Zeit ohne Zeugnis

Es gibt dem Diplomatischen eher weniger zugeneigte Menschen, bei denen die Frage Wie geht es Dir? und der Beantwortung durch die Gegenfrage Interessiert's Dich wirklich? günstigenfalls Irritation auslöst. Hat man Pech, kippt der Gefragte eine Suada über einen aus, die mit der Einleitung beginnt: Wie kann's einem gehen, der gerade von einer Design-Novitäten-Ausstellung bei einem schwedischen Möbelhaus zurückgekehrt ist, zu der diese weiblichen Teile unterschiedlicher Generationen der Familie einen geschleppt haben ...

Also unterläßt man's fürderhin. Doch dann kann's einem passieren, daß man fordernd-nachdrücklich gefragt wird: Du fragst gar nicht, wie's war! So geschehen vor zwei Jahren, als ich und der andere vom Kölner Kunstmarkt zurückgekehrt waren, zum besseren Verständnis neudeutsch art cologne genannt. Auch dort Novitäten, über die man allerdings auch schon mal hinwegsieht wie über die allerneueste Elchbüste für übers Sofa made in the Peoples Republic of China.

Ich und der andere legten also ungeduldig und ungefragt los: Es gab was zu sehen! Etwas, das ich mir immer wieder anschauen und sogar an die Wand hängen würde! Ungläubiges Staunen unter den gemeinhin Wissenden.

Es geriet jedoch zunächst in Vergessenheit. Doch dann frischte die Post die Erinnerung auf: Sie brachte einen angenehm zurückhaltenden, sorgfältig und anspruchsvoll produzierten dreisprachigen DIN A4-Leporello (ISBN: 3-9808088-7-4), dessen Aufregendstes die Inhalte sind (Gehaltvolles benötigt keine dröhnende Verpackung). Sie waren es, die 2006 auf der art cologne meine Aufmerksamkeit derart erregt hatten, daß sie mehr ergaben als den obligatorischen Blick in den Stand. Der hieß New Talent , und ausgestellt waren Arbeiten einer jungen Zeichnerin: Jorinde Voigt, 1977 in Frankfurt am Main geboren, und ehemals Studentin bei Christiane Moebus und Katharina Sieverding.

Das, was beim Anblick dieser Zeichnungen die Erregung mit ausgemacht haben dürfte, ist sicherlich mit dem in Verbindung zu bringen, was Jorinde Voigt antrieb, bevor sie an die Berliner Universität der Künste ging: 1986 bis 1996 Violoncello an der Akademie für Tonkunst, nach dem Abitur ein weiteres Jahr bei Peter Wolf, des weiteren Studien der Philosophie und der Neuen deutschen Literatur in Göttingen sowie der Soziologie in Berlin — also Musik, Literatur, Philosophie, Gesellschaft. Und all die Blütenstäube, die auf diesen Wanderungen durch die Landschaften der Kultur haftengeblieben sind, münden in faszinierenden Zeichnungen.

Da gibt es einen Zyklus, den die Berliner Galerie Fahnemann 2007 «in einer ersten großen Einzelausstellung» von Jorinde Voigt zeigte (und der in diesem Leporello festgehalten ist): Perm Millennial. Andrew Cannon schreibt dazu:

«Mit Perm Millennial bezieht sich Voigt auf eine ‹prähistorische› Zeit — eine Zeit ohne schriftliche Zeugnisse, in der sich Begriffe, Namen und Bezeichnungen willkürlich umschweben. In diesem Kontext erscheint die prähistorische als eine anonyme Zeit, deren exakte Definition stets eine Sache der Diskussion und Auseinandersetzung bleiben wird. Diesem Status der Offenheit (und Verletzbarkeit) setzte man bald Strukturen entgegen, die schnell zu Glaubenssystemen einer Menschheit wurden, die ihren prähistorischen Zustand überwinden wollte. Neben den Religionen waren Mathematik, Geometrie und die Wissenschaften Teil dieser Systeme. Ausgestattet mit eben jenen Glaubensstrukturen, begann man, Muster zu erkennen und notieren. Die Zeugnisse dieser Muster und deren ‹Ausstellung› wurden zum Synonym für Spiritualität und die Existenz einer Ordnung der Dinge (Michel Foucault: Les Mots et les Choses, 1966). Mit Perm Millennial akzentuiert Voigt die Grenzlinie zwischen dem Nichtgeschriebenen und dem Geschriebenen. In diesem Zusammenhang fungieren die Zeichnungen als Notationen. Geschichte wird durch die Art und Weise, wie sie aufgeschrieben wird, zu Geschichte. Darin liegt unsere zivilisatorische Leistung.» (kompletter Text)

Doch selbst derjenige, der Fibonacci für eine dieser lärmproduzierenden Maschinen hält, die einem am Wochenende gern kurventechnisch in extremer Schräglage entgegenkommen, wer sich lieber auf seine Kirchen- oder Küchenzeitung zurückzieht, wenn Mathematik, Geometrie und Wissenschaften in die abendliche Plauderei einfließen, wird in die Kunst von Jorinde Voigt eintauchen können. Vor allem der letzte Satz von Andrew Cannon steht dafür:

«Es ist die sonderbar anmutende Kombination von Elementen und Systemen, die Voigts Zeichnungen Originalität und besonderen Ausdruck verleiht und so einen tiefen Eindruck beim Betrachter hinterläßt.»

Es lohnt sich also dann doch hin und wieder, über (Kunst-)Märkte zu bummeln. Denn es gibt doch tatsächlich auch dort etwas zu entdecken, das nicht nur neu, sondern auch dauerhaft ist und bleiben wird.
 
Sa, 19.07.2008 |  link | (1927) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5814 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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