Im Elysium

Mit einem Mal schießt es mir in den Kopf — ich habe vergessen, mein Medikament einzunehmen. Fünf Stunden ist es über die Zeit. Das geschieht sonst nie. Es ist eine Arznei, die Hirnaussetzer verhindern soll. Solche, das mir so eine Art kleinen, na ja, nicht diesen zu recht berühmten französischen kleinen Tod, der ist in bestimmten Bereichen ohnehin Frauen vorbehalten, wenn das auch diskutiert wird, aber doch einen sehr schönen, weil absolut schmerzfreien bescheren kann — wenn es stattfindet wie vor ein paar Jahren.

Mir ist seltsam zumute. Nicht, daß mein Körper das Fehlen des Medikamentes spürt. Doch ich denke darüber nach, wie es wäre, jetzt ein Ende zu machen. Das wäre doch die im Wortsinn heilvolle Beendigung eines Kapitels, unter das längst ein Schlußstrich gezogen gehört. Seit langer Zeit gelten meine Überlegungen immer wieder den eventuellen Versuchen, allem ein Ende zu machen, dieses jammervolle Dasein der Einsamkeit zu beenden. Hier und jetzt. Das wäre es doch. Vielleicht geschieht es noch einmal wie damals. — Ganz leicht entgleitet alles. Ich sehe mich liegen. Ich höre die Stimmen der anderen Menschen um mich herum. Eine Frau ruft nach dem Notarzt. Ein Galerist, der zuschaut, wie ich langsam in mich zusammensinke, schaut unsäglich dämlich, vielleicht aber auch nur hilflos drein. Später werden sich die Ärzte aus beruflichen Gründen um mich sorgen. Im Krankenhaus habe ich mehrere dieser Anfälle. Das jeweilige Erwachen danach ist nicht so schön wie beim ersten Mal, als ich mich über allem fühle. Aber die Hoffnung, es könnte wieder einer dieser Anflüge des Elysischen sein, wünscht weitere herbei. — Doch es wird nie wieder so sein.

Aber jetzt. Das wäre eine Gelegenheit. Einmal noch. In Anwesenheit, besser: unter diesem Engel auf Erden, der offenbar nicht nur alle Menschen liebt, sondern auch mich. Dafür alleine liebe ich ihn. Weil er mich liebt. Vielleicht wenigstens so, wie Slavoj Žižek Hegel paraphrasiert hat: «Wir lieben uns nicht direkt — was wir wirklich lieben, das ist, von anderen geliebt zu werden, was nichts anderes heißt als: Wir lieben andere dafür, daß sie uns lieben.»* Das wäre doch ein Gnadenakt — in den Armen dieses zauberhaften Geschöpfes zu sterben. Und dabei vielleicht auch noch daneben zu stehen und zuschauen zu dürfen. Ein Dankeschön für alle diese Unbilden, die man mir ins Leben geworfen hat. Nach dem mich niemand gefragt hat. So, wie mich niemand gefragt hatte, ob sie mich denn zurückholen sollen aus diesem Zustand. Ich war sehr böse gewesen deshalb.

Ob mir nicht gut sei, fragt sie mich und fügt an, vielleicht solle man doch besser keinen Wein mehr trinken. Doch doch, entgegne ich, gerne noch mehr Wein. Lediglich am Nachdenken sei ich, und dabei sähe ich immer krank aus. Krank, nein, das sähe sie nicht so. Aber seltsam durchaus, absentiert irgendwie, weit weg von der Welt.

Sie nimmt mich in den Arm. Die Welt zerfließt in Myriaden von Bächlein, die über üppiges, unglaublich facettenreiches Grün harmonisch polyphon die Hänge hinunterhüpfen. Ich schwimme ins Elysium. Im Elysium. Zu Lebzeiten. Alles in mir wird zu dem, was es ist: Wasser. Salzwasser. Ich bin das Meer. — Ich schwimme im Toten Meer des Selbstmitleids. Ich schwimme in Kitsch. Ich beschließe, das Medikament wegzulassen. Lieber eine platzende Illusion als einen Eimer voll ätzender Lebenslauge. Mir ist übel. Kommt es daher, daß ich widerlich bin? Ich löse mich von ihr. Wir werden etwas essen, befiehlt sie.

Erneut nimmt sie mich an der Hand und zieht mich. Ich trotte hinterher in die Küche. Sie öffnet erneut den Kühlschrank, sie wühlt in ihm herum, nimmt dies in die Hand, begutachtet es, verwirft es. Sie schaut in das Gefrierfach des Kühlschrankes. Lachend und kopfschüttelnd registriert sie drei Einliterpackungen Mövenpick-Eis derselben Sorte. Wenn mir etwas schmeckt, dann esse ich es, bis ich schon die Verpackung nicht mehr sehen kann. Schon wieder will ich mich für diese Peinlichkeit entschuldigen und hebe an. Sie dreht den Kopf, das Gesicht ist beißende Ironie. Na ja — ein wenig gemildert von einer Paarung aus Sanft- und Langmut und Amusement. Sie zuckt mit den Schultern. Sie scheint ein wenig ratlos. Dann entdeckt sie das Gemüsefach und zieht heraus: vier große Packungen italienischer grüner Nudeln — die in meiner Junggesellenmaschine von Moulinex innerhalb von drei Minuten zum Mundverbrennen heiß sind. Selbstverständlich esse ich sie nicht ohne Beilage. Das wäre selbst mir zu trocken. Sie entdeckt fünf kleinere Kunststofftüten Sauce Florentina. Ich werde mir der Groteske bewußt. Schriebe dies jemand in ein Drehbuch, ich hielte es für einen platten Gag. Aber ich befinde mich nicht in einem Filmchen. Ich stehe neben der Wirklichkeit, als sei ich der Besuch. Und der schüttelt ungläubig lächelnd den Kopf. Solches hätte ich früher verabscheut, merkt sie beiläufig an. Aber es würde gehen. Sie reißt die Tür zum Gefrierfach wieder auf und entnimmt eine Packung gefrorener Kräuter. Ich protestiere. Diese italienische Sauce bestünde nahezu ausnahmslos aus Kräutern. Und sie schmecke sehr gut ... «Ah ! Taratata.»

Ich lasse mich zur Seite schieben, zum Rollkoffer hin, der zur Nebensache geworden ist. Nebensache zur Nebensache. Aber ich habe Beschäftigung. Ich bugsiere ihn in den von mir kokett Lagerzimmer genannten Raum: Die Kunst und ich und andere Nebensächlichkeiten werden darin gelagert.

«Naziza!» rufe ich vernehmlich, als ob es eine Situation wäre, die sich seit zwanzig Jahren wiederholt, und eile in die Küche zurück. Ich hätte doch noch etwas Eßbares. Ich beuge mich nach unten zu dem Bereich des Gefrierschranks, den sie offensichtlich nicht wahrgenommen hat. Dort lagere ich Vorräte, die ich teilweise selbst zubereitet habe, um nicht an der Eintönigkeit zu ersticken und aus dem Haus zu müssen, wenn mir nicht danach ist. Und mir ist fast nie danach. Was soll ich dort, wo längst alles gesagt ist, was es an Bedeutungslosigkeiten gibt? Oft genug muß ich ja zu denen, die sogar dem noch Wirkung zumessen — Hauptsache, sie haben es persönlich abgelesen. Erbsen- und Linsensuppe befindet sich in der Vorratshaltung. Ebenso schmackhafte, pikante Fleischsauce, von der ich allerdings weniger esse. Ohne trivialpolitischen Zwang oder Ekel vor toten Tieren — oder vielleicht doch ein bißchen beides? — hat sich mein Geschmack mehr zum Gemüse hingewurzelt. Möglicherweise aber hat, wie beim Verzicht auf größere Mengen Alkohols, jemand in meinem Kopf auch hierbei den Schalter umgelegt. Alles ist portionsweise eingefroren und liegt neben Kaninchenfleisch und Knoblauchbutter und Knochen zum Zubereiten von Grundsaucen. Und auch die vorgekochten kleinen Kartoffeln sind nicht nur praktisch zu verarbeiten, sondern auch aus Frankreich.

Ich bin fast sicher, daß sie nicht weiß, was Erbsensuppe ist. Jedenfalls nicht auf deutsch. Ich grübele. Im Süden, zumindest in der Provence, werden Eintöpfe ja gegessen. Ich sollte es wissen. «Purée de — pois?» Leicht irritiert schaut sie mich an. Dann lacht sie. «Ah. Oui. Nicht Nebel. Sondern Erbsensuppe. Wie Berlin. Aschinger. Nicht Purée de pois, sondern Soup aux pois. — Nein. Das mag ich jetzt nicht. Lieber diese Nudel hier.»

Es kommt Wind auf, wie fast immer aus dem Westen. Es schlägt etwas Dunkles, für sie nicht einordenbar, gegen das Küchenfenster. Ein wenig erschrickt sie. — «Keine Angst. Es ist kein Gespenst. Oder vielleicht doch. Denn es kommt wie Du aus Frankreich. Und es gerät immer dann in Erregung, wenn es Besuch bekommt aus der Heimat.»

Photographie: leromanais (der Inhalte wegen unbedingt anklicken!)

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung • Geschmackssache




Flaggeleien

«Was hast Du getan?» fragte die ungläubig schmunzelnde Freundin, die aus Kurz-vor-Afrika zu Besuch gekommen war und der ich die Geschichte erzählt hatte. «Hast Du geschossen? Mit French frites und der Marseillaise? Und wenn ja, gegen wen?»

So ähnlich, berichtete ich. Da erdreistete sich gegenüber, dort oben in der letzten Etage, jemand, Stars and Stripes ins Küchenfenster zu hängen. Nicht so extrem, sie wollten ja noch durchschauen können, vielleicht so groß wie ein DIN-A-4-Blatt. Aber es hat mich geärgert. Ziemlich. Und da bin ich am nächsten Tag losgezogen und habe einen schön großen drapeau national gekauft. Bei dem ebenfalls heimatlosen André, der den Deutschen recht erfolglos Kultur in Form von Baguette beizubringen versuchte und sich deshalb mit dem Verkauf von weiteren französischen Devotionalien über Wasser hielt. Das Mehl fürs Baguette bezog er aus dem Ursprungsland für gutes Weißbrot, aber die Tricolore lieferte eine Fahnenfabrik in Thüringen. Und da es frühsommerlich warm war, habe ich einen der beiden dreißig Jahre alten, aber immer noch fein tösenden Lautsprecher zur Tür der Loggia hingeschoben und dann die Marseillaise donnern lassen. Ich hätte ja La fanfare en pÈtard abspielen können, diese köstlich-wilde Schrägheit. Aber das wäre möglicherweise am Ende für einige gar dauerhaft genußverheißend geraten. Der persönliche Mitschnitt war da doch geeigneter: eine phantastisch eiernde Aufnahme des Blasorchesters der Feuerwehr von Grandrieu, die es zwar hervorragend verstand, Durst zu löschen, es aber mit dem Blasen ansonsten nicht so hatte. Wenn ich mich recht erinnere, ungefähr eine halbe Stunde lang oder auch länger. Bei dieser Gelegenheit habe ich mich gleich für alles mögliche an Lärm gerächt, was als Musik aus allen Richtungen auf mich losgelassen wurde.

Am nächsten Tag war die Amiflagge weg.»


>* Slavoj Žižek: Wie Hegel einmal Nietzsche in Afghanistan traf. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 43, 28. Oktober 2001, Feuilleton, S. 24

 
Di, 08.09.2009 |  link | (2121) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


venice_wolf   (08.09.09, 16:23)   (link)  
tut mir leid
dass ich nicht soviel Zeit habe, alles durchzulesen. Ich kann das höchstens für die Pension irgendwo speichern, falls es dann das Internet noch gibt und wir laufn nicht mit Keule und Steinroller herum wie die Flintstones
Flintstones
(wieder so ein hässlicher link... bitte um Hilfe)

geschönt


vert   (08.09.09, 16:32)   (link)  
das geheimnis:
< a href=" hier-der-link-rein " > hier-das-wort < / a>

und jetzt alles ohne leerzeichen.
mit etwas gewöhnung geht das irgendwann ganz schnell.


jean stubenzweig   (09.09.09, 15:54)   (link)  
Ums Essen geht's ...
Weshalb ich sie hier ins nächstgelegene Töpfchen reinstecke: eine soeben entdeckte Filmbesprechung von Ockhams Axt zu einem der großartigsten, wunderbarsten, zauberhaftesten Filme, die ich je gesehen habe und die ich nur als feinen Apéritif bezeichnen kann.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5813 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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