschung führen kann, zum Beispiel, daß fast ausschließlich von der Liebe die Rede ist, die bei dieser preißischen Zuwiderwurzn Fritz auch zu seinem Ende hin überwiegt. Mir menschelt's darin einfach zu arg, als daß es mir Bemerkenswertes zutage brächte

Da ist mir das Buch dann doch eher Kopfkino, mit dem man «sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen» braucht. Oder eben die Zeitung, wenn die auch oft daneben, also nahe an der Unterhaltungslektüre liegt, indem sie das Vage sich äußern läßt: «Nichts davon ist falsch. Aber mit all dem ist keine der Einsichten Mirabeaus widerlegt.» — Mut zur Lücke oder die Angst des Verlegers vor zu langen Textstrecken, die die Bildchenkucker verjagen oder die Schere im Kopf? Ein Satz nur, denke ich mir oft. Und das Bild ist dafür im Nu reduziert, online ohnehin und allemale. Was man, also der sogenannte Leser, der ja immer mehr zum Kucker wird, aber vermutlich nicht will. Nun gut, auch der olle Arno kann nicht alles gelesen haben; er ist ein bißchen entschuldigt, zumal er viel Historisches liefert. Aber der Autor der letzten (mit Fragezeichen, denn bei arte steht irgendwo etwas von einem Buch zum Film) Fritz-Biographie erzählte mir beispielsweise, Mirabeau habe trotz der geradezu abwertenden und geringschätzigen Äußerungen dieses Misanthrops von Preußien bis zum Ende hin diesen kleinen großen Vor-Napoleon (das war jetzt geklittert, ist aber wahr, auf meiner Realitätenbühne) überaus geschätzt und ihn überwiegend freundlich bis gar liebevoll beschrieben.

À pro pos Mirabeau: Wer weiß schon noch, das der auch ein herausragender, heute müßte man sagen: Soft-Pornograph war? Womit ich wieder bei der unterhaltenden Geschichte wäre, bei meiner frühmorgendlichen Lektüre über die Freiheit, also die 68er: ein Esel schimpft den anderen ein Langohr.

Irgendwo hatte ich gelesen oder gehört, der als Friedrich vorgesehene Darsteller sei plötzlich verschieden, worauf sie die Titelrolle übernommen habe. Aber davon ist nichts mehr zu finden. Vermutlich hat's mir mal wieder traumatisch die Wirklichkeit verdreht.
 
Mo, 16.01.2012 |  link | (1860) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Mediales



 







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