Besinnungsfindung

Ich stehe auf und gehe in meine kleinere Arbeitshöhle, in meine Besinnungsgalerie. Dort stehen alle Standards, deckungsgleich mit den beiden wandschmückenden Totenköpfen des multitalentierten Schauspieler-Künstlers, der sich mit ihnen auf Malewitschs Schwarzes Quadrat berief und dann doch eingestand, daß sie bei ihm tief in der Romantik wurzeln. Standards sind die Bücher, die ich immer irgendwie dauernd in die Hand nehme, um dies oder das nachzulesen — die erkleckliche Summe der Kunst mit ihren manischen Interpretatoren sowie die Restphilosphen dösen drüben im großen Zimmer in den Regalen von Wand zu Wand und vom Boden bis zur Decke so vor sich hin —, durchaus die Klassiker, die ich eigentlich gerade erst zu lesen beginne. Ebenso wie die Philosophen, denn ich bin mir längst darüber im klaren, daß ich nichts, aber auch gar nichts verstanden habe von dem, was ich über zwanzig, dreißig und mehr Jahre in mich hineingestopft hatte. Deshalb gehe ich jetzt vermutlich auch erneut zu Herrn Kundera und suche nach ihm im Regal, um die Stelle zu finden, die mir seit langem eine eigenartige Verbindung herstellt zwischen Beethoven und dem fordernd fragenden Muß es sein? von Léo Ferré, die nach dessen Dirigat der Coriolan-Ouverture und in mehrfacher Orchesterbesetzung so durchdringend bei mir ankommt. Das Buch steht irgendwo zwischen Montaigne, Morgenstern, Kleist, Karl Kraus und den Œuvres Completes des Monsieur Isidore-Lucien Ducasse, Comte de Lautréamont — die einen vom andern Stern, der hier vom anderen Berge, dieser Seher vom Monte Video, L’autre à mont. Zwischen diesen Lichtgestalten, den Wortschleudern wider den Ungeist des Banalen muß er wohl auf jemanden wie meinen Besuch, diese gleichermaßen gebildete, intellektuell verzahnende und kluge Frau gewartet haben, die mit seiner Hilfe endlich den Staub aus meinem verdunkelten Hirn bläst. Das Buch ist überladen mit diesen kleinen, an sich sehr praktischen kleinen gelben Klebepapierchen. Doch wer so damit haushaltet wie ich, der tut sich schwer, besondere Stellen zu finden. Offenbar gibt es in diesem Roman nur entscheidende Stellen. Oder ich kann mir nichts merken. Ich suche und blättere. Es ist äußerst schwierig, da ich mir seit einiger Zeit die Unart abgewöhnt habe, in Bücher hineinzuschreiben, richtiger: sie vollzukritzeln — als ob ich Zettel in sie hineinklebte. Dabei bin ich mir nicht darüber im klaren, ob es aus Ehrfurcht vor der Arbeit anderer geschieht, wie die Mutter dem jugendlich grundsätzlich Andersdenkenden versucht hat klarzumachen, oder ich beginne, Sachwerte zu schätzen. Das wäre dann allerdings ein Schritt in die dauerhaft falsche Auslegung des Begriffs konservativ. Sich der Bewahrung zu besinnen wäre die richtige Suche. Denn Älterwerden hat nichts mit Stenose oder Sklerose zu tun. Oder vielleicht doch?


Eine sentimentale Reise • Nach hinten losgehende Erinnerungen
 
Mo, 26.12.2011 |  link | (2241) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


jagothello   (28.12.11, 13:39)   (link)  
Klassiker
liest mit Gewinn, wer selbst klassisch wird oder wurde. Goethe setzt so viel Empfindungsreichtum voraus! Woher soll der kommen, wenn nicht aus dem Leben selbst? Es ist wie bei reichen Filmen: Auch beim 15. Male sieht man Neues, trägt Deutungen heran, die vielleicht vor einem Jahr noch abwegig gewesen wären und die frühere Lesarten schal erscheinen lassen. Kein Grund zur Beunruhigung!















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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