Enten(aus)flüge

Denke ich an Ente in der Nacht, nein, bin ich nicht um den Schlaf gebracht, weil mir zu üppiger Genuß eines solchen Geflügels in übermäßig fetter Sauce die Ruhe verleidet hätte. Mir fällt dabei das nächtliche Lyon-Nord ein, der einzige Ort, an dem sie mich je in Stich gelassen hat, meine Ente, Kurzform des häßlichen Entleins beziehungsweise übriggeblieben aus der poetischen Berichterstattung der fünfziger Jahre zum Thema Automobil. Nun, nicht eigentlich wirklich im Stich gelassen hatte sie mich. Es war 2001 eher ein Warnschrei, der Schrei einer vernachlässigten Kreatur, mit der man gefälligst behutsam umzugehen habe. Und sie hat ihren lautstarken Klagegesang freundlicherweise in der Nähe einer Raststätte abgegeben — restoroute Lyon-Nord. Denn die sind auf Frankreichs Autobahnen nunmal nicht so nahe aneinandergelegen wie etwa beim rechtsrheinischen Nachbarn. Vielleicht aber war's auch die Tatsache, daß es gen Norden ging. Und dies bedeutet für einen Deux Chevaux oder auch, deutschverständlicher, Döschewoh nunmal die grundsätzlich falsche Richtung. Der will immer in den Süden.

Also, dennoch: Lyon-Nord. Da kennen wir uns nämlich aus, die Ente und ich. Ich weiß, wo der Café-Automat steht, und die Ente, aus welcher Richtung der Pannenhelfer, der Dépanneur, kommt, nämlich aus dem Süden. Und dorthin will sie immer wieder zurück. Wahrscheinlich hat sie deshalb hier gestreikt. Denn Lyon ist gemeinhin als das Tor zum Süden bekannt. Und nicht das zum Norden. Der ist nunmal Feindesland.

Wir waren noch nicht lange ein Paar, wir beiden. Deshalb waren wir wohl noch nicht so mit unseren Eigenarten vertraut. Oder ich hatte zu sehr darauf vertraut, daß Enten grundsätzlich eigenartige Geräusche von sich geben. Ich hatte sie nicht ernstgenommen. Sie hatte sich dafür gerächt. Sie hatte einfach das Licht gelöscht. Nachts. Nicht das der Straßenlaternen. Sie hat das eigene Kraftwerk abgeschaltet. Mit einem ziemlich lauten Kreischen. Entenkreischen. Es klingt, als ob man ihr das noch ungelegte Ei aus dem Hinterteil raubt. Nun: Ein wenig hatte ich ja schon nach diesen seltsamen Lauten gelauscht auf dem Weg in südliche Richtung, ihnen keine weitere Bedeutung zugemessen. Wir würden dann schon in eine Werkstatt fahren nach der Ankunft.

Aber es ist einigermaßen unsinnig, im tiefen französischen Süden um die Mittagszeit einen Mechaniker auf ein ungutes Geräusch aufmerksam machen zu wollen. Ein Deux Chevaux, meinte er kurz vor dem Siesta-Wegnicken da unten in seinem verschnarchten Kaff, wo die Blech-Enten zu hunderten herumstehen —, mache immer irgendwelche seltsamen Geräusche. Man müsse das nicht so tierisch ernst nehmen. So stand sie dann lange Wochen unbewegt in ihrem Stall, der Garage am Centre Bourse in Marseille. Doch später sollten wir dann eben gemeinsam in Lyon-Nord stehen. Sie war ja immerhin so zuvorkommend, sich wenigstens erst zu einem Zeitpunkt teilweise selbst zu zerstören, als daß uns der Batteriestrom noch bis zur Raststätte vorantreiben konnte.

Wo wir dann standen. Der Tankwart rief den Dépanneur. Und ich trank einen nach dem anderen von diesen Sechs-Francs-Automaten-Espressi, die entsprechend schmecken: kaffeeähnlich. August war's. Sämtliche Wohnmobile Nord-Europas sowie ein paar bis unters Dach mit Kleidungsstücken und Kindern gepolsterte Kleinwagen, deren Insassen wohl allesamt gerade dem gegenüber Frankreich sehr viel kostengünstigeren spanischen Sonnenbränden entronnen waren, befanden sich auf dem Rastplatz Lyon-Nord — in dieser Richtung eben so eine Art Alien-Tor. Denn Menschen, so heißt es im Süden des Landes, könnten nördlich von Lyon ja wohl kaum leben. Ähnlich äußern sich bekanntermaßen die Ober-Bayern, wenn sie vom sogenannten Weißwurst-Äquator sprechen, der Donau.

Hier auf Entenausflug weiter nördlich, wo es auch blinde Dépanneure gibt.

Und wir mittendrin unter lauter Barbaren — wartend auf den Enten-Doktor. Als er dann kam, hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Stockdunkel war es auf dem Randparkplatz. Doch Monsieur le dépanneur faßte kurz hierhin, faßte mal eben dorthin — und kam innerhalb kürzester Zeit zur be- und gefürchteten Diagnose: Lichtmaschine. Das wäre nicht weiter tragisch gewesen. Denn da ich nicht so viele Cigales, diese Zikaden aus Holz oder Stein, oder sonstige kunstgewerblichen Materialien aus Fernost gekauft hatte wie die Resttouristen, befanden sich noch ein paar Francs in der Börse. Aber es war — wie anders? — Freitag abend. Garage? Demain? Morgen? Am Week-end? Non, Monsieur! Lundi. Nun denn. Am Montag. Doch ich war ja wenigstens in der Nähe des schönen Lyon, das ersatzweise Eß- und Trinkgenuß versprach, vor allem aber die Nähe von Freunden. Und Kirchen. In jeder eine Kerze für den 2 CV!

Ob er mich denn mitsamt dem Deux Chevaux bitteschön nach Lyon transportieren würde, wegen Garage und so? Puh, Monsieur, quinze kilometre! Ich weiß nicht mehr, ob es an den fünfzehn Kilometern lag oder an seinem Mitleid oder an seiner Sympathie für Enten-Piloten. Er schlug nach meinem halbstündigen Klagegesang vor, es am nächsten Morgen dann doch selbst zu erledigen. Er würde zu seinem Kumpel gegenüber auf den Schrottplatz gehen und eine Lichtmaschine holen.

Wir machten dann noch einen nächtlichen Ausflug, ich neben dem Enten-Retter auf dem Beifahrersitz, während das lädierte Tier sich derweil hintendrauf die schwüle Sommerluft um die Karrosserie wehen ließ. Ein paar Kilometer Autoroute, dann durch ein nur mit Hilfe eines wohl eigens für Dépanneurs angefertigten Schlüssels zu öffnendes Tor im Zaun raus und über die Dörfer. Etwa dieselbe Entfernung wie nach Lyon. Vermutlich mehr. Aber er lieferte mich in einem Mercure-Hotel ab, meinem Standard in Frankreich. Das natürlich belegt war. Hauptreisezeit und unweit der Autobahn. Aber der freundliche Mensch der Rezeption fand im benachbarten Novotel, das ja auch zu meinem Club der Frankreich-Dauerreisenden gehört, noch eine Bleibe für mich. Und am nächsten Morgen um zehn klingelte der Mann, der die ganze Nacht dépanniert hatte, mich an. Wo ich denn bliebe?! Der Deux Chevaux sei fahr- und er schlafbereit. Die Reparatur kostete weniger als die Hälfte des Preises, den ich für die Übernachtung zu entrichten hatte. Und dann mußte ich schließlich doch gen Norden. Aber seither hat meine Partnerin Ente mich nie wieder im Stich gelassen. Auch nicht in nördlicher Richtung. Ich höre ihr aber auch längst genau zu, wenn sie über ihre polyphonische Kakophonie hinaus ungewohnte Töne von sich gibt. Euphemistisch ausgedrückt, ließe sich daraus auch eine Schulung des Gehörs formulieren.

Sie als jederzeit führende Reisesänfte durch Frankreich hatte eine Vorgängerin. Die sprang im Winter grundsätzlich nie an und auch bei linderen Lüftchen nicht immer. Aber wenn sie dann in Richtung Süden sollte — durfte! Dann scharrte sie bereits nach dem ersten Zündschlüsseldreher mit den Michelin. Mit ihr wurde das Schaukeln quer durch dieses Land zu einem wesentlichen Bestandteil meines Bewußtseins. Und sollte ich ohnehin begonnen haben, leicht sonderbare Begebenheiten nicht mehr so grundsätzlich in die Lade Zufälle abzulegen, dann war eben dieser 2 CV Charleston ein Stück Schicksal.

Er stand spätnächtens oder auch frühmorgens auf der Türkenstraße im alten Münchner Universitätsviertel. Bestimmt zwei Stunden hatten wir Begießer eines fünfundzwanzigsten Geburtstages debattiert, wie denn für die Delinquentin ein kleines Gefährt auszusehen hätte und günstig zu beschaffen wäre, mit dem sie durch die Stadt zischen konnte. Das Ergebnis lautete einstimmig: Fiat Panda. Es gab keinen Zweifel. Sowas nettes kleines Italienisches mußte her. Und das in den Räumen eines Cafés, das eindeutig französisch beatmet war. Der Besitzer hatte fünfundzwanzig Jahre zuvor bei einem längeren Wochenendaufenthalt in Paris eine Wienerin kennengelernt. Das war ja nun wahrlich ein Anlaß, etwas Pariserisches in ein Viertel zu setzen — das sich auch damals schon ein bißchen heftig italienisch gerierte, da sich die Münchner nunmal grundsätzlich für den norditalienischen Nabel Europas halten. Die spätere Ehefrau war er bald los, der Maître des kleinen Cafés inmitten von geisteswissenschaftlichen Hilfskräften in den vielen Klamottenläden der Schellingsstraße, aber seine Crêperie hatte er noch. Und diese schloß. Wenigstens für diesen Geschäftstag. Es war halb zwei. Feierabend. Aber der Lust, weiterzufeiern, war noch nicht nach Abend. Die kleine Feiertruppe zog ein paar Meter weiter, wo es eine Ausnahme gab in dieser dörflichen Stadt, in der die Fensterläden früher geschlossen werden als in der anderen Provinz.

Er bog um die Ecke, der Rest der Feiergesellschaft. Und da stand sie. Diese Charleston nahm schlagartig jeden Denkraum in mir ein. Denn von weitem hatte ich in allen Fenstern dieses fahrbaren Stuhls mit Rasenmähermotor die Beschilderungen wahrgenommen, aus denen bereits ungelesen deutlich war — «zu verkaufen». Als meine Vermutung sich als richtig herausgestellt hatte, war sie nicht mehr zu verkaufen. Man mußte nur noch den Verkäufer finden. In den frühen Morgenstunden. Und die Freundin überzeugen, daß dies der ultimative Fiat Panda sei. Bis heute weiß ich nicht, was mich so überzeugend gemacht hat. Schließlich nährten sich meine Erinnerungen an die Studentenzeit aus der Philosophie der R 4-Fahrer.

Die Gegnerschaft zwischen den Fraktionen von 2 CV und R 4 ist legendär. Der 2 CV hatte zwar, historisch besehen, die älteren Rechte, war er doch vor dem zweiten Weltkrieg entwickelt und als Prototyp vor den Nazi-Spionen in Scheunen versteckt worden. (Die Deutschen machten aus ihrem ebenfalls vor dem letzten großen Automobilkrieg entworfenen Volks- zunächst einmal einen mehr oder minder erfolgreichen Kübelwagen im Krieg zwischen den Völkern.) Der R 4 hingegen war evolutio — nein revolutionär, stand er doch für Erneuerung. Der 2 CV blieb der alte Zopf, den es mit Hilfe eines R 4 abzuschneiden galt. Der 2 CV war Symbol für ein romantizistisches, geradezu erinnerungsverkärendes, der R 4 für Innovationsfreude, für ein sich vom Agrarstaat endgültig verabschiedendes Frankreich (was auch die Antriebswellen taten — sie verabschiedeten sich andauernd). Wir verabscheuten diese nahezu hölzernen Bauernschaukeln 2 CV.

Der Arbeiter und dessen Freund fuhr R 4. Und tatsächlich schaffte es meine politische Leidenschaft, meine Fraktionsdisziplin, mir 1970 auf Pump einen neuen R 4 zu kaufen. Und mit dem fuhr ich Rennen gegen andere, selbstverständlich ausnahmslos R 4-Piloten. Denn unsere Renault-Boliden waren mindestens um fünfzehn Sachen schneller als diese eiernden Landkutschen von Citroën. Außerdem konnte man im R 4 besser übernachten und so etwas ähnliches als im 2 CV. Im R 4 konnte man traumfrei schlafen oder träumerisch so etwas ähnliches, indem man zumindest ein paar Füße oder auch einen einzelnen Fuß vorne rechts in die Ablage ablegte. Im 2 CV indessen hatte man vermutlich Alpträume, da die Möglichkeiten der Beinlagerung völlig unzureichend gewesen sein dürften — oder aus welchen Gründen auch immer. Selbst der Gendarm in Tence um 1973 war bei der Personen- und Fahrzeugkontrolle in der Auvergne kurz vor der Überfahrt in den endgültigen Süden noch immer freundlich, als ich mich endlich aus meiner jahreszeitbedingt vorsichtshalber mitgeführten Gänsefederbettdecke herausgeschält hatte. Klar, sein Gendarmeriefahrzeug war ja auch ein ländlicher R 4, und er hätte sich außerdem wohl auch kaum vorstellen können, in einem 2 CV Jagd auf einen vaterlandsabtrünnigen Verräter in einem R 4 mit einem deutsch-berlinischen, also doch ausgesprochen extrem unnapoleonisch-preußischen Kraftfahrzeugkennzeichen zu machen. Es ist davon auszugehen, daß er, wie alle französischen Polizisten, sich der Revolution näher fühlen als dem (Bauern-)Adel, bei dem die Türen nunmal gegen die Fahrtrichtung des Fortschritts aufgehen.

Möglicherweise lag's am Alter, in dem man ja gemeinhin bekannt immer konservativer wird. Sowas geht auf in der Formel: konservativ = conservare = bewahren. Möglicherweise wird man des historischen Irrtums gewahr. Nirgendwo mehr ein R 4 zu sehen, nicht einmal ein restaurierter, höchstenfalls als der verrottenden Historie ausgesetzte Reliquie auf dem Dach eines Renault-Auto-Händers. Aber 2 CV! Den sieht man überall. Vor allem in deutschen Landen. Das wird's vermutlich gewesen sein, das mir den Blick verstellte hatte. Ich war sozusagen meiner Geschichte entgangen.

Die Liebe hatte also keine Chance. Da konnte sie noch so herzzerreißend herumweinen, sie wolle keine Ente, keinen 2 CV. Es war beschlossen. Der Verkäufer ward gefunden, der Preis dramatisch heruntergehandelt. Einmal mehr zeigte sich die Widerwärtigkeit des kapitalistischen Prinzips von Angebot und Nachfrage. Und daß es immer die Falschen trifft. Der arbeitslose Schauspieler brauchte sehr, sehr dringend Geld. Und ich wollte — Proteste hin, Proteste her — die Ente kaufen. Die ansonsten niemanden interessierte. Hier hießen Kleinformate eben Fiat Panda. Es kann wieder nur der Alkohol gewesen sein, der alle Blockaden aufgehoben hatte. Was in nüchternem Zustand absolut unmöglich gewesen wäre, fand nun statt. Wie beim fließenden Sprechen aller Sprachen dieser Welt sprach ich auch die des Handelns. Mit über tausend Mark hatte ich ihm ein enormes Loch in seine Kasse gerissen. Aber er wollte dann auch die zweitausend Mark nehmen. Die Hilfeschreie der zu Beschenkenden wurden geflissentlich ignoriert. Die anwesende Bekannte aus der Versicherungsbranche formulierte auch morgens um drei und nach etwa fünfzehn Weißbieren, lediglich unterbrochen von einigen Gläschen Prosecco, noch gewandt den Kaufvertrag. Im damals schon nicht mehr intakten Alten Simpl. Nein, auch nicht auf einem Bierdeckel. Irgendwoher tauchte ordentliches DIN-A-4-Papier auf. Routine ist alles. Und der Geldautomat gab den Kaufpreis auch her.

Die Protestantin aus dem Norden Deutschlands ging eine glückliche Beziehung mit der Katholikin aus Frankreich ein. Nein — es wurde eine Liebe. Und ich durfte teilhaben. Im Sommer schaukelten wir in dieser Liebeslaube unsere Liebe zu uns und zu Frankreich durch Frankreich. Die ansonsten kutschierte gute deutsche Wertarbeit aus dem Schwäbischen mit ihrem Hubraum, der für acht Entenmotoren ausgereicht hätte, durfte in der städtischen Tiefgarage bleiben oder anderen urbanen Ereignissen dienlich sein.

Mit einem 2 CV fährt man nicht eigentlich schnell. Ein Deux Chevaux lädt zum müßigen Bummeln ein. Und doch gibt es Situationen, in denen auch eine Ente sich zu wehren weiß. Beispielweise mit diesem probaten Mittel des Rabiaten: einfach draufhalten. Sie hat es zuhause in Frankreich gelernt (es funktioniert auch auf deutschen Straßen hervorragend). Die Internationale der Formel 1 auf französischen und deutschen Straßen hat viel zu sehr Angst um ihre feinen Karossen. Dabei müßte sie, die Ente, die eigentlich Ängstliche sein, denn für ein im Stadtverkehr nicht minder flottes Gefährt kann das noch vor der endgültigen Verrostung den Heldenplatz auf dem Schrott bedeuten.

Früher war das in Frankreich kein Problem. Aber mittlerweile fällt an allen diesen sicherheitsveredelten deutschen Mittelklässlern bereits eine Schramme ins Gewicht, vor allem in der bundesdeutschen westlichen Exklave Elsaß, wo es um Strasbourg herum nunmal in erster Linie gewienertes, stabiles Blech gibt. Also dagegenhalten. Sie hüten ihre feine Mittelklasse ...

Etwas weiter südlich, dort wo das eigentliche Frankreich beginnt, etwa ab Belfort, hat man Geduld mit einem 2 CV. Auch wenn er ein deutsches Kennzeichen trägt. Und bisweilen ein Lächeln. Es soll ja mittlerweile nette Boches geben; und auch wenn sie nicht mehr ganz so jung sind, haben diese seinerzeit die Grenze sicherlich nicht in kriegerischer Absicht überschritten. Vermutlich handelt es sich um den Zweitwagen eines besserverdienenenden Spinners für den Urlaub à la Tour de France; oder das Enkeltöchterlein muß sich vier Wochen lang mit Opas allradgetriebenem Japaner vor den Kommilitonen schämen. In die Jahre gekommene Touristen zücken in Valence gar sofort den Photoapparat, um die Trophäe digitalisiert nach Hause, nach Bergen op Zoom oder Gent zu tragen. Seit die französischen Kennzeichen an der Automobilfront ebenfalls Schwarz auf Weiß mit blauem Europa-Tupfer tragen, wird solch ein Gefährt schlicht als Relikt aus der guten alten Zeit des Monsieur Hulot wahrgenommen. Bei den jungen Franzosen in ihren Ford Fiesta oder Opel Astra sieht das Lächeln allerdings eher nach einem unverständigen Grinsen aus: Wie kann man sich bloß mit einem solchen Verkehrshindernis auf die Straße begeben, die für richtige Automobile gebaut wurde?

Dieser 2 CV — nein nicht der aus der Türkenstraße, sondern der Nachkomme (gleichwohl an Jahren auch nicht jüngere) —, der mich nunmehr seit vielen Jahren durch Frankreich schaukelt, befindet sich in augezeichnetem technischen Zustand — auch wenn es auf den ersten Blick einen eher gegenteiligen Anschein hat ob der Beulen und Kratzer oder dem ständigen Klappern (das jedoch lediglich den Mitfahrer irritiert, während es dem Automobilisten ein eher vertrautes, nachgerade vertrauenerweckendes Geräusch bedeutet).

Sicherlich verweigern Blinker oder Tankanzeige oder die Beleuchtung hin und wieder ihre Funktionen. Oder es bricht eine der Nieten, die vor nun gut zwanzig Jahren noch einwandfrei die Fensterhalterung fixierte. Ebenso kann es geschehen, daß die hintere Querstrebe bricht, die das Stoffdach hält. Doch selbst dann, wenn, wie erwähnt, gar ein Teil das Zeitliche segnet, das der ursächlichen Fahrzeugfunktion, der des Vortriebes, gilt — in Frankreich wird einer Ente nahezu immer geholfen. Ob das nun ein Dorfschmied ist wie in Larians et Munans im Franche-Comté, der wegen der weggeflogenen Niete sogar sein Mittagessen verschob — wer Frankreich kennt, der weiß um diese Großtat! —, hatte er doch weitere Nietenschwächlinge gleich mit erneuert. Oder der Garagiste beim Bahnhof von Aix-en-Provence, der die gebrochene Dachstrebe mit anderen Hilfsmitteln provisorisch ersetzte. Es ist schlicht so, daß nahezu jeder Franzose, der das zarte Alter von fünfzig Jahren überschritten hat, weiß, daß nicht funktionierende Blinker oder defekte Tankanzeigen in der Regel mit einem oxidierten oder auch schonmal gebrochenen Massekabel zusammenhängen. Trifft man hilfesuchend auf jemanden, dem sein Mittagsschläfchen über alles geht und der deshalb vor achtzehn Uhr nicht gestört werden will, dann ist zu empfehlen, sich ebenfalls zur Ruhe zu begeben. Das trifft, vor allem im Süden, jedoch nicht nur dann zu, wenn eine malade Ente um Hilfe ersucht, sondern ebenso bei einem Wasserrohrbruch oder einer verstopften Fäkalienableitung.

Zugestandenermaßen hat der sehr gute technische Zustand — etwa daß man mit diesem Deux Chevaux das tun darf, für das dieses Fahrzeug ursprünglich konstruiert wurde, nämlich über einen Acker fahren, darin einen Korb mit dreißig Eiern und ein Faß Wein oder einen Sack Kartoffeln, ohne daß der Rahmen bricht — eine Grundursache: Bei diesem 2 CV handelt es sich um eine Leasing-Ente. Nein, nicht nur gemietet. Geleast — bei Entenleasing in Regensburg, und sie ist deshalb außerordentlich beziehungsweise regelmäßig gewartet. Und wenn's dem Danneck Josef trotz immerwährender Entenreiselust dann doch manchmal ein bißchen arg weit ist, von Regensburg aus ans Mittelmeer oder an die Ostsee zu fahren (und dort gerade eben mal kein politischer Gipfel stattfindet, an dem er unbedingt mitprotestieren möchte), nur um mal wieder das Kabel für die Tankanzeige zu polieren, dann greift unsereiner schonmal selbst in den Modder — oder rollt zum Autoschmied Johann Berlenbach nach Sirksfelde oder macht einen herrlichen Ausflug zu den so wunderbar verschnarchten Jungs ins dreißig Kilometer nahe Cassis.

Der Danneck Josef, der eben der Eigentümer dieses 2 CV ist (ich bin lediglich der «Wirtschaftseigentümer», wie es steuergesetzlich heißt), bekommt in sein grundsätzlich lachverwittertes Gesicht immer noch ein paar Falten mehr, wenn ich ihm erzähle, daß sein Auto wieder zuhause war in Frankreich. Es freut ihn immer sehr. Ich bin, so glaube ich, sein treuester Frankreich-Fahrer. Das hat er sogar mal einem Fernsehreporter erzählt — da würde so ein Alter immer mit jungen Frauen nach Frankreich fahren. Und wenn ich ihm nun sage, daß dieser sein 2 CV Charleston ein anderes Nummernschild erhalten wird, eines mit einer 13 drauf — die schönen schwarzen Schilder, auf die man mit Kreide die Kennzeichen malen durfte, gibt es ja leider nicht mehr (nieder mit Europa!) — und ihm auch noch erkläre, was diese 13 für eine Bedeutung hat (Département Bouche-du-Rhône mit der Hauptstadt Marseille), dann wird er noch ein wenig fröhlicher sein, als er es ohnehin bereits ist. Vielleicht auch deshalb, weil das die Geschichte von den Eulen ist, die nach Athen getragen werden! Porter de 2 CV à France — porter de l'eau à la rivière.

Im am Atlantik gelegenen La Rochelle hatte ich anfangs der neunziger Jahre mit der zuvor erwähnten Ur-, also Geburtstags-Ente allerdings ein Vorläufererlebnis mit einem 2 CV-Spezialisten. Aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen beziehungsweise damals noch mangelnder Enten-Erfahrung hatte ich aus der Rue Saint Nicolas kommend an der Einmündung in die feierabendlich frequentierte Rue de la Fabrique die Handbremse derart bis zum Anschlag gezogen, daß ohne den Pannenhelfer nichts mehr ging. Nun gut, mit einer Ente kann man auch beim bis über den Anschlag gezerrter Handbremse noch um die Ecke fahren, um den Stoßverkehr in den heures d'affluence nicht gänzlich lahmzulegen. Immer wieder fragte der Dépanneur am Telephon nach der Farbe des 2 CV. Immer wieder hatte die Freundin ihm gesagt, es sei ein 2 CV Charleston. Nach dem fünften oder sechsten Mal, kurz vor der endgültig festen Überzeugung, die Charleston-Ente sei tatsächlich ausschließlich für den deutschen Markt produziert worden, rief er aus: Ah! Charleston. Die Betonung muß am Ende eben ein bißchen französisch hoch hinauf. Klar. Franzosen tanzen so etwas nur, wenn es Charleston heißt. Ton style oder so ähnlich. Wie die junge Frau, die mir beziehungsweise meinem mit dem Englischen doch eher vertrauten Gehör ein paar Jahre später und ein paar Meter weiter hinauf in der Bar am Quai Valin nicht minder hilflos zu erklären versucht hatte, es handele sich bei der US-amerikanischen Sängerin mit der wunderschönen Stimme aus dem CD-Spieler um die Kate Büsh.

Vor wenigen Jahren noch hatte es den Anschein, als ob alle 2 CV sich auf dem Terrain der Bundesrepublik Deutschland befänden. Jedenfalls sagte mir das ein wachehaltender studentischer Portier in der Parkgarage La Bourse im Zentrum von Marseille, der so gerne auch ein solches Gefährt haben wollte. So ist mittlerweile tatsächlich der Eindruck entstanden, Frankreich begänne mit dem Reimport des 2 CV. Und richtig: mehrfach bin ich gefragt worden, ob der meine zum Verkauf anstünde. Etwa von dem Mann in Gruissan, gelegen zwischen Narbonne und Pérpignan. Fast hätte er geweint ob des Anblicks. Aber der war ja auch schon über fünfzig. Von diesem Alter an wird ein Mann ja bekanntlich sentimental.

Tatsächlich sind die Preise für dieses Gefährt in den letzten Jahren enorm gestiegen. Sogar auf dem riesigen Platz des <a href="http://members.home.nl/hamers.mater/cassis07.html">Mehari Club in Cassis sind selbst die ärgsten Rostlauben kaum mehr unter eintausendfünfhundert Euro zu erstehen. Man hat in Frankreich sogar begonnen, den 2 CV zu restaurieren und damit spazieren zu fahren. Sehr lange ist es noch nicht her, daß solches unvorstellbar war. Da fuhr man zum Einkaufen mit dem Ding und nicht zum faire du shoping. Allenfalls in die Kneipe. Und ein 2 CV Charleston? Unlängst sah ich in Avignon einen, benutzt von einer fahrenden Truppe quasi als Thespiskarren, unglaublich herausgeputzt — eine solch theatralische Kiste würde in deutschen Landen problemlos fünfzehntausend Euro und mehr bringen.

Man benötigt also in Marseille einen Entenstall, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden (doch den benötigt man grundsätzlich, da dort, wo sich in anderen Städten Tiefgaragen befinden, noch ältere Relikte geparkt sind: die zweitausendsechshundert Jahre alte Geschichte dieser Stadt — also nichts mit Parkplätzen). Audi, Golf und Mercedes werden zwar weiterhin gen Ost oder auch Nahost verschwinden. Doch eine Charleston-Ente? Deutschland braucht Zweitwagen für die Manufactum-Kundschaft ...

2002/2008
 
Do, 10.07.2008 |  link | (9423) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs


famille   (07.10.10, 21:34)   (link)  
Entenburtstag
"Die Entwicklung begann bereits Mitte der 1930er-Jahre; kriegsbedingt stellte Citroën den neuen 2CV erst am 7. Oktober 1948 in Paris der Öffentlichkeit vor."


jean stubenzweig   (08.10.10, 08:35)   (link)  
Mit solchen Aufmärschen
kann ich doch nichts anfangen. Es wird der Grande Nation auch nicht gelingen, mich mittels solcher Rituale zu integrieren. Ich bekomme doch auch am 14. Juli ständig Lachanfälle. Nun ja, das ist kein guter Vergleich. Zwar ist auch die Ente ein Veteran, aber kein derart lächerlicher wie diejenigen, die sie mit der Sackkarre auf die Ladeflächen der alten Pompiersabschußrampen transportiert haben. Sie ist selber eine. Eine Sackkarre.

Aber wenn schon Geburtstag: die große Schwester hatte gestern auch. Ich hätte das zwar ebenfalls nicht bemerkt, aber andere haben La Déesse schmunzelnd salutiert gratuliert.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5812 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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