Plädoyer für eine Kultur des Nichtreisens

Der uniformierte Bordlautsprecher des preiswerten Wochenendfliegers verkündet seinem Transportgut, in wenigen Minuten überfliege man Lyon. Er sagt es, als ob dies die letzte Möglichkeit wäre, eine Großstadt von oben zu sehen. Deshalb wohl verlängern sich die Hälse von der Gangmitte bis hin zu den panzerverglasten Gucklöchern. Dabei haben die meisten ohnehin die der Moderne der Siebziger vorgelagerten Grillstationen von Martigue und anderen in den bereits jetzt schon eingetrockneten Köpfen. Am Flughafen von Mariagne werden sie aus der Maschine gekippt, um an diesen Ort weitergekarrt zu werden, von dem der Internetprospekt eine Abwechslung von Spanien verspricht. Denjenigen, die sich im Reisebüro von einer Dame, die sich während ihrer schönsten drei Wochen des Jahres am liebsten in der Türkei von allen Seiten braten läßt, aber machmal eben bei arte reinschaut, haben beraten lassen, wurde von einem Leben wie Gott in Frankreich erzählt, etwa so wie in den Köcheleisendungen der Tochter von Oswald Wiener, der einst Mitteleuropa verbessern wollte, dann aber in Berlins Gastronomie gezwungen wurde, weshalb wohl der Nachwuchs als praktische Kochphilosophin sich au terroir in den kulinarischen Abenteuern tummelte, die im Land selbst unverbrüchlich geschätzten Grenouilles aus Tierschutzgründen wohlweislich meidend, schließlich schauen da auch Deutsche zu.

Yves Cohn-Thibault aus Apt, den es ins Barbarische, das zwar bereits nördlich von Lyon beginnt, den es aber gar dorthin vertrieben hatte, wo Charlemagne vor der Vereinigung im Namen Christi die wilden nordöstlichen Sachsen gemetzelt und auf diese Weise unterworfen hatte, schrieb mir, wie handgemalt, darunter die Colette-Sätze, die er immer lese, wenn er ein erstes Gewürz der Provence in seinem Geschmackskino haben wollte: «Senke dich langsam, wenn du zu den Menschen willst, denn je höher du fliegst, desto kleiner erscheinst du jenen, die nicht fliegen können. Die Menschen aber ersehnen das Gegenteil.» Er schwebte dabei allerdings in einem anderen Luftbild als unsere Urlauber, denen An- und Abreise sowie der Aufenthalt mit allem inclusive auch nicht mehr kosten darf als die gezielten Lebensmittelunfälle in deutschen Landen frisch auf den Tisch.
«Die Wassertiefen von Mittelmeer und Étang de Berre wetteifern um das satteste Blau. Klecksig heben sich ihre Intensitäten voneinander ab, zeigen auch mal Kontur und scheinen sich zu einem großen monochromen Gemälde ordnen zu wollen; Wasserfarben im wörtlichen Sinn. Ein erster Vorgeschmack auf die Blaunuancen in Paul Cézannes Bildern. Reckt sich da nicht ein Feuerblock vor der diffusen Alpenwand empor, hinter der sich Turin und Mailand verstecken? Nein, das Licht der Westsonne bringt den kalkweißen Abschluß der Montagne Sainte-Victoire um diese Zeit zum Glühen.
Das ist er also der heilige Siegesberg, an dessen Fuß sich einst Marius gegen die Teutonen stellte und gewann. Wer Geschichte als martialische Mala auffaßt, freut sich daran. Wer an Peter Handkes melancholische Lehre denkt, hat ein Bild von pessimistischer Magie vor Augen.»
Unter Siegesberg verstehen andere wieder etwas anderes, und er heißt auch anders, wenn er auch gar nicht weit entfernt liegt vom anderen Dichterberg, aber egal, das klingt ja alles irgendwie gleich. Will man dorthin, landet man am besten auch in Mariagne, nur daß es dann entgegengesetzt in nordöstlicher Richtung weitergeht. Allerdings nehmen die meisten ohnehin den Wohnwagen, bis unters Dach gefüllt mit Dosenfutter, um dorthin zu gelangen. Dort geht's ähnlich zu wie vor Martigues, nur daß die Massen hier nur eines wollen: den Anblick, wie sie sich hinaufquälen. Melancholische Lehre oder pessimistische Magie, je nach Blickwinkel.

Ich habe Aix immer gerne ignoriert. Mir war das meist zu fade dort, zu sehr Trampelpad. Aber der Freund schätzt es sehr. Allerdings hat er offensichtlich das getan, was ich von anderen immer fordere und nicht immer hinkriege: er hat sich mit der Örtlichkeit beschäftigt. Dabei darf ich zu meiner Entschuldigung wohl anmerken, daß er sich als quasi Halbeinheimischer auch leichter tut. Seine Erfahrungen sind andere, wenn auch er zugestehen muß: «Die Nordflanke des Cours gleicht einer Perlenschnur von Cafés, Parfümerien und Shopping-Center, die sich unmerklich nach hinten in die Altstadt hineinmaulwurfen, um an Konsumfläche zu gewinnen.» Überhaupt weicht sein Bild in einigen Partien vom meinen nicht allzu sehr ab:
«Besonders in den Sommermonaten ist der Cours ein Laufsteg für die bis zur ätzend selbstbewußten Arroganz austrahlenden, eleganten Französinnen und die vielen blonden Austauschstudentinnen aus Deutschland mit Hautproblemen, die diese catwalkende Dynamik durch mißglückte Nachahmung wenigstens rustikal auflockern. Aber im Süden blond zu sein, bedeutet für die freie Balz fast schon den vorläufigen Vorteil einer Freikarte. Blond steht für die Sonne, und die kann überhaupt nicht dunkel sein. So treffen sich Schein und Beschienenes in mediterraner Kollision.
Natürlich kennt man das legendäre Literaten- und Künstlercafé Les Deux Garçons mit der Hausnummer 53. Kein Reiseführer läßt sich den ewig aus anderen Reiseführern kolportierten Hinweis entgehen.
Hier gingen sie alle aus und ein, die Granets, die Cézannes, die Zolas, die Gasquets und Vollards — die einstigen wie die heutigen, die glauben, den Pegasus bestiegen zu haben. Wer hier seinen Kaffee bestellt oder beim Pastis den Tag ausklingen lässt und die Nacht einläutet, macht aus kulturell-nostalgischer Hinsicht nichts falsch, muß sich aber vorwerfen lassen, die Nähe zu den Großen nur deshalb aufzusuchen, um zu signalisieren, daß man sich hiermit demonstrativ auf sie beriefe. Menschen ohne dieses Vorwissen haben es da leichter. In ihrer ignoranten, snobfreien Art beklagen sie sich nur über die hohen Preise für plempigen Kaffee.
Vor den gegenüberliegenden Stadtvillenfassaden kann sich die plakative Variante mediterraner Lebenart also voll entfalten. Wuselig und laut, stolz und elegant. Selbstbewußt zeigen die Nochzuhabenden ihre optischen Stärken. Das Handy genannte Portable signalisiert Erreichbarkeit und, fein mit der Hand an der Backe verschweißt, auch Anschmiegebereitschaft.
Mit distinguierter, fein ironisierter Servicebereitschaft balanciert der Kellner im Les Deux Garçons das Tablett mit den Cafés noirs und dem obligatorischen Wasser, stellt eine übersichtliche Pyramide mit Madeleines auf den Tisch und sagt im Wegdrehen: Voilà!
Ja, da wird sie spürbar, die verlorene Zeit. Auf der Suche nach ihr wirken die Madeleines wie die Proustsche Einladung, wichtige Ereignisse der Vergangenheit zu erinnern und neu zu beleben. Ein Löffelbisquit zum Eintauchen auch in Paul Cézannes Welt? Immerhin bescherte der Genuß eingetunkter Madeleines Marcel Proust damals die Initialzündung, mit einem fünfzehnbändigen Roman die Weltliteratur zu bereichern.»
Ach, Cézanne. Das nach ihm benannte Museum verbinde ich eher mit einem Andenkenladen für Touristen, die der Unterschied zwischen Brioche und Kuchen eigentlich genausowenig interessiert wie der eines gemalten oder gedruckten Bildes. Oder sollte ich über die Grenzen des Museumsshops nicht hinausgelangt sein? Auf jeden Fall habe ich in diesem dichten Wald von Reproduktiönchen keine Bilder gesehen. Aber vielleicht hat mir meine Abneigung den Blick verstellt. Doch ein anderer war dort und hat entschieden mehr gesehen, darunter gleich eine Beziehung zwischen ihm und Rilke ausgemacht.

Ich glaube, mir mangelt es heute an Romantik. Sogar die landläufige kann einem vergehen bei solchem Reiserummel. Alle Welt will nur noch verreisen, möglichst weit weg, um dann dort das zu tun, was der Reisende zuhause ebensogut haben kann, weil längst bis ins tiefste Binnenland jedes Städtchen an einem Flüßchen mit Strandbars ausgestattet ist. Fortan werde ich für die Kultur des Nichtreisens plädieren.
 
Mi, 15.06.2011 |  link | (4737) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs


bosch   (15.06.11, 18:09)   (link)  
Du bist auf gutem Wege. Irgendwann wird auch der Letzte einsehen, dass diese ewige Reiserei zu nichts führt.


jean stubenzweig   (15.06.11, 21:09)   (link)  
Gewöhnungsbedürftig
ist's schon und auch leicht schwierig. Ersteres, weil ich's bereits in der Wiege getan habe, man es mit mir getan hat, kompliziert, da ich geographisch gegensätzlich doppelt residiere. Aber was da draußen mittlerweile abgeht, das drängt mich so langsam in eine innere Emigrationshöhle. Auf jeden Fall werde ich bei Übernahme der globalen Regierung als erster die Billigflieger abschaffen. Dann hätte ich nicht nur die Welt ein wenig bessert.


bosch   (18.06.11, 16:17)   (link)  
Meine Stimme sei Dir gewiss.


nnier   (16.06.11, 21:17)   (link)  
Das Reisen hat sich enorm verändert. Man bemerkt es z.B., wenn man zum erstem Mal in der Billigfliegerschlange steht und noch darüber nachsinnt, wie erstaunlich es doch ist, dass man für denselben Preis nach England fliegen kann, den man einige Jahre früher für eine furchtbare Billigbusreise zum selben Ziel gezahlt hat. Bis man dem Ehepaar hinter einem lauscht, welches gerade zum Besten gibt, dass es seine Tochter, die für ein Jahr in London lebt, nun bereits zum zehnten Mal besucht und für alle Flüge zusammen soviel ausgegeben hat wie man selber für den einen.

Oder wenn man sich an die Aufregung bei den eigenen Urlaubsreisen als Kind erinnert: Gleich sind wir da, wie mag es wohl aussehen, das Haus, der Campingplatz, und wie man am Autofenster klebte und nach draußen starrte, weil alles so ungewohnt aussah. Heute sehe ich viele Kinder gelangweilt und routiniert auf ihr Handy starren, was soll schon sein da draußen, und den Zielort hat man vielleicht schon längst im Internet begutachtet.

Schon seltsam, dass man den Eindruck hat, die Welt wird sich an vielen Stellen immer ähnlicher - die gleichen Geschäfte allüberall, Strandbars im Binnenland und Hofbräuhäuser im Norden, Kunstschnee im Flachland und Badelandschaften im Harz, und dennoch wird immer wilder durch die Gegend gereist. Was da wohl gesucht wird?


jean stubenzweig   (17.06.11, 14:15)   (link)  
Auf Sie, lieber Nnier
komme ich morgen zurück. Zur Zeit geht's nicht, und die Antwort dürfte auch etwas ausführlicher werden.


diplomuschi   (16.06.11, 21:19)   (link)  
Die Ostseestrandbar
ist auch nicht so hitzig wie diese immer so Feurigen da unten an ihrer Badewanne, und Wasser kommt außerdem immer auch von oben.


jean stubenzweig   (17.06.11, 12:56)   (link)  
Kühlungsborn sozusagen.















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