Im Kaminrauch der Romantik

Einer zehnjährigen Wehmut zum Jahrestag

Es geschah 2001 an einem hellichten Tag, deutlicher: in der kunstlichterleuchteten, neu errichteten Halle 3 des Messegeländes in Frankfurt am Main, also einer späten Nachkommenschaft der Agora, auf der vor einiger Zeit ein großer Kyniker Menschen suchte. Ein Hauch nur genügte, und das Astralblatt, die gesamte antike Geistesseele flatterte auf, verließ seine Heimstatt des Immateriellen und fuhr hinein in ein profanes Gehör. Dieser Liebeshauch, zärtlich in mein entsagungsgeplagtes Ohr geflüstert von einer zauberhaften Hundert-Kilo-Kugel aus dem Nabel der Weltfernheit namens Paderborn, hatte diesen entzückenden kognitiven Konjunktiv: «Könntest du dir vorstellen, mein Lieber, daß wir gemeinsam eine Zeitung machen?»

Der Flüsterer, seines Zeichens Verkünder eines hochgeistigen Verlages von lesbar gemachten Habilitationen kultureller Themata, mindestens aber Dissertationen nicht unter allerhöchstem Lob, hatte wie sein Angehauchter auch, ach, beide hatten die Zeichen des sterbenden Papierfeuilletons nicht erkannt oder den längst eingetretenen Tod schlicht nicht wahrhaben wollen. Es mag aber auch ein wenig daran gelegen haben, daß der eine eine Altlast geerbt hatte, die gleichwohl um einiges historischer belastet war als ihre Vorbesitzerin DDR, und einfach die Gelegenheit nutzen wollte, vor der gnadenlos herannahenden Verrentung darin noch einmal ein bißchen zu spielen wie im Sandkasten des Pennälers. Ein bedeutsamer Hof war ihm zugeflogen, über den der ehrwürdige Herr Dehio protokollierte: «Wehrhafter Adelssitz des 14. Jh. Nach mehrfachem Besitzerwechsel ab 1626 in bürgerlichem Besitz.» Etwa vier Seiten hat der Grandseigneur der Kunstgeschichte dem thüringischen Städtchen gewidmet, darunter eine malerische Zeichnung, das es im Jahre 1291 zeigt, sowie eine halbe Spalte allein dem Gehöft und seinem Ort — laut Brockhaus «im Vorland des südwestlichen Thüringer Waldes, an der Werra, 4.000 Einwohner [...]. Stadtkirche (1584-96); zahlreiche Fachwerkbauten des 16. und 17. Jahrhunderts, ehemalige Adelshöfe und Bürgerhäuser (16.-19. Jahrhundert). 874 erstmals genannt; Stadtrecht 1308; kam 1660 an Sachsen-Meiningen» —, dieser «Karnevalshochburg der neuen Bundesländer» also ganz nahe dran am seinerzeit gepriesenen Meininger Vier-Sparten-Theater mit Wagner-Ambitionen, «[...] das im Osten rechtwinklig angrenzende Wirtschaftsgebäude von 1532 mit tonnengewölbtem Keller und großem Saal ...» Eben darin ließ das ancien regime des deutschen Vulgärkommunismus von mehr oder minder zarten Frauenhänden FDJ-Hemden nähen. Deshalb wohl ließ der Erbe und damit neue Altlastinhaber in allen seinen Räumen eine heiße Kulturnaht nähen. Als guter Deutscher hatte er als erstes einen Verein gegründet und gab deshalb für sein neues Heim der Sparkasse viel Geld, auf daß auch die nicht darbe — weil unsere Denkmalschutzbehörden mindestens so gnadenlos sind wie ihre steuereintreibenden Kollegen.

Im Grunde wollte dieser Historiker mit historischem Gewerk eine Art gegenläufiges Parteiorgan, eine «Monstranz des Nicht-Wissens», wie Wolfram Hogrebe sie nannte, die Blaue Blume. Nachdem man so manches Wochenende Stunde um Stunde immer nähergerückt war an den romantisch arschkalten Kamin und sich an möglichen Inhalten zu erwärmen versuchte, hatte die praktisch veranlagte Verlegerin ein edles Blattgewand geschneidert. Ein paar Altersgebeugte hatten ihren Humus der Weisheit gegeben, auf daß das Pflänzlein nicht allzu bald wieder eingehe, aber auch viele Junggärtner hatten emsig mit den Gießmaschinen geklappert. Wie einst sollte die jungfräuliche Blüte beim Entblättern ein paar Esoterika zeigen: die Chiffrierungen der Eingeweihten, der Beschwörer des Rätselhaften und Verborgenen unserer schnöden Welt. Aufflattern sollte sie also, die rätselhafte und dennoch oder vielleicht deshalb so luftige Blume, ähnlich dem, das der Philosoph Hogrebe so beschrieben hat: «Wenn sich die Poesie mit ihren Mitteln der sprachlich-ästhetischen Konstruktion, mit ihrer technisch reflektierten Phantastik von den Denk- und Erfahrungsfesseln des Gewöhnlichen und Normierten zu lösen versteht, wenn sie Ergebnisse wissenschaftlichen Scharfsinns zu leuchtender Sinn-Bildlichkeit umzuschmelzen lernt, wenn ihr gleichsam die imaginierende Verrätselung ihrer Enträtselungserfolge gelingt, dann kann Sehnsucht zum intelligenten Ferment eines wirklichen Wissens werden. Das Fragmentarische und Verworrene, das Undarstellbare und Unbestimmte [...], erscheint dann als Sinnverheißung an den Zauberworten und Wunderdingen der Poesie.»

Aber ach, es wurde eine Fehlgeburt. Den Abgang ausgelöst hatte eine schier unglaubliche Woge der digitalen Masse, die unter dem modernen Begriff Tsunami alles wegfegt, was an den ollen Gensfleisch alias Gutenberg gemahnt. Nicht einmal das Fundament der sublimierten Gartenlaube war mehr zu sehen am Ende. Alles weggespült vom Fortschritt, der sich mittlerweile Revolution nennt. In Trauer verneige ich mich vor dem anonymen Massengrab.
 
Do, 26.05.2011 |  link | (2448) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Traeumereien















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5813 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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