Die andere Liebe Fortsetzung Flaches Land | Liebe wie gemacht Die Sonne ging dort auf, wohin Elias nicht mehr zurückwollte, jedenfalls nicht in nächster Zeit. Seine zuletzt gegenüber dem Studieren bevorzugten häufigen Dienstbarkeiten als sich tänzerisch bewegender Kellner zur Aushilfe in einem überwiegend von gut und manchmal auch seltsam bis komisch betuchten Männern frequentierten Lokal am Wittenbergplatz hatten ihm mehr als höfliche Trinkgelder eingebracht und ihn die Miete für drei Monate in der nun verwaisten Wohnung hinterlegen lassen. Denn hinzugekommen war auch der mehrfache Verdienst, entstanden aus dem von nichts als Heiterkeit bestimmten, ungezwungenen Einschenken meist hochprozentiger und mit exquisiten Limonaden gemischten polnischen, in Automobilen mit Kennzeichen des diplomatischen Corps nach Westberlin eingeschmuggelten Vodkas aus Flaschen mit darin enthaltenen Grashalmen auf Gesellschaften solcher Auftraggeber, die sich durchweg aus den Gästen der sonntäglichen Frühschoppenkneipe quasi rekrutierten, die in ihn ihre körperlichen Sehnsüchte projizierten. Zwar erfuhren sie bald Ernüchterung oder gar Entttäuschung, verstand Elias es doch immer wieder geschickt, ihre Annäherungen bei gleichbleibendem Lächeln abzuwehren. Doch sie zeigten den sichtbar wohlgestalteten jungen Mann offenbar gerne auf ihren zunehmenden Festivitäten her, die meist in ehemaligen Werkstätten von Handwerkern stattfanden, die ihre Betriebe in Hinterhöfen aufgegeben hatten, hatten aufgeben müssen, da die sich selbst zumindest ökonomisch in zunehmendem Maß aufklärende Gesellschaft immer weniger Interesse an schlichteren Tätigkeiten zeigte. Dieser zunehmende Teil der Gesellschaft, der die von Studenten sowie deren Mitläufer erzeugten Unruhen allenfalls am Rande wahrnahm, auch Tote wie die eines jungen Mannes namens Benno Ohnesorg waren allenfalls von Kommentaren wie verdient oder selber schuld begleitet, begann, sich dem Fertigen zuzuwenden, das beispielsweise im Mobilaren immer häufiger aus Skandinavien kam und keine Reparateure des Alten mehr benötigte, da bei Defekten oder Nichtmehrgefallen immerfort gleich zu Neuem gegriffen wurde. Man war auf bundesrepublikanischen Steuermitteln sanft gebettet nahezu durchweg aus den westdeutschen Provinzen in die Stadt gekommen, um fiskalbegünstigt sowie überhaupt höher honoriert abseits kleinstädtischer oder gar dörflicher Langeweile Spaß zu haben in den Lofts, die als Mitbringsel von wenigen tatsächlich Weitgereisten die Freude am Leben immer weiter hinaufsteigen ließen. Diese paar Botschaftsüberbringer brachten auch Zeichen der Veränderungen mit wie etwa Neudeutungen der Liebe, anfänglich am Rande wahrgenommene, aber bald um so intensiver übernommene Errungenschaften aus ferner, sich bisweilen als kurios darstellenden Lebensauffassungen einer anderen Welt. Love and Peace ward diese magische Erkenntnis genannt, uneingeschränkte freie Liebe, hier geschlechtsspezifisch umgesetzt in den oberen Etagen der Hinterhöfe, wohin Hüter einer gesetzlich sanktionierten christlichen, oftmals besonders verkniffenen, sich reformatorisch gerierenden Moral höchst selten, in jedem Fall unwirksamen Zutritt hatten. Schwul nannten sich in der protestantischen Stadt nur ein paar wenige Forsche, die sich gleichwohl auf ihren geradezu esoterischen Maskenbällen produzierten. Homosexualität, soweit reichte der Bildungsstand des größten Teils der Gesellschaft nicht zurück, galt nicht als historisch weit hinter die Antike reichendes gleichwertiges Mitwachsen, sondern als Krankheit, die ausgemerzt gehörte, also beseitigt wie das unnütze, weil wirtschaftlich untaugliche Vieh einst im März. Ein solches untaugliches Stück Vieh war Elias begegnet, als er während einer weiteren studentischen Nebentätigkeit als Vertreter eines Leasinggebers einem honorigen Herrn aus einem für Bildung zuständigen westdeutschen Ministerium mit berlinischem Zweitwohnsitz eine hochwertige Stereoanlage anzubieten hatte, deren Tonabnehmer des Plattenspielers alleine in etwa den gleichen Betrag kostete wie eine der Waschmaschinen, die er ansonsten im Programm hatte, das vorwiegend denjenigen galt, die auf der ganz weit hinten liegenden und für viele nicht sichtbaren Seite dieser Hinterhofmedaille lebte, von der Zille einst schrieb, dort würde die Miete mit dem Revolver kassiert. Den zu Wochenenden aus Bonn nach Berlin entweichenden Ministerialdirigenten einer höchsten Besoldungsgruppe hatte ihn sein Maurer anempfohlen. Der war zu dem jungen Ehepaar ins Haus gekommen, als er auf Weisung der Vermieter letzte Arbeiten an der in vier Wohnungen aufgeteilten Jugendstilvilla vornahm, deren Eigentümer, zugleich Betreiber einer gehobenen Würstchenbude am Wannsee, es über sogenannte gute Beziehungen gelungen war, sie in einen sogenannten weißen Kreis hineinzukomplimentieren, der die Mieten aus der ansonsten üblichen Preisbindung herausnahm. Mit ihm war Elias ins vertiefte Gespräch gekommen, in erster Linie wohl deshalb, da sich dessen außerordentliches kunsthistorisches Wissen herausstellte, das ihm das eine und andere Mal weiterhalf bei seinem noch hinzugenommenen Nebenfach. Fast so etwas wie eine Freundschaft hatte sich schließlich daraus entwickelt. Dieser Maurer, der sich als schlichter Geselle etwas abgabenfrei hinzuverdiente, war auch tätig geworden bei dem in ein anderes, ebenso den Wurst- und Kaffeefürfamilienbudenbetreibern gehörendes Haus in diesem unverfänglichen, weil gediegen-bürgerlichen Stadtteil am westlichen Rande West-Berlins, in das der hochrangige Beamte zweitwohnsitzend eingezogen war. An einem lauen Junisonnabend war Elias serios, aber dennoch leicht bekleidet vorstellig geworden in der Hoffnung, einmal höherwertig als im Maß von Dreckwäsche in die Kasse anderer greifen zu können. Der Herr griff auch sofort zu, vermutlich, weil er in diesem Finan-zierungsmodell Zukunft sah, vielleicht aber auch in der Hoffnung, Elias zukünftig fest in die Wäsche greifen zu können. Zuletzt tun dürfen hatte das ein um einige Jahre älterer Cousin, dem er mütterlicherseits vertrauensvoll ans Herz gegeben worden war anläßlich eines Lagers während der Feierlichkeiten zur Mitsommernacht in einer abgelegenen Nähe zum Polarkreis, der letzten Festivität vor seinem Ylioppilastutkinto, wie das Abitur in seinem Land heißt. Das ihm gegebene Vertrauen war sicherlich auch aus der Tatsache entstanden, daß der Verwandte obendrein als erzieherischer Leiter einer streng protestantischen Gemeinde tätig war, deren Leitlinien zwar nicht unbedingt mit denen seiner eher von freiem Geist beseelten Mutter übereinstimmten, die den Sohn jedoch von Fehltritten abhalten sollten. Verfrühte Sexualität beispielsweise gehörte dazu. Daß er längst Erfahrung darin hatte, seit ihn Dreizehnjährigen die wundersam weiche und zärtliche Schwedin polnischer Herkunft zu umsorgen begann, die zu internatsfreien Wochenenden von Kapellskär übersetzend als sich unausgelastet fühlende gereifte Dame eines freudigen schwedischen Hauses auch das der ansonsten zweisam lebenden Rönnrots bediente oder vielleicht einen ihre andere Nothelferinnentätigkeit überdeckenden Nachweis benötigte, sich, wie auch immer, aber eben irgendwann auch seiner angenommen und ihm endlich das und etwas mehr gegeben hatte, wonach er sich seit Kleinkindzeiten sehnte, das entzog sich der Mutter Kenntnis, war sie doch immerfort beruflich mit diesem Herrn Wittgenstein zugange, dessen Nichtwissen um das Nichts sie unbeirrt und beharrlich erforschte und betrieb wie das Auffüllen eines im All endenden Lochs. Diese Zärtlichkeit war für ihn auch das Maß aller Dinge geworden, ihr allein wollte er sich fortan hingeben. Doch im Ferienlager waren die Geschlechter streng getrennt, woran sich zwar nicht alle hielten, allen voran die Schüler und offenbar besonders gerne die Schülerinnen der gymnasialen Oberstufe, aber die üppige Ainniki, die ursprünglich Tuulika, kleiner Wind, heißen sollte, dann aber doch nach Kulervos Schwester den Vorzug bekam, weil die nationaleepische Kraft Einzug halten sollte in die Familie, die ihre rotblonden Zöpfe fortwährend und geradezu frivol zu flechten schien, dieser von ersten Annäherungen Träumenden umschwärmte kleine Wind einer Kollegin seiner Mutter, deren Gatte vor ihrem ständigen Verlangen geflüchtet und in die befreiende Platonik konvertiert war, der er ab nachmittags in den Tanzlokalen des lange vor Mauri Antero Numminen* für seine Züchtigkeit legendären finnischen Tangos huldigte. Doch Ainniki schien ihm gegenüber nicht die gleiche Leidenschaft zu entwickeln, möglicherweise, weil ihm die erforderliche kalevalheroische Kampfesbereitschaft abging, wie sie die anderen Jünglinge an den Tag bis hinein in die Nacht legten. Elias fühlte sich unbeachtet; daß er sich später deshalb einmal als geschlechtlich würde diskriminiert fühlen dürfen, dessen konnte er sich noch nicht gewahr werden, schließlich befand man sich im Finnland der fünziger Jahre. Dem Cousin und Erzieher war sein schmachtendes Begehren gleichwohl nicht verborgen geblieben. Um ihn von entschieden zu frühen Begegnungen mit dem anderen Geschlecht fernzuhalten, nahm er ihn in ein Duschzelt beiseite und bemühte sich, ihm das eigene nicht nur in voller Pracht darzubieten, sondern es darüber hinaus auch bewegend zu ergreifen sowie ihn in weitere Techniken der Liebe einzuführen. Jedoch alles, was an ihm währenddessen festmachte, waren die Gedanken an die zärtliche Fürsorgerin seines Wohlbefindens, die er imanigativ in ein sanftfarbenes Aquarell übertrug, das dabei Ainnikis Formen angenommen hatte. Ob es in Belgien eine Ainniki geben würde, die ihm dann wohlgesonnen wäre, darüber war er sich im Unklaren. Fest stand jedoch, kein noch so standhafter Mann würde fortan in der Lage sein, sich ihm allzu körperlich zu nähern. Als er kurz hinter Aachens Europaplatz in eine Tankstelle einbog, lächelte ihn beim Aussteigen neben einem bunt bemalten Auto eine heiter wirkende Frau an, stellte sich sich als Hanneke vor und fragte ihn, ob er nicht Lust verspüre. Sie meinte damit ihn als Begleiter zu einem Fest in Heerlen, das das Mittelalter thematisierte. Heerlen, das wußte er von seinem letzten Besuch in der Stadt am Dreiländereck, liegt nicht in Belgien, sondern in den direkt daneben liegenden Niederlanden. Hanneke fuhr voraus. *«Der Nachmittagstanz im Maestro paßte uns bestens. Die Band war die von Kai Gideon, dem Mann, den ich aus der 1997er Tango-Dynastie am meisten schätze. Er ist, wenn man so sagen kann, geistig den übrigen voraus, und seine innere Ausgeglichenheit kommt auch in seiner nuancenreichen, teils sogar mystischen Stimme zum Ausdruck. Das hat vermutlich damit zu tun, daß er im Kloster Valamo am Ladogasee war und heute als orthodoxer Religionslehrer arbeitet.» Tango ist meine Leidenschaft Es besteht die Absicht einer Fortsetzung.
Liebe wie gemacht Fortsetzung Flaches Land Elias legte die Kassette mit Brel ein, die ihm ein belgischer Kommilitone aus einem winzigen Städtchen namens Bettenberge zusammengestellt und auf den Weg mitgegeben hatte. Liebe, so seine begleitenden Worte bei der Übergabe in der Kneipe am Rand des Kreuzberger Rathauses, die von zwei liebenswerten abgewrackten Tunten geführt wurde, in die er mal während seiner regelmäßigen Ausflüge mit Sozialwaisen geraten war, werde von diesem Troubadour in Vlaams sehr viel gefühlvoller herübergebracht, sie dringe zärtlicher in ihn ein als in dieser schlappschwänzigen Sprache Französisch. Liebe habe schließlich etwas mit Härte zu tun, durch die man hindurch müsse, deren Unbilden überwunden werden müßten. Französisch, das sei wie Mittelmeer, alles perle wie das Wasser einer Badewanne die milden Strände rauf und runter. Flämisch, das sei Nordsee. Wer sie besiege, der sei auch Herr über die Liebe. Elias überlegte, den direkten Weg über die Landstraße nach Lauenburg zu nehmen, da die Strecke ihn direkter an die Nordsee führte. Aber er wollte ja nicht nach Hamburg, bei diesen Pfeffersäcken, sinnierte er noch ein wenig trauerumflort in sich hinein, gebe es mit Sicherheit keine Liebe, es sei denn käuflich erwerbbare. Über Helmstadt käme er trotz aller eigens für bundesdeutsche Freizeitpiloten sorgsam angefertigten Schlaglöcher ohnedies schneller aus der sozialistischen Trauer hinaus, vor allem aber wäre er näher am Breitengrad das flachen Landes, dessen nachtrauhe Stimme ihn auf dem nächtlichen Weg in ihre Heimat begleitete. Er war am Abend losgefahren, da er nicht im Dunklen in der Freiheit ankommen wollte, die ihm an den Stränden des Westens voller Hoffnung auf Bindung zuwinkte. Binden wollte er sich zwar nicht, aber gegen etwas Enge hatte er nichts einzuwenden, zumal sich ohnehin alles wieder voneinander löse. Als Lösung hatte er die Liebe kennengelernt. Liebe macht man, hatte ihn seine dem Französischen geradezu verfallene Mutter gelehrt. Ob er selbst mit Liebe gemacht worden war, darüber gab sie keine Auskunft, auch nicht darüber, ob der französische Gastprofessor an seiner Produktion beteiligt gewesen war, der im mütterlichen Zuhause in Turku am Lehrstuhl für finno-ugristische Sprache das finnische Nationalepos Kalevala erforschen durfte und seinen Landsleuten zugänglich machen sollte. Sie schwieg sich darüber aus. Über die Liebe, lehnte sie sich an Wittgenstein an, über den sie an derselben Universität dozierte, könne sie nicht sprechen, solange sie sie noch nicht erforscht habe. Was sie mit dieser Andeutung gemeint haben konnte, erfuhr er erst sehr viel später, als er auf seinem Marsch durch die Fakultäten weit vorangekommen war, er in der fünften Etappe der Reise durch garantiert brotlose Künste von Erziehungswissenschaft über Sinologie bei der Liebe zur Weisheit angekommen war und über einen Landsmann den österreichischen Philosophicus näher kennenlernen durfte. Der Forscher der ihm doch wohl etwas zu enggewordenen Mythologie war mit Beendigung seiner Vertragslaufzeit wieder zu seiner geliebten Sorbonne zurückhin-entschwunden. Hätte ihm die Universität Turku ein Zeugnis ausstellen müssen, wäre sicherlich darin vermerkt worden, er habe sich mit hoher Intensität vor allem vieler Nebenfächer gewidmet. Zurückgebliebener aus der gemachten oder ungemachten Liebe war vermutlich er, Elias, der, wie er doch noch aus seiner Mutter herauskitzeln konnte bei seinem Abschied nach Berlin, zu dessen Anlaß sie mehrere Gläser Champagner einer kleinen, dem Unkalku-lierbaren, dem reinen Echten zugetanen Winzerei trank, dem sie so ergeben war wie eben dem Land, aus dem er gekommen und in das er alsbald wieder abgetaucht war, eigentlich Jean heißen sollte. Hans hießen alle Männer dieser Welt, hatte er über Ingeborg Bachmann erfahren, nachdem er in seiner Entscheidungsunfreudigkeit auch noch die Germanistik hinzugenommen hatte. Doch Jean, also in der französischen Variante, schlußfolgerte er, schien seiner Mutter zu verräterisch, wohl allzu leicht hätten die auf ihre protestantisch-moralischen Grenzwerte bedachten Kollegen Schlüsse ziehen können auf ihre Schwäche für Fehltritte ins katholische Ausland. Da es ohnehin ihr Geheimnis bleiben sollte, gab sie ihm den Namen Elias, den sie für andere ungeahnt in ihrem nach wie vor schwülen Herzen tragen konnte und dabei ihren Landsleuten auch noch Ehrerbietung erwies, indem sie der phonetischen Namensähnlichkeit zum großen Sammler und Dichter des Kalevala auch noch dessen Vornamen einfügte. Elias Rönnrot, mit diesem Namen würde ihr Sohn, mag sie sich gedacht haben, besonders in dem Teil Finnlands gut vorankommen, in dem die meisten Finnen Finnisch nur selten beherrschten und sich der einstigen Herrschersprache Schwedisch zu bedienen gezwungen waren. Sie hatte wohl nicht bedacht, daß sie ihren Bastard in ein im Osten gelegenenes Internat würde stecken müssen, in dem ihm endgültig die richtigen Flötentöne beigebracht werden sollten, die ihm beizubringen sie nicht beherrschte, da er früh eigene Musikvorstellungen entwickelt hatte und sich den ihren ständig verweigerte, die sich aus höfisch-rituellen zusammensetzten, wie sie an des Sonnenkönigs goldenen Käfigen von Versailles musiziert wurden. Dort brachte man sie ihm tatsächlich bei, wenn auch in abschätziger Form durch Lehrer und Mitschüler, die sich über ihn lustig machten allein wegen seiner miserablen Leistungen in der Sprache seines Heimatlandes, auf das man gefälligst sehr stolz zu sein hatte. So nahm er zwar mit erheblichen Schwierigkeiten die sprachlichen Hürden seiner Nation, um schließlich doch noch zu einer Hochschulreife zu gelangen, aber er ward durch seine gesammelten Erfahrungen darin geübt, nicht zu wissen, welchen Weg er nehmen sollte. Nachdem ihn die Volksgendarmen nahezu grenzenlos durchgewunken hatten, wobei er meinte, von der amtsausführenden uniformierten Frau wiedererkannt worden zu sein, der er permanenter Grenzüberschreiter gegenüber einmal anläßlich einer etwas zu ausgiebigen Kontrolle geäußert habe, sie sei nicht nur gewissenhaft, sondern trotz ihrer grauen Gewandung sichtbar wohlgestaltet, hielt er im Land der Bundesdeutschen zunächst an und ließ den picabiaschen Prozeß in sich austoben, welche Richtung er nehmen solle. Die seiner Orientierung nächstgelegene wäre die alte Reichsautobahn nach Braunschweig und Hannover und von dort aus direkt weiter in den freien Westen gewesen. Doch gleichzeitig rührte ihn der Wunsch auf, die Gelegenheit zu nutzen und den weiter südlich gelegenen alten neuen Wohnort der Frau aufzusuchen, die den gemeinsamen kürzlich verlassen und zu ihren Eltern zurückgekehrt war. Wütend war sie geworden, als er sich geweigert hatte, ihr, wie sie es nannte, ein Kind zu machen, und zwar mit Liebe. Denn dies, hatte sie noch angefügt, könne ihre Ehe retten. Das mit Liebe machen hatte er noch verstanden, aber ob ein solcher Rettungsanker namens Kind auch Halt geben könnte in diesem flachen Wasser, in den sie ihn auswerfen wolle und dann auch noch unter Berufung auf einen lieben Gott, dem ihre Erzeuger huldigen würden, diese Frage zu stellen hatte er dann sich erlaubt. Daraufhin hatte sie sich in deren Hort, unter die Fittiche ihrer gottesfürchtigen Eltern zurückgezogen. Der Gottesfurcht war sie zuvor eher weniger zugeneigt gewesen, aber sie muß sie sich offensichtlich zugelegt haben, nachdem er mal wieder ein paar Flaschen Korn nach Suomi gebracht hatte, im Land ein probates Zahlungsmittel für verlängerte Mitsommernächte, und sie während seiner Abwesenheit einigen Zeugen Jehovahs oder ähnlich gelagerten Verfechtern des Kindes als soziales Klebemittel die Tür nicht nur geöffnet hatte. Vielleicht würde sie ihm das erklären können, das mit dem Bindemittel aus gemachter Liebe, wenn er in friedlicher Absicht vor ihrer Tür stünde. Doch dann entschied er sich gegen die südliche Orientierung. Der Drang dorthin, wo das Dunkel herkommt, wo nicht nur der Liebe Sonne untergeht, in den Untergang all dessen, was ihn das Leben bislang gelehrt hatte, hatte obsiegt. Er nahm die Autobahn, er würde nach Belgien fahren. Es besteht die Absicht einer Fortsetzung.
Die Quintessenz des Buches Vor ein paar Minuten in meinem Elektrobriefkasten gelandet, klebe ich Freund und freudvoller Besitzer einiger Exemplare des Künstlerbuches die Einladung von Rosa M Hessling gerne auf meine kleine Litfaßsäule: Sehr geehrte Damen und Herren, wir möchten Sie herzlich zur Eröffnung der Ausstellung: am Freitag, dem 30. März 2012, um 19 Uhr in den Projektraum des Deutschen Künstlerbundes, Rosenthaler Straße 11, Berlin-Mitte einladen. «Das Künstlerbuch erschließt sich in der Sequenz erst in der Zeitdimension. Der Unterschied zum herkömmlichen Buch besteht einzig und allein darin, daß es sich hier um eine Sequenz des Bildens handelt und daß die Gesamtheit Künstlerbuch ein eigenständiges Werk darstellt.» aus: Künstlerbücher, mehr als fünf Sinne: ein Gespräch mit Guy Schraenen, in: Lutz Jahre: Unlimited Edition, Salon-Verlag, Köln 2001, S. 276 Im Frühjahr lädt der Deutsche Künstlerbund seine Mitglieder und Gäste ein, Künstlerbücher in eine Studioausstellung einzubringen. Bücher beschäftigen Künstlerinnen und Künstler schon immer; das Künstlerbuch stellt eine eigenständige Gattung in der bildenden Kunst dar. Die Bandbreite und Erscheinungsform von Künstlerbüchern ist groß: mit Text, ohne Text, mit Farbe, ohne Farbe, als Unikate oder Multiples, in kleinen oder größeren Auflagen, in Buchform, als Blättersammlung in einer Schachtel, als Leporello oder auch ganz anders — aber immer mit dem Verweis auf das Buch. Die Anfänge des Künstlerbuches liegen in der Verknüpfung von bildender Kunst und Literatur (z. B. William Blake, Edouard Manet, Pierre Bonnard, Hermann Struck). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts experimentieren zunehmend Künstlerinnen und Künstler — allen voran die Dadaisten — mit dem «Objekt» Buch, wobei nicht nur die ursprüngliche Intention eines Buches, sondern vor allen Dingen die Erscheinungsform Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung wurde. Dabei wird die klassische Form des Buches aufgebrochen, moduliert, verändert und modifiziert. Das Ausstellungsprojekt Künstlerbücher ist Aufforderung und Anregung wie Sammlung zugleich, um dem Betrachter einen eigenen Blick auf die Möglichkeiten und das Facettenreichtum von zeitgenössischen Künstlerbüchern zu geben. Eine Besonderheit der Ausstellung ist sicherlich, daß das Blättern in vielen der Werke möglich ist. Konzipiert wird die Ausstellung von Carola Willbrand (geb. 1952) und Katharina Jesdinsky (geb. 1972). Die beiden Künstlerinnen arbeiten sowohl inhaltlich als auch formal sehr unterschiedlich: Carola Willbrand arbeitet vorzugsweise mit der Nähmaschine. Auf Materialien des täglichen Gebrauchs (z. B. Tapeten) gestaltet sie Zeichnungen und Texte über das tägliche (Frauen-)Leben. Diese Buchformate können durchaus performativen, skulpturalen Charakter einnehmen. Katharina Jesdinsky gründete 2005 einen kleinen Verlag für Künstlerbücher und eine Werkstatt für Buchdruck (Umtriebpresse, Verlag für Künstlerbücher und Editionen). Teilnehmende Künstlerinnen und Künstler: Jochem Ahmann | Susanne Ahner | Bettina von Arnim | Monika Bartholomé | Johanna Bartl | Horst Bartnig | Christoph Bartolosch | Matthias Beckmann | Hella Berent | Georg Bernhard | Monika Brandmeier | Silvia Klara Breitwieser | Claudia Busching | Karlheinz Bux | Costantino Ciervo | Bignia Corradini | Joachim Czichon | Heinz H. R. Decker | Claudia Desgranges | Madeleine Dietz | Stefan Eberstadt | Dörte Eißfeldt | Siddhartha Y Fongi | Helga Franz | Stephan Fritsch | Anett Frontzek | Bernhard Garbert | Rolf Gentz | Johannes Gervé | Rolf Giegold | Harald Gnade | Karl-Heinrich Greune | 431art – Torsten Grosch | Rita M. W. Große-Ruyken | Marion Gülzow | Barbara Hammann | Ingrid Hartlieb | Heinz Hausmann | Susanne Hegmann | Ulrich Heinke | Marikke Heinz-Hoek | Thomas Helmbold | Dietrich Helms | Bernd Hennig | Mario Hergueta | Charlotte Herzog von Berg | Rosa M Hessling | Setsuko Ikai | Nikola Irmer | Constantin Jaxy | Birgit Jensen | Katharina Jesdinsky | Horst Egon Kalinowski | Petra Kasten | Joachim Peter Kastner | Annebarbe Kau | Barbara Keidel | Ulrike Kessl | Jean Kirsten | Reinhard Klessinger | Wolfgang Kliege | Beate Klompmaker | Doris von Klopotek | Bernd Klötzer | Kirsten Krüger | Ulrich Langenbach | Jürgen Liefmann | Julia Lohmann | Reiner Maria Matysik | Uwe Meier-Weitmar | Katharina Meldner | Nanne Meyer | Reiner Nachtwey | Susanne Nickel | Klaus Noculak | Karin Radoy | 431art - Haike Rausch | Bettina Rave | Jane und Werner Reichhold | Myriam Resch | Dagmar Rhodius | Rolf Rose | Ulrike Rosenbach | Susi Rosenberg | Karin Sander | Hella De Santarossa | Nora Schattauer | Sigrid Schewior | Birgit Schlieps | Andreas Schmid | Klaus Schmitt | Michael Schoenholtz | Eva-Maria Schön | Johanna Schwarz | Helmut Schweizer | Kerstin Seltmann | Roger David Servais | Robbin Ami Silverberg | Dietlinde Stengelin | Roland Stratmann | Markus Strieder | Volker Thies | Myriam Thyes | Alexandra Trencséni | Wolfgang Troschke | Maria Vedder | Klaus Vogelgesang | Bernd Völkle | Herbert Wentscher | Hans Wesker | Suse Wiegand | Carola Willbrand | Barbara Wille | Andrea Zaumseil | Bernd Zimmer | Isabel Zuber Eröffnung: Freitag, 30. März 2012, 19.00 Uhr Dauer: 30. März bis 1. Juni 2012 Öffnungszeiten: Dienstag – Freitag, 14.00 – 18.00 Uhr und nach Vereinbarung Ort: Deutscher Künstlerbund – Projektraum Rosenthaler Straße 11 | 10119 Berlin Telefon: +49 (0) 30 26 55 22 81 Deutscher Künstlerbund
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