Ein Traum von Sicherheit

Chapeau, auch Vorspann genannt: Kontinuierlicher Genuß von Absinth soll ja diese nichtsnutzigen parisischen Künstler des neunzehnten und auch noch des zwanzigsten Jahrhunderts ziemlich in den Surrealismus getrieben haben. Ich als zumindest ebenfalls Nichtsnutziger bin in den letzten Siebzigern auf das Surrogat Pastis umgestiegen, sicherlich auch weil die Droge Absinth zwischenzeitlich verboten worden war, bin jedoch auf jeden Fall bei Anis geblieben, vermutlich weil ich durch Mamans Brustduftdrüsen den Saft dessen Körner injiziert bekam, die sie gekaut haben muß wie anderswo die Menschen Coca, die davon der Cola-Sucht verfielen, also ständig schlechte Filme kucken mußten und so weiter. Der Film, der vergangene Nacht nach einem quasi durch den unheiligen Einemaria erzwungenen wiederholten Gelage über mich kam, verschaffte dem Surrealismus eine Rénaissance. Die zerfließende Zeit von Salvadore Dalí will mir dabei erscheinen wie die Vorlagen zu deutschen TV-Seifenopern des Ganztagsprogramms. In mir Mikrokosmus tobt die Geschichte.

Gemeinsam mit dem von mir adoptierten Jüngsten, der ursprünglich mal schwedisches Modell für Herrenunterwäsche werden wollte, dann jedoch skatebordender Punk und anschließend Musiker wurde, um schließlich als ausgebildeter melancholischer Tischler etwas hinzuzuverdienen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, als nichtsnutziger Künstler den Staatshaushalt endgültig zu zerlöchern, moderierte ich im Jugendfunk eine tägliche Sendung zu den Kuriosa des politischen Alltags. Ich trug auch, ebenso gemeinsam verfaßte und im Wechselgesang vorgetragene, eigene Beiträge vor. Während wir das mir nicht erinnerliche Thema heftig diskutierten, fiel mir ein paar Minuten vor Beginn der (Live-)Sendung ein, daß ich meinen Teil des Manuskripts zuhause oder irgendwoanders vergessen hatte. Ich raste los, um es zu holen. Schnitt Auf dem Rückweg zurück ins Funkhaus raste ich mit einem Motorrad namens Gummikuh quer über ein künstlich angelegtes, mir allerdings fremd erscheinendes Gras- und Gebüschgelände in Richtung unterirdisches Parkhaus. Schnitt Um den Weg ins Gebäude abzukürzen, robbte ich mehr als daß ich hügelan hinaufstieg zur Trutzburg der Medien. Mit einem Mal tauchte zwischen den begrenzenden Büschen, irgendetwas mit Lorbeer, ein behelmtes Gesicht auf und rief: «Jetzt haben wir Dich.» Ich wurde festgenommen. Schnitt Mich am Rand des Szenariums befindend nahm ich wahr, wie modern- und schwerbewaffnete Uniformierte in Stärken von mehreren hundert Mann und im Laufschritt in Richtung des offenbar das Funkhaus unterminierenden Parkhauses stürmten. Eine weibliche Stimme, es könnte die von Petra Roth gewesen sein, verkündete lauthals: Die Schweden kommen. Schnitt Ich wurde vor eine Art Volkstribunal geführt, dessen Wortführer dem damaligen Leiter der Redaktion Jugendfunk und heutig ruheständigen Chef der Hauptabteilung Kultur sehr ähnlich sah, aber ziemlich intendantische Gesichtszüge aufwies. Verurteilt wurde ich von ihm zur Höchststrafe. Zu welcher Art, das muß im allgemeinen gewaltigen Getümmel unter-gegangen sein. Schnitt Mit einem Mal befand ich mich inmitten des Studios. Mein Moderationspartner hatte auf mich und auch mit dem Sendebeginn gewartet. Die Ereignisse zuvor wurden mit keinem Wort erwähnt.

Eine Erklärung für mögliche Ursachen, die eventuellen Auslöser dieses Traums kamen mir später. In den Siebzigern war ich tatsächlich hin und wieder für den Jugendfunk tätig, unter anderem mit einer Reportage über junge Menschen, die in Afghanistan wegen Konsums von schwarzem Afghanen beziehungsweise dessen Schmuggels inhaftiert waren. Zu dieser Zeit wurde das Hauptgebäude des Bayerischen Rundfunks komplett mit Sicherheitsmaßnahmen ausgestattet. Damals gab es zwar noch keine international aktiven Taliban, aber so etwas ähnliches, tätig im westdeutschen Inland: die RAF. Ihretwegen kam niemand mehr ohne Personal- oder Hausausweis in das zuvor im Prinzip frei zugängliche Gebäude hinein. Die sicherheitsrelevanten Bereiche wie der Sendetrakt wurden mittels stählernen Einfassungen sowie schußsicheren Scheiben abgeschirmt, in etwa vergleichbar mit dem sogenannten Rettungsschirm der Europäischen Union über Griechenland. Im Nachhinein fand jemand heraus, daß die unteren Sicherheitsgarantien nahezu allesamt mit beliebigen Gegenständen wie Schraubenziehern oder stabilen Taschenmessern ohne weiteres zu durchbohren waren. Dieser Zustand wurde meines Wissens nie verändert.

Über weitere Traumwurzeln denke ich noch nach. Vielleicht bekomme ich sie erkundet. Allerdings beginnen die genaueren Erinnerungen an diesen frühmorgendlichen Film zunehmend zu verblassen — ich weiß es zeitlich so genau, da ich gegen halb sechs aufgewacht war und, um leichter wieder einschlafen zu können, den Fernseher eingeschaltet sowie danach auf die Uhr geschaut hatte und er anschließend über mich kam. An den im TV laufenden, zumindest an dessen kurze Passage vor dem Wiedereinschlaf erinnere ich mich dunkel: Es ging um die Religionskriege, als die reformatorischen Söldnertruppen des Schwedenkönigs über die Katholiken einfielen. Es kann aber auch der Einfall der Gallier in eine römische Festung gewesen sein, die nur verteidigt werden konnte, weil Cäsar seine germanischen Reiter gegen sie vorpreschen ließ, womit die eigentlichen französischen Ahnen von Asterix und Obelix entgegen deren Geschichtsschreibung definitiv erledigt waren. Aber so genau erinnere ich mich dann doch nicht an die etwas zurückliegenden Kämpfe wider das frühe und endlich besiegte Multikulti und den Beginn der Civilisation.

 
Mi, 07.03.2012 |  link | (2646) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Traeumereien



 

Elias Rönnrot und die Folgen: Absinth. Anis. Pastis

© Harry Mink, Laubacher Feuilleton 16.1995


 
Di, 06.03.2012 |  link | (3601) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Flaches Land



 

Romaneskes

Die Sehnsucht nach Liebe scheint zu wachsen. Vor allem in den sogenannten modernen Ländern tritt sie über die Ufer. Was früher als typisch gelten konnte für ausnahmslos romanisch kolonialisierte Staaten wie die lateinamerikanischen, die Seifenoper, hat die zivilisierten Republiken und Restmonarchien erobert. Die Herzen flimmern bei roten Rosen in verbotener Liebe auf dem Marienhof. Alles verzehrt sich nach Rosamunde Pilcher. Ob auch die Auflagen der gedruckten Schmachtfetzen im selben Maß angestiegen sind wie die verfilmten, das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich bin schließlich kein Literatur-wissenschaftler des Populären. Ich bin überhaupt nichts mehr, es sei denn, Privatier, meinetwegen auch Rentner. Und als solcher hat man bekanntlich sehr viel oder auch zuviel Zeit. Der eine hilft anderen, indem er sie in irgendeiner Form unterstützt, sei es an der örtlichen Tafel, sei es beim mittelständischen Betrieb mit beruflicher Erfahrung, auf daß deren Besitzer auch später einmal noch gut tafeln können. Ich aber habe insofern nie etwas ordentliches gelernt, als meiner Hilfe niemand bedarf. Rasen mähen oder mit dem Renntreckerchen über den Rasen rasen, das hat im hiesigen Norden der Herrscher seines Landlordguts übernommen, seit er verrentet und damit endlos gelangweilt ist, weil der Sohn das Umkrempeln des ihm übergebenen Betriebs in eigener Regie bewältigen möchte. Dabei sterben die alten französischen Weine im neu strukturierten Lager. Ich alleine reiche nicht aus, sie zu trinken. Es käme aber vielleicht ohnehin noch mehr Unsinn heraus bei der einzigen mir verbliebenen Tätigkeit, dem Märchenerzählen. So belasse ich es bei der Erkenntnis, die, wenn ich mich recht erinnere, Anfang der Achtziger über Dieter Hildebrandt gekommen war, der für sich selbst feststellte, daß bei einer gewissen Zurückhaltung ein Übermaß an Makulatur vermieden werden könne. Andererseits müssen meinetwegen auch keine Lebensbäume mehr gefällt werden. Selbst mein letzter, noch der Weltverbesserung dienender Schmachtfetzen auf Sechshundertdreißig Seiten vor zehn Jahren war digital verfaßt worden und hat obendrein nur die Hälfte der zum Buch erforderlichen Druckfahnen gesehen. Ich werde mir auch keinerlei Gedanken mehr darüber machen, inwieweit Lore-Romane noch am Kiosk gekauft oder längst als elektronisches Buch verfügbar sind. Fest scheint zu stehen, daß Bedarf vorhanden ist. Und da ich voll bin von Liebe und Sehnsucht und ohnehin nichts anderes kann und kenne, werde ich, um nicht gänzlich nutzlos herumzustehen oder -zusitzen, diesen Bedürfniskrater, den die Zusammenhaltlosigkeit in diese schnöde Welt gerissen hat, auffüllen helfen. Da mir nichts neues einfällt, werde ich's machen wie Genosse Putin und Altes aufbereiten, auf verbliebene Ressourcen zurückgreifen. Ich werde, obwohl ich das nie wieder tun wollte, neuerlich einen Liebesroman schreiben, der sich aus der Vergangenheit nährt, solange es sie noch gibt. Vielleicht scheitere ich und es endet in einer torsischen Erzählung. Ich habe schließlich noch nie gewußt, wo, wann und wie etwas endet, das ich angefangen habe oder das mich angefangen hat. Ich gehöre eben einer Generation an, die nach dem Prinzip lebt: Es gibt viel zu tun, warten wir's ab.

•••
Flaches Land

Sie, die ihm das Schicksal vor gar noch nicht so langer Zeit ausgesucht hatte, weil sie seiner Vorstellung von einer Göttin gleichkam, war ihm abhanden gekommen. Und damit war er orientierungslos geworden. Sein Kompaß war entschwunden, war zurückgekehrt zu den Eltern. Die boten mehr Sicherheit als er, der nie so genau wußte, wohin er wollte, aber immer bestimmte, welche Richtung einzuschlagen war. Sehr nahe am Wasser gebaut hatte er wegen des Verlusts seiner Lebensmitte. So packte er sein sicheres Automobil aus Schweden voll mit Überlebensmitteln wie Federbett und Kopfkissen aus Daunen, in das er nächtens weich auf dem Liegesitz würde weinen können, und begab sich auf Route gen Westen. Den Norden kannte er zu gut, dort hatte er genug lange Zeit verbracht, den vernachlässigte er lieber, da wären überdies zu viele Erinnerungen an Gemeinsamkeit aufgekommen. Das Wasser im Westen zog ihn deshalb eher an. Es bot einen anderen Rückblick. Es war einer auf sich selbst, in eine andere, eine frühere Vergangenheit, die sich nicht um Zukunft scherte, in der es nichts Bewährtes gab. In ihr würde er haltloser in sich selbst hineinschluchzen und melancholieren können.

Wasser hatte für ihn seit je eine magische Anziehungskraft. Landschaften und Städte ohne zumindest Flüsse oder Seen in der Nähe hatten für ihn nie Bedeutung. Fast mied er sie. Am wohlsten war ihm am Meer. Dorthin zog es ihn. Ans flache Land zum Beispiel. In das von Jacques Brel, den alle für einen Pariser hielten. In dieses Land:
1«Wanneer de lage lucht vlak over het water scheert
Wanneer de lage lucht ons nederigheid leert
Wanneer de lage lucht er grijs als leisteen is
Wanneer de lage lucht er vaal als keileem is
Wanneer de noordenwind de vlakte vierendeelt
Wanneer de noordenwind er onze adem steelt
Dan kraakt mijn land, mijn vlakke land.»
Mit einem Himmel, so tief hängend, dass Kanäle sich verlieren, mit einem Himmel, so grau, daß sich Kanäle erhängen. Brel würde ihm in seiner Heimat die richtigen Ratschläge erteilen. Er kannte sich aus mit Frauen. Marieke besang er:
2«Zonder liefde warme liefde
Lijdt het licht het donk're licht
En schuurt het zand over mijn land
Mijn platte land mijn Vlaanderland»
Brel war zwar eher Margaux zugetan, aber mit der blonden Frida kannte er sich sicherlich ebenso gut aus. Das gab ihm Orientierung. Er würde sich nach einer neuen blonden Frida umschauen, ähnlich der, die den sicheren Hafen Eltern ihm vorgezogen hatte. Er würde ihm helfen, eine flämische Ruhe zu finden. Er würde den vlaamsen Teil des Landes aufsuchen, wo es Wasser gab, in das er hemmungslos hineinweinen könnte. So würde er wieder ins Lot kommen, wenn eine Frida feenhaft neben ihm auftauchte an den Gestaden der bewegten und ihn bewegenden Nordsee, die sich neben ihn setzte wie eine Melusine. Es mußte ja nicht diese Undine aus Ingeborg Bachmanns Buch Das dreißigste Jahr sein, in dem sie geht und in dem am Ende alle Hans heißen und in dem sie zu ihm als Stellvertreter aller sagt:

«Eure Frauen, krank von eurer Gegenwart, eure Kinder, von euch zur Zukunft verdammt, die haben euch nicht den Tod gelehrt, sondern nur beigebracht kleinweise. Aber ich habe euch mit einem Blick gelehrt, wenn alles vollkommen, hell und rasend war — ich habe euch gesagt: Es ist der Tod darin. Und: Es ist die Zeit daran. Und zugleich: Geh Tod! Und: Steh still, Zeit! Das habe ich euch gesagt. Und du hast geredet, mein Geliebter, mit einer verlangsamten Stimme, vollkommen wahr und gerettet, von allem dazwischen frei, hast deinen traurigen Geist hervorgekehrt, den traurigen, großen, der wie der Geist aller Männer ist und von der Art, die zu keinem Gebrauch bestimmt ist. Weil ich zu keinem Gebrauch bestimmt bin und ihr euch nicht zu einem Gebrauch bestimmt wußtet, war alles gut zwischen uns. Wir liebten einander. Wir waren vom gleichen Geist.»

Auch noch keinen Fouquè, der keinen Zweifel daran gelassen hat, daß diese Meerfrau ihrem Ehemann überlegen ist, oder Giraudoux, bei dem es keine Zeit gibt für sie und keine Ewigkeit. Für eine solche Zeit wäre später Zeit. Er war ja noch so jung und hatte alle diese Bücher zwar gelesen, aber deren Anliegen, ein Begriff, von dem er allenfalls via Adorno wußte, daß es ein Unwort sei, ebenso nicht verstanden wie diesen goethischen Werther. Er sehnte sich nach einer gegenwärtigen meerischen Jungfer, die keinen Fischschwanz hatte und die nicht gleich wieder ins Wasser entschwand, wenn er mal wieder nicht wußte, wo sie gemeinsam entlangschwimmen sollten und er dennoch darauf bestand, über die Direktionshohheit zu verfügen.


Eine Fortsetzung ist beabsichtigt. Änderungen kann's geben. Warten wir's ab.
 
So, 04.03.2012 |  link | (6023) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Flaches Land



 







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