Neuwort Dingsucht Dingsucht lautete der Titel einer Ausstellung der Münchner Künstlerin Astrid Roeken. Dieser von ihr geprägte Begriff gefiel ihr so gut, daß sie meinte, er solle im allgemeinen Sprachgebrauch Niederschlag finden. Also beantragte sie bei der Mannheimer Duden-Redaktion die Aufnahme ins Standardwerk. Die Antwort auf dieses Begehren wollte das Laubacher Feuilleton seinerzeit seinen Lesern nicht vorenthalten, schließlich sei sie doch ein Lehrstück dessen, wie die deutsche Sprache entstehe: «... Neuwörter werden in den Duden aufgenommen, wenn sie eine gewisse Verbreitung gefunden haben und allgemein bekannt geworden sind. Wir werden Ihren Vorschlag zwar weiterleiten, müssen aber abwarten, ob er sich über regionale Grenzen hinaus durchsetzt.» Das war in den Neunzigern. Eine Sucht nach den Dingen scheint sich seither nicht eingestellt zu haben. Möglicherweise hat das Ding an sich keinen Wert mehr, da es vom neudeutschen Tsunami, altdeutsch Erdbebenwelle, der Inflation, des zunehmend Wertlosen ins Landunter der Bedeutungslosigkeit gerissen wurde. Vor lauter angeschwemmten Einheitspröll (Mir han Mahnde voll Pröll fortjerumb.) sieht niemand mehr etwas in den niederen, prekär geratenen Landen. Es kann allerdings auch daran liegen, daß der Duden totsprachreformiert ist und er selbst längst in der Vorhölle oder -halle des Wortmuseums unter bedrohte oder seltene Wörter der Einbalsamierung harrt.
Eingepiekste Verblendungen Gibt es eigentlich noch nicht tätowierte Zeitgenossen? Ich komme nicht nur deshalb darauf, da innerhalb der Bestenliste meiner blutigen wie geistigen Verwandschaft die Die Windrose • Rose des vents nicht nur die einsame Spitze behauptet, sondern unaufhörlich höher klettert im Geäst des allgemeinen Gefallens und Stubenzweig einige Male in die Berichterstattung über den Klickerklamauk hinaus hineingesehen hat. Kaum ein Arm zeigt sich noch undekoriert. Mir scheint, die jungen Leutchens haben allesamt Angst vor der puren Nacktheit, als ob sie sich rasch etwas überziehen möchten, wenn die überzeugende Postbotin vor der Tür steht. In den fünfziger Jahren und eine ganze Weile noch ff. der hiesigen Aufklärungsbreiten war das der Fall, wenn es zu dieser Zeit auch noch ein Bote und keine dieser heutigen gehetzten Elfen war, wie eine bei mir immer wieder mal läutet und ich mich gezwungen sehe, meine Nacktheit zu verbergen. Auch in mir als einem, der eigentlich froh darüber sein müßte, daß mit dem Heranwachsen seiner Generation die blanke Haut kein protestantisches Schreckgespenst mehr war, steckt offenbar noch immer die Sittlichkeitsmethoderie des Gestern. Aus einer anderen Perspektive betrachtet könnte ich auch zu dem Schluß kommen, die sogenannte Moderne sei wieder im Abmarsch, bevor sie überhaupt angekommen ist. Und richtig, mit der hat der Mensch an sich es nicht. Beton brut zum Beispiel ist etwas unsäglich Häßliches, das kommt seinem äthetischen Empfinden nicht gleich. Also hängt er den Zement zu. Verblendung wird das genannt. Halb Einfamlienhaus-Norddeutschland ist auf diese Art künstl(er)isch euphemismusisiert. Erträgt die Menschheit es nicht, ungeschönt durch die Welt zu gehen? Erst stopft sie sich die Behausungen voll mit allem erdenklichen Tinnef. Doch nun paßt nichts mehr hinein in die Wohnungen an diesem chinesischen Plastik-Müll oder, bei bioökogefördertem Bewußtsein, zu Tode verurteiltem Hölzernen aus dem Regenwald oder tibetanischen Gebirgsbachsbetmühlen. Also wird die eigene Haut zu Galerie erklärt. Weil die Epidermis ohne Illustration so leblos ist. Bei den vielen Fußballlartisten aus Polynesien verstünde ich das noch, schließlich gehört die ornamentierte Haut zu deren geisterreichen Kultur, es ist sozusagen ihr personaler Ausweis, zeigt ihre Herkunft, neuerdings Identität genannt. Bei Dunklerhäutigen ist's mir noch eher erklärlich, nicht nur wegen der entfernteren Verwandschaft, sondern auch, weil man's nicht ganz so arg sieht. Als ich noch jünger war, ordnete man diese gepiekste Haut der Kategorie Knast zu, allenfalls der unseres Jüngsten, der weniger zu den Piraten als vielmehr zu Störtebeker gehört, seinem (mittlerweile) einstigen Vorbild. Dessen Schwester denkt seit einiger Zeit darüber nach, sich das Arschgeweih entfernen zu lassen, das ihr als Siebzehnjähriger unbedingt unter die Haut gehen mußte (und Mutti erst bei Volljährigkeit gewährt wurde), weil es eine Mode war. Ich vermute, sie läßt niemanden an sich heran, weil sie an die Schleifmaschine denkt, die dabei an ihren Leib soll. Oder vielleicht an die Kosten, die das Laserschwert verursacht beim Weghauen der Törichtheit eines Backfischs. Ein unbedingtes Muß scheint es offensichtlich dennoch geworden. Wird demnächst öffentlich geschaßt, wer keine Freunde bei Asbook hat und ungekennzeichnet durch die Straßen geht?
Sein oder Nichtsein Wir wechseln den Aufführungsort des Geschehens. Wir gehen ans Theater, zur darstellenden Kunst Deshalb tritt die Kopfschüttlerin wiederum auf Seite 1 auf. Ich mißbrauche sie quasi als Avantgarde für mein sperrfeuriges Gemotze. Den von Lubitsch als running gag inszenierten Hamlet habe ich als Symbol herangezogen, da er das statuarische Darstellungsverhältnis der Kunst seiner Zeit abruft. Allerdings hat Lubitsch den spielerischen Bruch mit der (Un-)Vergänglichkeit allen Seins oder auch nicht gleich ein wenig mit eingebaut, indem er den polnischen Offizier immer dann aufstehen, die Reihe beunruhigen und gehen läßt, wenn dieses philosophische geflügelte Wort vom Hiersein oder lieber im Dasein der Garderobe der Dame ertönt. Überhaupt hat dieser großartige Regisseur in diesem grandiosen, von intellektuellem Witz beinahe überbordendem Film vieles abgefordert, das für die Künste schlechthin erforderlich ist: Erkennen durch genaues Hinschauen, durch Wissen. Gerade an diesem Film habe ich in besonderem Maß erfahren, wie bedeutsam Bildung, also Geschmacksbildung — Geschmackssache sagte der Affe ... — ist, will man die Seife schmecken, hinter diese vielen Anspielungen steigen, die nicht erkennbar werden, hat man seinerzeit nicht täglich Zeitung und davor alle die Bücher gelesen, die zu einem Unterscheidungsvermögen verhelfen. Sein oder Nichtsein hatte ich in den Siebzigern auf Video aufgenommen. Ein Freund selig, der ein paar Jahre später regelmäßig nach München kam, um dort vor Studenten zu reden und auch mit ihnen zu sprechen, bevorzugte meine Wohnung als Schlafstätte, und nach der einen oder anderen Flasche Wein forderte er mich ebenso regelmäßig auf, eben diese Kassette einzulegen. Alleine durch diese Tatsache ward ich so gezwungen, den Film zigmal anzuschauen. Das eher Unangenehme für mich war dabei, daß er ihn bereits hundertmal gesehen hatte und immer dann, wenn seiner Meinung nach sich besonders erwähnenswerte Passagen ankündigten, er dem Flüsterer in seinem kleinen Bühnenkuckloch von unten gleich ganze Sätze vorwegsprach. Das hatte zur Folge, daß ich Sein oder Nichtsein in Abwesenheit des Freundes noch mehrere Male sehen beziehungsweise hören mußte. Der vorteilhafte Begleiteffekt war der, aber auch die letzte Anspielung, nahezu jeden Nebenton dann wirklich verstanden zu haben, der mir ansonsten vermutlich verborgen geblieben wäre. So gesehen hat das nach heutiger Didaktik verwerfliche oder auch längst wieder aufgenommene Prinzip des einpaukerischen Drei-drei-drei, Issos Keilerei manchmal durchaus Vorteile. Ohne diesen penetranten Souffleur wäre ich möglicherweise gar nicht auf die Idee gekommen, mir das bis zur letzten Erinnerlichkeit immer wieder anzusehen und zu -hören und dann tatsächlich, exact im altertümlichen Sinn des Begriffes, zu hinterfragen. Es geht einher mit Cyrano de Bergerac. Als ich noch aus Berufung am und später dann über das Theater tätig war, habe ich das Stück von Rostand einige Male auf der Bühne gesehen. Nie hat es mich wirklich berauscht. Meistens empfand ich es sogar als langweilig, als eine dramatische, eine durchweg dramaturgische Banalität. Dann schleppte mich eine Dame ins Kino, in Le Schmachtfetzen. Das riß mich hin, weniger die Dame, die mehr nach Liebe strebte als der Film. Er war es, der in mir das Verlangen auslöste, mehr über den von Bergerac, über dessen Aufklärung in der Zeit des siècle de la lumiere zu erfahren, von dem ich meinte, es via Studium bereits kennengelernt zu haben. Ein anderes Tor öffnete sich. Ein neues Medium half mir beim Öffnen der Augen, die eigene Schläfrigkeit gewohnten Wissens zu vertreiben. Den oben erwähnten Hamlet wollen viele, die sich gebildet nennen, nach wie vor so sehen. Sie schauen am liebsten zurück. Das tut am wenigsten weh. Es ist so gemütlich. Bloß nicht das schöne alte Bild zerstören. In ihm muß man sich nicht bewegen. Kunst benötigt aber Bewegung, nur so können neue Sichtweisen entstehen. Hin und wieder wurde deshalb etwas zerstört, um es neu darzustellen. Dabei ist es unerheblich, ob der Inhalt bestehen bleibt und er von einer neuen Form, einem neuen Bild umgeben wird. Das Regietheater der siebziger und achtziger Jahre wird von vielen heutzutage so niedergebrüllt wie die Achtundsechziger. Viel Mist wurde gebaut. Doch es lohnt sich, in diesem pauschalisierten Scheißhaufen herumzuwühlen. Als Beispiel genannt sei der Hamlet von Peter Zadek mit dem unvergleichlichen Ulrich Wildgruber und der von mir nicht unbedingt übermäßig geschätzten, bis heute auf mich recht fade wirkenden Eva Matthes, die damals für (Jago-)Othello in Hamburg ihre Brüste über die Balustrade baumeln ließ. «Wider die Theaterverhunzer» schrien sie zu der Zeit auf, die Verhunzer der Gedanken und Ideen anderer. Als ob Herr Shakespeare oder seine von ihm geruf'nen schreibenden Geister oder auch nicht diesen Schloßspuk selber erdacht und nicht aus altnordischen Sagen abgeschrieben hätten. Der Gedanke all dieser Versteher von Alles-ist-Kunst oder Kunst-für-alle ist offenbar und bleibt unverrückbare Geschichte: Nie sollst du mich befragen,Von gestern. Aber nur ins Morgen zu blicken, ohne zu wissen, was hinter einem steht, zusammengepulkt worden ist, das ist nicht minder fahrlässig. Man wird, vor allem als Expertin mit Herz für Kunst, mit dieser Halbwertzeit des Wissens leicht zum Gespött der halben, sogenannt kultivierten Welt.
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