Die Kunst, deren Herz.

Der ägyptische «Schicklgruber» der documenta 12, so genannt vom Photographen © Martin Behr.

Ich weiß nicht so recht, beste Kopfschüttlerin. Nachdem Carolyn Christov-Bakagiev, die Kuratorin der diesjährigen documenta irgendwie alles zur Kunst erklärt hat, ausgenommen das von Stephan Balkenhol und Gregor Schneider, das bezüglich des Erstgenannten nicht zu ihrer christnahen (?) Programmatik am Rand des Geschehens gehört, muß ich wohl nicht eigens nach Kassel fahren, um die Kunst der Welt zu erkunden. Das, was die Dame da zum Teil gar zensorisch verkündet, ist alles längst dagewesen auf dieser Dokumentation der Weltkunst. Angefangen sei mit der mittlerweile sogar im Flugsand des Allgemeinsprachguts, allem voran wirtschaftlicher Prosperität, fast so ein bißchen falsch verstandener Prosperos' Traum, aufgegangenen Begriffsblümchens revolutionär: die ganze Stadt zum Kunstwerk zu erklären. Ein wenig klingt das so alttönend wie das Gesamtkunstwerk wagnerscher Prägung. Auf jeden jeden Fall ist es so alt, wie Joseph Beuys tot ist. An seinen mittlerweile hochgewachsenen 7000 Eichen der bereits 1982 hunderttägigen documenta 7 reiben sich selbst ältere Kunstsäue, und auch danach waren beileibe nicht nur das Fridericianum oder die Orangerie beziehungsweise die Karlsaue Standorte der zeitgenössischen bildenden Künste. Das ist so erkenntnisreich alt wie der Ball rund ist oder der Mensch altert. Aber die Frau erklärt es zur Novität wie etwa die Dame aus Asien, die sich mit einem Hund einsperren läßt wie weiland Joseph Beuys mit seinem Coyoten. Es ist schon ein bißchen arg: eine Kuratorin, Museumsdirektorin und, allem voran, Kunsthistorikerin, die sich in selbst der jüngsten Geschichte ihres Bereichs nicht auskennt. Zwangsläufig fällt mir der duchampssche Flaschentrockner ein, der in den Achtzigern quasi als Multiple-Rad neu erfunden wurde, da die jungen Leutchen offenbar nicht nicht einmal Spuren der Historie kannten, Ein Student einer Lehranstalt darf das, wie einst zu mir, vielleicht gerade noch sagen: Ich lese nicht, ich mache Kunst. Jemand, der hauptamtlich einen Blick über das künstlerische Geschehen der Welt vermitteln soll, zu dem eigens dafür Hunderttausende anreisen, muß für solche Handlungsweisen eigentlich mit Platzverweis bestraft werden.

Da wäre die Stadt als solche eher noch ein Grund, denn sie hat durchaus ihre Reize, wenn man nur genau genug auch in die Seitenwege zu schauen bereit ist und, wie das bei mir der Fall ist, obendrein noch zu Gast bei Freunden sein darf, die diese Stadt glücklicherweise leicht ver-, wenn auch nicht überfremdet haben. Der geistigen Gundhaltung dieses am Rand des ehemaligen Zonenrandgebietes erwachsenen Menschenschlags muß man ja nicht unbedingt Gehör schenken, denn dann erführe man möglicherweise zu eindrücklich Kunst von allen. Ich merkte zwar an, Kunst sei, was gefiele. Aber ich war nie und bin auch nach wie vor nicht der Meinung, jedwedes Geschehen sei darunter zu verstehen. Solches Denken macht selbst die Artisten in der Zirkuskuppel ratlos. Da verblassen gar Regungen wie während einer der vergangenen Documenten, zu der Kunst und deren Verbindung zum Markt, die heilige Sponsorität ausgerufen worden waren, die Künstler selbst sich dem entgegentreten gezwungen sahen. Schon wieder so ein alter Hut wie der des großen Fußballphilosophen mit dessen Weisheit vom runden Ball.
Du Runder, der das Warme aus zwei Händen
im Fliegen, oben, fortgibt, sorglos wie
sein Eigenes; was in den Gegenständen
nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie,
zu wenig Ding und doch Ding genug,
um nicht aus allem draußen Aufgereihten
unsichtbar plötzlich in uns zu entgleiten:
noch unentschlossener: der, wenn er steigt,
als hätte er ihn mit aufgehoben,
den Wurf entführt und freiläßt —, und sich neigt
und einhält und den Spielenden von oben
auf einmal eine neue Stelle zeigt,
sie ordnend wie zu einer Tanzfigur,
um dann, erwartet und erwünscht von allen,
rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur,
dem Becher hoher Hände zuzufallen.
Rainer Maria Rilke: Der Ball, aus: Die Gedichte. Der neuen Gedichte anderer Teil (1908), Frankfurt am Main 1993, Seite 585f.
Fußball ist keine Kunst. Jedenfalls nicht in der Form, die meistens gezeigt, dargestellt wird wie etwa durch den Sein oder Nichtsein verkündenden Hamlet an der Rampe der vierziger Jahre, nahezu ohne jede Bewegung. Kunst, wie sie seit einiger Zeit verstanden wird, aus der Tradition des den Machthabern entfernten Handwerks, setzt eine originäre Idee voraus beziehungsweise deren Umsetzung, meinethalben Kreativität. Das zu erkennen, dazu gehört Unterscheidungsvermögen. Das sei Geschmackssache, sagte der Affe und biß in die Seife. Es bedarf also eines einmal erworbenen Geschmacks, um zwischen Currywurst und Labskaus unterscheiden zu können.

Im gestern eröffneten Kassel wird offensichtlich Alles-ist-Kunst, globalisiertes Allerlei gezeigt, alles in einen Topf, Kultureintopf, wie mir seit einiger Zeit sich aus dem Umlauf dieser Kunst entfernenden Privatier noch in Betrieb befindliche Sachverständige erklärt haben. Das halte ich für geschmacklos wie einen nach altbekanntem, nichts wirklich Originäres zulassenden Geschmack, etwa den eines eingedeutschen Espressos, so etwas Verlahmtes wie ein Currygericht extra scharf aus Thailand, das in der mitteleuropäischen Großtiefkühlküche des Supermarktes für den Geschmack zusammengerührt wird, der einen anderen nicht kennt.

Kunst ist, was gefällt, habe ich geschrieben. Da muß ich etwas zurechtrücken: Sie ist keinesfalls etwas Beliebiges, das jedem gefallen muß und deshalb kulturpolitisch vereinheitlicht gehört. Es existieren immer noch eigenständige Gegenden mit Menschen unterschiedlicher Auffassungen von dem, was Kunst sei oder auch nicht. Ein wenig Bereitschaft zur Bewegung an andere Denk- oder Nicht-Orte möchte durchaus weiterhin sein. Doch da die mir dieses Jahr in Nordhessen nicht geboten zu sein scheinen, sich keine Erkenntnisse anbieten, die mein Denken erneuern könnten, bleibe ich an Ort und Stelle im Schaukelstuhl sitzen. Sicher, ich könnte ihn gleich vor den Ägypter stellen (lassen) wie all die Jahre, nach der Erschöpfung von den schier endlosen Rundgängen durch Kunst in Kassel, und mich vom immer herzlichen und flinken Schicklgruber quasi globalisiert bedienern lassen. Aber ich muß wirklich nicht, wie Frau Braggelmann das gerne nennt, mit der Sackkarre auf die Bühne transportiert werden. Ich bin nicht Bazon Brock. Bei dem alten Kunst-Rock'n'Roller geht's nämlich noch, da sieht sogar Mick Jagger alt aus.
 
So, 10.06.2012 |  link | (2945) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges


kopfschuetteln   (11.06.12, 00:34)   (link)  
ein kleiner gemeinsamer nenner ist, daß kunst nicht jedwedes geschehen ist.
fußball erst recht nicht, im millionenspiel.
was ohne horatio, was mit dem scheitern hamlets verbunden ist - wäre es nicht so geschrieben, anders geschrieben - es ist aber eben so, daß man sich die beste beschreibung erhalten hat.
hamlet, ausgerechnet der ...















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