Selbstbefriedigung. Eigenherzselbstmassage. Eigenkommentar.

Der Adler läßt Federn © Henri de Panaché-Cagnard

Cœur qui souprire n'pas ce qu'il désire. (Ein seufzendes Herz hat nicht, wonach es sich sehnt.)

Es ist offentlich, keiner will mehr mit mir spielen. Ich habe mich aber auch selbst zum Außenseiter stilisiert. Nein. Es hat lediglich den Anschein. Ich funktioniere nunmal anders als die Masse. Wenn es solche wie mich auch ebenso massenhaft gibt. Aber diese Andersschreibenden haben nunmal überwiegend ihre eigenen Seiten, auf denen sie meist unkommentiert vor sich hinschreiben. Sie haben, wie ich, ihre (vermutlich ebenso kleine) Leserschaft. Zu der ich gehöre. Ich kommentiere auch kaum. Aber kommentieren um des Kommentierens willen wäre eine Lösung, die niemandem Befriedigung verschafft. Und bei mir kommt noch hinzu, daß ich so verquast, so nach innen, häufig derart insiderisch schreibe, daß viele ob des Unverständnisses kopfschüttelnd abdrehen. Es liegt sicherlich auch daran, daß ich mir durch meine Privatisierung eine Auftrittsänderung leisten konnte.

Auch früher war ich beim Verfassen von was auch immer bemüht, die Sprache nicht in den Hintergrund treten zu lassen. Die Reduktion von Sprache zugunsten des Transports von Inhalten hat mich häufig meiner Konzentration beraubt, das Germanisten- oder Kunsthistorikergschwalle nicht minder. Es geht auch anders; glücklicherweise war ich sehr lange Zeit in führender Position der Ästhetikbranche tätig, in der ich Langeweile in Kurzweil umoperieren durfte: Unter Ästhetik verstehe ich hier ausnahmsweise das landesweit obligate Mißverständnis, das italienische Estetica, von der Nägelpolitur bis zur Brustverkleinerung. Ich habe selbst jahrzehntelang sehr diszipliniert geschrieben, schreiben müssen, sogar unter den sechs Pseudonymen oder Noms de plume (deren Praktikabilität mich in meinen Anfängen, sozusagen während eines hochbezahlten Volontariats, meine Lehrmeister lehrten) und die ich mit tucholskyischem Vergnügen weiterführte, die ich seit den Siebzigern bei der VG Wort angemeldet habe.

Doch nun muß ich endgültig nicht mehr verstanden werden — oder nur von denen, die zwischen den Zeilen lesen können. Vielleicht bin ich auch in den Altersp(r)unk geraten, der in immer dürftigere, weil minimaler (nicht minimalistischer, das ist ein Terminus technicus der Kunstschreibe, vielleicht gar als Termkuss [?] für die Neugehetzten in der SMS-1 oder in der Zwitscherschreibe2) gewordene Sprachkompositionen hineinverquert, die klingen wie eine einzige (einzigste?) Melodei und Rhythmus auf dem allabendlichen Volksmusikabend von Hessischem und Mitteldeutschem Rundfunk, dessen Niveau die anderen Bedürfnisanstalten sich zusehends annähern. Hier will ich, hier darf ich sein: mich ändern oder auch nicht.

Vorgestern schaute ich hinein in eine sogenannte Talkrunde. Gezielt. Ich glaube es selber kaum. Ich. Talkshow. Wenn ich das Wort schon lese. Unvorstellbar, aber Tatsache. Moderatorin ist eine Frau, die ich jahrelang nicht ausstehen konnte, die mir geradezu körperlich wehtat, wenn ich, was einige Male vorkam, mich in ihrer Nähe befand oder gar neben ihr stand, aber auch ihr Bild im Fernsehen war mir unangenehm. Irgendwann im Lauf des vergangenen Jahres geriet ich beim Switchen3 in eine ihrer Sendungen. Ich war überrascht von ihrer Fragestellung, nicht von der Technik, sondern von der Intention und der Intension — bei ihr werden diese beiden Begriffe noch unterschieden, wie offenbar von ihren Gästen auch, bei denen ich den Eindruck habe, daß sie größtenteils von ihr ausgewählt sind. Es sind fast ausnahmslos Menschen, die etwas zu sagen haben, auch wenn sie (oder gerade deshalb?) nicht ständig im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen oder von einer Quasselrunde zur nächsten gereicht werden. In den Sendungen, die ich mittlerweile gesehen und gehört habe, wurde nie geschleimt, kaum eines dieser üblichen überflüssigen, weil inflationären4 Wörter. Bis auf eine, der bis auf hübsch pakistanisch auszuschauen nichts anderes einfiel als in dürren Wörtchen Gott vom Islam zum Christentum, saßen da Menschen, die sich gewandelt haben oder dieselben geblieben sind, nur eben auf eine andere, wandelbare Weise, ob das die gerade in mich hineinarbeitende Entdeckung, die nachgerade unglaublich empfindsam nachdenkliche Maria Schrader, ob das der kluge Michael Groß, der Leistung völlig anders definiert als die meisten von der gerade wohl deshalb untergehenden FDP, ob das der ungemein sympathische Oboist Albrecht Mayer mit seiner in jeder Hinsicht offenen Einblicksgewährung in sein Innenleben, ob das die Moderatorin Bettina Böttinger selbst ist mit ihren gleichermaßen einfühlsamen und bisweilen gar intellektuellen Fragestellungen, bei der ich gespürt habe, daß sie sich für das interessiert, mit dem sich ihre Gäste in ihrer Berufung beschäftigen. Intensive Beschäftigung mit der jeweiligen Thematik setzt das voraus. Da dürfte das Internet nicht ausreichen..

Womit ich wieder bei dem wäre, das gestern erneut zur Sprache kam zwischen der kunstsachverständigen Frau Braggelmann und mir: das Problem des Nichtverstanden-werdens. Ihr Pflegephall, ein meines Wissen universitätsdiplomierter, gleichwohl überwiegend in der Welt des schönen Scheins unterwegs seiender Journalist eines Alters, von dem man meinen sollte, die Ironie (vom vorgesetzten Selbst- fange ich erst gar nicht an) müßte ihm wenigsten ansatzweise noch bekannt sein, versteht sie häufig oder auch fast nie. Sie hat sich deshalb zwangsweise angewöhnt, bei einem elektroschriftlich geäußerten Witzchen eines dieser Zeichen anzufügen5, die darauf hinweisen, es sei scherzhaft gemeint. Gestern früh meinte Hans-Günther Pölitz von der Magdeburger Zwickmühle im samstäglichen Kabarettportait von Deutschlandradio Wissen, es werde immer schwieriger, man könne schließlich nicht jede Pointe erklären, nur weil die jüngeren Zuschauer keine Zeitung mehr läsen oder sich überhaupt informierten. Dieser jedoch bereits in die Jahre gehende Phallus kann ebenfalls nicht lesen, nicht nur die Kurzmitteilungen von Frau Braggelmann, sondern nicht einmal das, was an scheinbaren Oberflächlichkeiten im Internet steht. Wenn zu lesen ist, ein Künstler gebe ungern Interviews, hält er das für arrogant. Ein Journalistik-Studium mit vielleicht dem Appendix Germanistik reichte eben auch früher nicht aus, zwischen dem protestantisch geprägten Hochmut (versus Demut) und einem Stolz zu unterscheiden, der sich auf das eigene Können bezieht, hier eines Großmeisters der Künste, der, wenn überhaupt, nur auf Fragen anwortet, für die derjenige, der etwas zu wissen begehrt (wobei es unerheblich ist, daß er es auch noch am Markt des Papperlapapps zu verhökern gedenkt) tief eingetaucht sein muß in ein Leben, das mit Beruf(ung) gleichzusetzen ist. Wer so schlecht selbst zwischen den Zeilen scheinbarer Oberflächlichkeiten lesen kann, dem geschieht es (recht), wenn er von dem neuen gesellschaftlichen Phänomen der bewachenden Kraftmenschen aus dem Saal entfernt wird, weil er sich auf den Menschen (der selbst gar nicht bewacht werden will, dem dieser Schutz vermutlich behördlich verordnet wurde) stürzt, um mal eben ein Interview mit ihm zu «machen». Und wenn er obendrein nicht in der Lage ist, Adressen herauszufinden (neudeutsch: recherchieren6), über die er zarte Bande für ein eventuelles Gespräch knüpfen kann, dem gebührt zu recht Platzverweis. Aber der Begriff Journalist ist ja nach wie vor nicht geschützt, auch nicht vor mir, der ich, als ich noch ein solcher war, allerdings selten weniger als zwei Tage benötigte, um mich auf ein Gespräch vorzube-reiten. Aber ich war auch nie, von meiner Zeit als Spieljunge abgesehen7, für die wohlgewandete Glanz-und-Gloria-und-Glitzer-Glitter-Fachpresse tätig, in der so etwas in ein paar Minuten erledigt ist, wenn man lediglich die Kleidergröße und den Maßschneider von Lippen und Titten wissen muß.

Où la chèvre est attachée, il faut qu'elle broute. (Wo die Ziege angebunden ist, dort muß sie weiden.)

Ich verspüre mal wieder das Bedürfnis, aufzuhören mit diesem Internetgedipple. Da ich ohnehin ein kleiner, alternder, mittlerweile nahezu bewegungsunfähiger Bücherwurm bin, läge es nahe, nach unserer Apo-Opa-Devise zu handeln: Das Bißchen, das ich lese, kann ich mir auch selber schreiben, es drucken zu lassen und es dann im Boot aus Stein (dem Lithographie-Stein?) auf der langen Reise ins Meer mit hinauszunehmen und bei der umgekehrten beziehungsweise der zeitgemäßeren Witwerverbrennung alles in Rauch aufgehen zu lassen. Aber vermutlich werde ich dann doch wieder und weiter ein wahrer Internetvollschreiber bleiben, weil ich mir einbilde, ich hätte etwas zu erzählen, sei mittlerweile gar zur Species der Zeitzeugen zugehörig (wohl deshalb gebe ich immer mehr von mir preis), zumal immer weniger Bücher gelesen werden, ich also einer dieser abtretenden Akteure oder besser Comédiens im Sinne eines molièrschen Thespiskarrens und weniger seiner dann sehr hohen, höfischen Comédie-Française oder gar des schnellebigen Filmgefitzels bin. Eher so, wie der von mir nach wie vor hochgeschätzte, nicht so adelsnahe Dieter Hildebrandt während der oben erwähnten Runde meinte: Er mache das alles nur für sich, aber er genieße es durchaus, wenn manchmal jemand applaudiere. So bleibe ich wohl bei meinem elektrischen Tagebuch, in dem ich mein Leben sortiere, ordne, die Erinnerungen während des Verfassens beim Schreiben unordentlich aufhäufe und mir dabei zuschauen lasse. Ab und an kommt ja tatsächlich mal jemand vorbei und klatscht auch bei mir. Nein, ich erinnere mich nicht schreibend, um zu verdrängen. Ich will es zurückholen. Und ich bin unheilbar mitteilungsbedürftig.

Um die Anmerkungen lesen zu können, berühre man mit dem Cursor die jeweiligen Ziffer.8
 
So, 29.01.2012 |  link | (4839) | 18 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres



 

Trauernd zwischen Rutsch- und Reeperbahn

Emblematische Erinnerung

Photographie: © Barbara Gross (hier leicht verfremdet; vgl.). Anderweitige Verwendung untersagt!

Ich stehe hier nicht als ein Kunst- oder Kulturhistoriker, als ein Irgendwasograph. Ich stehe hier und spreche als quasi zweifacher Bestandteil der oppermannschen Ensembles — sowohl der künstlerischen als auch der des Lebens (was bei Anna ja immer miteinander verwoben war). Und ich stehe hier als Freund — nicht eben als ein langjähriger (aber darauf komme ich noch zurück) —, der traurig ist über den Tod von Anna. Deshalb soll mein bescheidener Beitrag die Geschichte unseres Kennenlernens sein — ein Stück Erinnerungsarbeit, und sonst nichts.

Ich habe Anna Oppermann vor etwa fünf Jahren — in Vorbereitung der kleinen Monographie, die wir publiziert haben — in München bei Barbara Gross kennengelernt, wo Anna Oppermann eine Ausstellung hatte (Bild oben). Auf eine merkwürdige Weise sah ich den Satz von Bazon Brock verifiziert, den er mir mal ins Mikrophon gesprochen hatte: «Der Künstler hat jederzeit hinter seiner Arbeit sichtbar zu sein.» Wie Anna mir und meiner Freundin Anne entgegentrat, tat sie das als Personifikation ihrer Arbeit. Von ihr ging eine seltsame Faszination, eine geradezu magnetische Wirkung aus, ich wurde regelrecht in sie hineingesogen, quasi in ihr Hauptensemble. Wir haben in dieser Phase des Kennenlernens kaum über Kunst gesprochen, sondern über ein paar organisatorische Dinge — was in der Natur der Sache lag — und über das, was uns alle doch am meisten bewegt: über das Leben (also in Annas Sinn eben doch über Kunst). Nun, wir verabschiedeten uns mit einer Verabredung für Hamburg. Ich mußte jedoch ständig an sie denken, und wenn ich mich recht erinnere, träumte ich in der folgenden Nacht, ich hätte mich in einem der oppermannschen Ensembles sehr ähnlichen Labyrinth verirrt. Aber dieses Verirren war keines der angstvollen Art, war ich doch immer sicher, entweder wieder herauszukommen oder aber, mich irgendwann darin heimisch zu fühlen.

Im Grunde sollte es auch so kommen. In der Hamburger Wohnung von Anna Oppermann und Herbert Hossmann, in die wir sehr herzlich aufgenommen worden waren, hatte ich dann tatsächlich das Gefühl, im Hauptensemble gelandet zu sein. Da hatte ich realiter die von Anna Oppermann selbst gestellte Frage «Wodurch wird mein Leben strukturiert?» beantwortet: «Grob vereinfachend gesagt: erstens durch Lustgewinn, zweitens Konfliktvermeidung, drittens durch Entscheidungszwänge unter anderem im Hinblick auf erstens und zweitens. (Dies nicht nur mit Interesse für mein eigenes Leben, sondern auch für das anderer Menschen.)» Auch wenn wir zu arbeiten hatten, nämlich Bildmaterial zu sichten und auszusuchen, das Layout zu besprechen, so lief das doch alles in einer Atmosphäre ab, wie ich sie vorher und mit anderen Künstlern nie erlebt hatte: in einer seltenen fröhlichen Entspanntheit. Daß dies Arbeit war, hatte ich sehr bald vergessen.

Ich bin kein großer Spaziergänger, doch der spätere Gang mit Anna, Anne und Herbert von der Rutschbahn zur Binnenalster hat mir sehr viel Spaß gemacht, Freude bereitet. Wann hatte ich je diese fröhliche Mischung von jungem Mädchen und Dame erlebt, der nichts, aber auch nichts entging und dies ohne jeden Nachdruck — aber wahrscheinlich deshalb um so deutlicher — mitteilte. Der Spaziergang hat mir, der ich früher nicht eben ein Liebhaber Hamburgs war, diese Stadt mit Sicherheit ein ganzes Stück näher gebracht. Heute kann ich sagen, daß Anna zur Kupplerin wurde: durch sie gibt es heute eine eindeutige Liebesbeziehung zwischen Hamburg und mir. Das hat auch mit dem Verlauf des Abends, genauer: der Nacht zu tun. Wer hätte mir denn auf eine solch unprätentiöse Art und Weise Hamburgs sogenannte Sündige Meile, die Reeperbahn vorführen können?! Annas Art und Weise, still zu beobachten — sie erinnerte mich manchmal an einen ruhig dasitzenden Raubvogel, auch in ihrem Blick, dem nichts entgeht — hat bei mir dazu beigetragen, daß ich heute genauer auf die Details und ihre Zusammenhänge achte, ich mir — im Leben und in der Kunst, also in einem — das eine ums andere Mal ihre Worte vor Augen führe: «In meinen Ensembles werden die verschiedenen Erkenntnisebenen in ihrer Aussage nebeneinander akzeptiert. Die Offenheit des Arrangements erlaubt dabei Korrekturen und Modifikationen — zumal Denkklischees aufgebrochen werden können durch spielerische Konfrontationen mit nicht gewohnten Bild-Text-Inhalten, Zuständen und Objekten.»

Ich habe, wie eingangs gesagt, Anna Oppermann nicht sehr oft gesehen, das letzte Mal hier in diesem Haus, anläßlich ihres 50. Geburtages. Ich habe auch, das muß ich zu meiner Schande gestehen, nichts von ihrer schweren Krankheit gewußt. Immer jedoch hatte ich das Gefühl, mit ihr befreundet gewesen zu sein. Daß dies sich so verhält, kann nur in der Person von Anna Oppermann verwurzelt gewesen sein. Demnach ist der Verlust um so größer.

Ich bin durch Anna Oppermann zu ihrem Freund, zu einem Freund ihrer Kunst und, wie vorhin erwähnt, zu einem ausgesprochenen Hamburg-Liebhaber geworden, und ließe es sich beruflich einrichten, würde ich heute sicherlich hier leben. Doch was soll's: Ich bin ja Bestandteil des Ensembles Anna Oppermann.

Rede auf der Trauerfeier für Anna Oppermann in der Hamburger Kunsthalle, 1993.

Gut zehn Jahre später war der Wohnort Hamburg dann tatsächlich Realität geworden: zunächst die Résidence in der Schwesterstadt Marseille, dann diese gänzlich andere norddeutsche Schönheit auf dem Land nahe Mare Balticum, und abschließend das Dorf an der Alster.
•••

Peter Gorsen: Stillebenhafte Labyrinthe des Kopfes und der Sinne (Auszug)

«Die künstlerischen Anfänge Anna Oppermanns reichen in die unruhigen 60er Jahre zurück, als die Kunst noch von Handlungsalternativen, Utopien, ‹Antikunst› und ‹Gegenkulturen› bestimmt war und kritisch oder sich verweigernd auf die institutionalisierten Lebens-, Arbeits- und Wahrnehmungsformen, den Kunstmarkt im besonderen reagierte. Aus der Vielfalt der sich damals am Zukunftshorizont abzeichnenden ‹Expansion der Kunst› sei hier nur an vier Oppermann bestimmende Ereignisse erinnert, die die Szene mit den Begriffen ‹Fluxus›, ‹Individuelle Mythologien›, ‹Spurensicherung› und ‹Concept Art› etikettiert hat. Sie sind Stationen einer grenzüberschreitenden, ständig sich selbst erneuernden Kunstentwicklung. Sie sind aber gleichzeitig Ausdruck der vielen utopischen Rückbindungsversuche der Kunst an das Leben, die immer wieder an den Entfremdungsstrukturen der Wirklichkeit zum Stillstand kommen, somit als Versöhnungspraxis scheitern und aufs neue aktualisiert werden müssen. [...]

Die Symbolik des Gestenmenschen ist nur ein (sehr spezielles) Ausdrucksmittel unter vielen, mit denen Oppermann zum interdisziplinären (nicht nur soziologischen) Komplex des ‹Künstlersein(s)›, zur Problematik der Künstler(innen)rolle, wie generell zur Frauenrolle unter patriarchalen Lebensbedingungen, ihre «mit den Augen begehbare Nachdenklandschaften» (Günter Metken) geschaffen hat. Das von großer Skepsis getragene Methodenbewußtsein der Künstlerin läßt sie immer wieder vom Inhalt auf die grundlegende Struktur ihrer Ensembles zurückkommen. Sie sind aus Objekten, Bildern und Texten intermedial zusammengesetzt. Zugelassen ist neben den gattungseigenen Mitteilungsformen der modernen bildenden Kunst wie Zeichnen, Malen, Schablonieren, Photographieren, Collage und Montage, Objet trouvé und Assemblage, auch der geschriebene Text. Aus ihrer Synthese entstehen die aus der Raumecke herauswachsenden, nach dem Schneeballprinzip in Zeit und Raum sich ausdehnenden, unendlich fortsetzbaren Ensembles. Die dabei sich ergebenden Relationen zwischen Text und bildnerischem Material hat Hans Peter Althaus als «Bildtexte» erkannt, die «in ihrer Komposition den Sprachtexten» gleichen. «Wiederholungen einzelner Bildelemente dienen durch ihren abermaligen Verweis auf den Bildinhalt nicht nur der Kohärenz zwischen den einzelnen Teilen eines Ensembles, sondern sie stellen auch rhythmische Beziehungen her und entsprechen Textbindungen, wie sie durch Alliteration und Reim erzeugt werden. Die Komposition der Ensembles aus Teilen, die wieder in kleinere Teile zerfallen, läßt sich mit sprachlichen Elementen wie Zeile und Strophe vergleichen. In neueren Ausstellungen hat Anna Oppermann die innere Komposition eines Ensembles auch durch Aufbauten sichtbar gemacht, die die frühere Ausbreitung über Wand und Boden oder später über zwei Eckwände und den Boden durch eine räumliche Binnengliederung ergänzt haben. In solchen vielfältig differenzierten Gesamtkunstwerken finden sich dann auch Ausdrucksformen, die der künstlerischen Großform unterlegt werden, wie Ironie und Parodie.»

Auszug: Peter Gorsen, Stillebenhafte Labyrinthe des Kopfes und der Sinne, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 8.1989

Halbwertzeit der Kunst. Künstliches von gestern.

 
Sa, 28.01.2012 |  link | (2673) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Das Topolino-Schwein

Die werte Frau Braggelmann meinte, ich solle nicht immer so schwergewichtige Inhalte transportieren, ihr erzählte ich doch auch lustige Geschichten. Anmerken sollte ich erklärungstechnisch, daß sie zur Zeit einen Pflegefall hat. Der männliche Phall gehört der Redaktion eines der wichtigsten Blätter der deutschsprachigen Gesellschaft an, das von ihr, der Gesellschaft, nicht von Frau Braggelmann, wie ich ihr gegenüber meinte, unterm Ladentisch gekauft wird. Frau Braggelmann als mütterliche Fachfrau (siehe rechts ) entgegnete, sie würde es im1 Playboy versteckt durch die Gegend tragen, kurzum: sie kauft das bunte Blatt, weil sie vermutet, letztendlich doch von eines Photographen Blitz gestreift worden zu sein, als der durch die Menschenmassen knipste, was zur Vernissage eingeladen war. Das ist jedenfalls meine Theorie, geschuldet meiner Vorstellung, zu Lebzeiten doch noch ein Theoretiker zu werden.

So nähere ich mich denn behutsam dem, ausgerechnet auf dieses der- oder ausrangierte Poesiealbum mit den Spielmädchen zu kommen. Ich muß mich outen. Nein, nicht so. Ich bin nicht so wie der Berliner Regierende, also so und das ist gut so. Ich war mal, einige Zeit vor Hans Pfitzinger, bei diesem unterm Tresen gekauften und im Schreibtisch gelesenen Blatt tätig, zunächst mehrfach als Urlaubsvertretung, und dann lümmelte ich ein ganzes Jahr lang mit dem immer gefüllten Champagnerglas in der Hand als Salon-Linker auf dem Sofa mit den Nackerten herum. Dort habe ich schreiben gelernt, jedenfalls anders, als man es an Hochschulen (nicht) lernt oder wie es an Pressestellen von Bauernverbänden (wohin zu bewerben mir, vor der Zeit als Spieljunge, mein Rundfunkmentor mir empfahl) gepflegt wird; rédiger heißt im Französischen: einen Artikel verfassen, ich habe dort solange die Texte renommierter Autoren umgeschrieben, bis ich selber richtig schreiben konnte und somit auch kalte Spalten füllen. Im damals noch zentral gelegen Haus in der Münchner Karlstraße waren auch Magazine wie jenes zugange, in dem Johannes Mario Simmel einst Karriere machte, die sich jedoch durchweg zur reinsten gelben Presse für seltsam Bedürftige entwickelten.

In einer solchen Bunten, mittlerweile nicht mehr nur örtlichen Nähe ist Frau Braggelmanns Pflegefall tätig. Der benötigt nämlich seit neuestem Beratung, muß sich mit dem beschäftigen, was der eigentliche Anlaß für dieses Zusammentreffen so vieler auffregattierten Damen samt unerheblichen Begleitern ist, mit der Kunst. Der Kunsthistoriker Hubsi samt filmisch glänzender, vielleicht deshalb, es mag aber auch sein wegen ihrer ästhetischen Herkunft angeheirateten Fernsehdame, hat's nämlich mit der Artistik der Besserverdienenden. Sogar eigens dafür, will mir scheinen (hier spricht der Theoretiker), hat sein Bruder Frieder, unweit des baden-badischen Festsaals der Republik, ein Museum bauen lassen, auf daß gezeigt werden kann, was sich so angesammelt hat im Leben eines Sammlers und Platz genug ist für die Photographen, die all jene knipsen, die sich in Hubsis buntem Bilderwald abgelichtet sehen wollen, den sie dann im Playboy versteckt nachhause tragen, um nach ihrem wahren Ich zu suchen, zumindest dem, das sich vor ihren Badezimmerspiegel entzieht.

Wir hatten das alles im Bauer-Haus, darin waren alle Schreib-und-Kuck-Semester vertreten, auch solche des Künstlichen. Es entstanden sogar Freundschaften, zum Beispiel zwischen Dr. Sommer und mir. Diese lang anhaltende platonische Liebe zwischen zwei Männern zerbrach allerdings, als dieser Seelsorger der Jugendlichen mich therapieren wollte. Ich hatte mich allerdings in ihn verguckt, weil er einen Topolino hatte und auch ein Schweinchen, das regelmäßig bei ihm beifuhr, wenn er von seinem Landsitz aus in die Stadt aufbrach, um andere Menschen zu psychologisieren. Die junge Sau meinte, in der bayerischen Metropole der Freizeit der Schönen sei die Luft gesünder. Zuhause fielen nämlich ständig solche Blätter von der Wand auf die Platte des antiken Herdes, worauf die Katzenherde sie umringte und nach Muttis Brustduftdrüsen suchte. Dabei wurde sie selbst noch von ihrem psychologischen Herrn gesäugt.

Diese lustige Geschichte sollte, wollte ich erzählen. Aber offensichtlich habe ich doch nicht richtig schreiben gelernt bei den flotten Lehrmädels des savoir vivre oder es wieder verlernt, denn immer wieder mäandert mir der Fluß woanders hin, wo nichts Hand und Fuß zu haben scheint, wie meine gestörte Liebe zur Theorie. Vielleicht hätte ich mich doch von Doktor Sommer therapieren lassen. Ich höre deshalb jetzt besser auf und denke darüber nach, was ich eigentlich kommunizieren wollte. Am besten, ich rufe Frau Braggelmann an. Die kann nämlich auch ganz gut vom Weg Abgekommene behandeln.
 
Fr, 27.01.2012 |  link | (4679) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten



 







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