Heim und Heimat

Folgendes sollte eigentlich drüben bei Vert hinein, wo gerade die Rede ist über Architektur im allgemeinen und Postmoderne im besonderen. Aber ich möchte ihm seine Seite nicht zustellen mit anderer Leute Zeugs. Deshalb also hier einiges, was Mitte der achtziger Jahre gedacht, aufgeschrieben und gesagt wurde.

In Ernst Blochs Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung ist die Architektur, die Umweltgestaltung ein Punkt der Auseinandersetzung, ein Teil seines philosophischen Utopia'. Nach Bloch ist die Architektur ein «Produktionsversuch menschlicher Heimat». Heimat ist Blochs Gegenbegriff zu dem der «Entfremdung». Die Symptome der Entfremdung führt Adolf Max Vogt in seinem Buch Architektur 1940 – 1980 auf die in steigendem Maße veränderte Arbeit durch den Industriekapitalismus mit der Folge der Umweltbedrohung zurück. Dadurch, daß der Arbeiter, vor allem der Fließbandarbeiter nichts Ganzes mehr herstelle, sondern nur noch endlos wiederholte Teile, trete eine Sinnentleerung ein: Arbeitsentfremdung. «Die Techniken», so Vogt, «verhalten sich zur Umwelt aggressiv — sie irritieren und unterbrechen die zyklischen Abläufe: Umweltentfremdung.» Bauen müsse deshalb sein oder endlich werden — und damit greift er Blochs Begriff auf — «ein Produktionsversuch menschlicher Heimat».

Friedrich von Schiller unterscheidet in seinen Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände so: «Das Angenehme vergnügt bloß die Sinne und unterscheidet sich darin von dem Guten, welches der bloßen Vernunft gefällt. [...] Das Gute, kann man sagen, gefällt durch die bloße vernunftgemäße Form, das Schöne durch vernunftähnliche Form.»

Schillers Betrachtung des Ästhetischen erinnert an das Postulat der Bauhaus-Künstler zu Beginn der zwanziger Jahre. Es war — unter anderem — die Forderung nach der guten Form, die auch das industriegefertige Produkt ausweisen sollte, die sich ergibt aus vernunftbestimmtem Materialeinsatz und entsprechendem Gebrauch.

Mit der positivistischen Ästhetiktheorie des Bauhauses zeichnete sich allerdings auch die Gefahr ab, daß es in der Folge weniger auf systematische Durchdringung und vielmehr auf die Verschleierung des Aggressionspotentials industrieller Fertigung ankommen könnte. Bauhaus-Kritiker wie der US-amerikanische Architekturhistoriker Alexander Tzonis machten Bauhaus-Lehrern wie Walter Gropius, Mies van der Rohe oder anderen den Vorwurf, sie machten «aus jedem Teeglas ein Problem konstruktiver Ästhetik». Doch bei aller — bereits postmodernistisch anklingenden — Kritik am Bauhaus: Wenn Mies van der Rohe geäußert hat, «wir sollten neue Formen entwickeln», so bezog sich das nicht nur auf eine Vereinfachung der Produktion, sondern sie sollte auch eine Veränderung politischer Verhältnisse spiegeln — hin zu mehr Demokratie.

Ein weiterer Apologet und Mitbegründer einer neuen, durchdachten Form um einer neuen Lebensqualität willen war Le Corbusier, der Schöpfer des Beton brut , also des ‹reinen›, unverhüllten, sichtbaren Betons (auch) als preiswerten und jederzeit verwendbaren Baustoff. Er äußerte 1937, allerdings kaum ahnend, welche (teilweise bewußten) Mißverständnisse, ja gezielte Fehlinterpretationen das zehn, zwanzig Jahre danach hervorrufen sollte: Da die Innenstädte dem zunehmenden Individualverkehr keinen Raum mehr böten, müsse man sie abreißen und nach außen verlegen — die Ville verte, die grüne Stadt oder Stadt im Grünen.

Diese Argumentation kam in der Phase des Wiederaufbaus manch einem Großbauunternehmen, in Abstimmung mit euphorisierten Politikern, gerade recht. Zwar ließen sie im Einvernehmen mit Städteplanern und Architekten die Innenstädte oder das, was von ihnen übriggeblieben war, nicht ganz abreißen, ließen ein paar Reste doch noch in unseren Zentren stehen. Doch Satellitenstädte setzten sie zuhauf in den Sand — und nicht nur in den märkischen, sprich (zum Beispiel) Märkisches Viertel in Berlin. Bazon Brock (und vor ihm andere) gab diesen zubetonierten Stadtrandgebieten drastische Namen: Kaninchenstall-Architektur, Legebatterien-Architektur oder Pissoirhaus-Architektur, sprich Gropius-Stadt in Berlin, sprich Nordwest-Stadt in Frankfurt am Main, sprich München-Neuperlach et cetera, et cetera.

Nachdem Adolf Hitler das Tausendjährige Reich ausgerufen hatte, bediente er sich, um die Bevölkerung darauf einzustimmen, in hohem Maße der Architektur und der Kunst. Mit entscheidend war dabei, daß er seine Lieblingsdisziplin Architektur wieder heimholte ins Reich der Künste — ein Akt gegen die von ihm so gehaßte, vom Sozialen und Aufklärerischen bestimmte Architektur-Avantgarde. Die hatte 1933, dem Jahr, als der Möchtegern-Kunstmaler aus Braunau am Inn Reichskanzler wurde, die Charta von Athen veröffentlicht. Mit ihr forderten die Vorreiter einer neuen Architektur nicht nur Licht, Luft, Sonne und Grün auch für die weniger Betuchten, sie wies den Architekten auch eine neue Aufgabe im sozialen Bereich zu: Nicht mehr als Künstler sollten sie sich verstehen, sondern als Ingenieure, die kostengünstig möglichst viel Wohnraum schaffen. Dieser Modernen Architektur, auch Neues Bauen genannt, machten Hitler und seine Vasallen im Reichsbauministerium mit einer ‹Baukunst› den Garaus, deren Palette von der biederen Verzerrung des wieder aufgenommenen Heimatschutzstils hinreichte bis zum gigantomanischen Staatsstil im Sinne eines Hauses der Deutschen Kunst in München oder eines Zeppelinfeldes, dem von Hitlers Leibarchitekten Albert Speer geplanten Nürnberger Reichsparteitagsgeländes. Dieses auf Ewigkeit getrimmte Bauen nannte Dieter Bartetzko in seinem Buch Illusionen in Stein «Stimmungsarchitektur».

Nachdem während der ersten zwei, drei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein Teilaspekt der Modernen Architektur, nämlich das kostengünstige Bauen durch rationelle Planung und Teilevorfertigung, zugunsten eines Bauwirtschaftsfunktionalismus schamlos ausgeschlachtet wurde, verkündeten Stimmungsarchitekten den Tod der Moderne, einer Moderne, die in der Bundesrepublik architektonisch so gut wie nicht stattgefunden hat. Trotzdem nannten sie und ihre Apologeten diese dann folgende, als neu propagierte Ansammlung von Versatzstücken aus den verschiedensten vergangenen Architekturepochen Postmoderne, also Nach-Moderne.

Als «historische Requisitenschau» ist diese Stil -Richtung der Architektur zu bezeichnen, die nach Charles Jencks benannte Postmoderne (im übrigen ein Begriff, den er aus der Literaturwissenschaft übernommen hat), von ihm untertitelt mit Radikaler Eklektizismus — eine Architekturrichtung, die zwar von der Fachwelt theoretisch als «abgefeiert» gilt, jedoch in der Praxis in voller Blüte steht, und nicht nur, weil kommunale Planungen oft zwei Jahrzehnte überdauern. Unter der Postmoderne werden die unterschiedlichsten historischen Alternativen zusammengefaßt. In seinem Buch Die Sprache der postmodernen Architektur mißt Jencks der regionalistischen Architektur große Bedeutung bei. Nach ihm benutzt der Radikale Eklektizismus «im Unterschied zur modernen Architektur das volle Spektrum kommunikativer Mittel — metaphorische und symbolische ebenso wie räumliche und formale». Der Radikale Eklektizismus mische alle Stile und Subsysteme in einem Bauwerk.

Architektur als Massenmedium? Architektur fürs Volk? Die Wissenschaftler Umberto Eco (identisch mit dem Romanautor) und Renato de Fusco zweifeln, zumindest unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen, an den Möglichkeiten der Architektur als Massenmedium. Drastischer ist die Absage der Architekten Maurice Culot und Leon Krier — wobei hinzuzufügen ist, daß Leon Krier von seinen Thesen abgewichen und ein heftiger Verfechter des klitternden Bauens ist — an die Jenckssche Formulierung. In ihrem Aufsatz Der einzige Weg der Architektur stellen sie fest, daß «der provokatorische formale Eklektizismus [...], der seinen Höhepunkt in dem Kitsch findet, der jetzt schon alle Bereiche des Lebens und der Kultur beherrscht und das wichtigste kulturelle Phänomen der industriellen Zivilisation darstellt». Und der Architekturhistoriker Frank Werner ist in seinem 1981 erschienenen Buch Die vergeudete Moderne der Meinung — wie recht er behalten sollte —, die Postmodernismusideologie entpuppe sich auf Dauer als neuer gesellschaftlicher Konservativismus. Wobei jener Konservativismus gemeint ist, der einer Popularästhetik das Wort redet, das unter der Flagge Geschmack fährt.


In der hier vorliegenden Version ursprünglich verfaßt für und veröffentlicht 2006 auf der im Mai 2008 eingestellten Seite Schmoll et copains.
 
Mi, 05.11.2008 |  link | (3505) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn


famille   (21.09.10, 19:49)   (link)  
"Jener Konservativismus",
der mehr zerstört als bewahrt? Oder das Prinzip Hoffnung in den Himmel geschickt hat: Kaufe in Frieden auf Erden.


jean stubenzweig   (22.09.10, 08:17)   (link)  
«Wieviel Arbeit, wieviel Freizeit, also wieviel Zweitkühlschränke, Dritt-Trimm-dich-Jogging-Anzüge aus Goretex und Viertfernsehgeräte benötigen wir denn? Wieviele Sonderangebote, also leichtfertig gekauften und nach (meist baldigem) Nichtgefallen schwierig zu (wie sich ein euphemistisches, von Politikern geprägtes Modewort abzeichnet) entsorgenden Sperr-Müll, also Überflüssigem aus dem Baumarkt, der sich, bezeichnend für unser Geschichts- und Geschmacksverständnis und mit seinem kleinteiligen, um nicht zu sagen kleingeistigen Ornamentsangebot völlig gegenläufig zur klaren Struktur dieses Mutterhauses der Vernunft-Form verhält, vielerorts Bauhaus nennt?! Wieviel hat denn die Industrie, der Handel seinerzeit bei den überall propagierten Zweitbremsleuchten innerhalb einer kürzesten Zeitspanne umgesetzt — 15 Millionen Mark. Da hat man den ewig Sicherheitsbedürftigen gewaltig auffahren lassen.»
•••
«Ein reflexiver Mensch weiß, daß Pläne, Utopien, Entwürfe dazu da sind, um zu verhindern, daß irgendein Realisat, etwas wirklich Durchgezogenes einen Wirkungsanspruch haben kann, der auf Wahrheit, auf Unwidersprechbarkeit, auf Endgültigkeit ausgerichtet ist.» (Bazon Brock)















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