Die Musikhütte brennt

Ein alter Weggefährte nicht nur der Musik bringt mich auf den Pfad des Bewerbers. Im Bürgerengagement sei er gelandet. Es ist derjenige, der mir so unnachahmlich das Höhlen-gleichnis in der platonischen Musik verständlich machte:
Zuerst das Bekenntnis: Ich liebe laute, abgefahrene Musik. Äolisches, Phrygisches und Mixolydisches, Gregorianik und Neumoskribiertes, Bruckner, Frank Zappa und Portishead, Cecil Taylor und John Zorn. Alles fortissimo, alles dB-intensiv. Für mich ist Musik mehr Implosion, nicht so sehr Teilhabe. Sie ist kein soziokulturelles Bindemittel mehr, und ich bin temporärer Datenträger in einer auf handlichen Konserven beruhenden akustischen Vermittlung. Ich bin soz. das gemeine Musik-Schwein. In einer Art autistischer Selbstverteidigung schnalle ich mir den Kopfhörer um und ziehe die Regler auf. Zeit, Raum und Mitwelt bleiben ausgeschaltet: ich zelebriere, lasse mich fertig machen ohne SM-Gefühl! Verliere ein paar Kilo, nachdem ich Jazz Composer's Orchestra ohne Pause durchgehört habe. Nebenprodukte sind heiße Ohren und eine solipsistische Freude am heimlichen Euphorikon.
Von diesem Sonnenloch da unten hatten wir schon einmal Partitürliches. Mit einem weiteren, dieses Kreises der Hausmusik saß ich einst nächtens bis früh um sechs und hörte Schubert bis zum Abwinken, begleitet von immerwährenden einseitigen Anmerkungen, Sibelius sei nicht einmal im Kopf zu ertragen. Das Abwinken geschah mittels eines Wettbewerbs zwischen italienischen und französischen Rotweinen. Sieger wurde ersterer, aber auch nur, weil er aus dem Piemont stammt, und der schmeckt nunmal wie ein (Rand-)Franzose. Über Avantgarde zu dikutieren, dafür bestand kein Bedarf. Nichtigkeiten, alle krank.

Nun bewerbe ich Avantgarde. Dabei handelt es sich längst um Kirchenmusik. Aber ich bewerbe gerne mit, nicht zuletzt, da dort unten, im Südwesten der Republik nahe dem schwäbischen Meer mit Rudermöglichkeit zum Fluchtland Schweiz, Festivitäten immer so genannt werden durften. Wollte ich mich südlich fühlen, dann reiste ich dorthin. Innerhalb Deutschlands habe ich nirgendwo anders solche Fêten gefeiert. Und nicht nur ich, auch andere fuhren dorthin, ums brennen zu lassen.
Vor 25 Jahren, im Dezember 1987, kam John Cage für ein langes Wochenende nach Weingarten und Ravensburg. Die Gesellschaft für Neue Musik Oberschwaben hatte ihn eingeladen, seine neueste Komposition vorzustellen. Cage hatte in Sommer an der documenta 8 teilgenommen und war gerade 75 Jahre alt geworden. Beinahe wäre die Begegnung im letzten Moment gescheitert. Denn als alles arrangiert war, brannte die Frankfurter Oper, wo die Uraufführung von ›Europeras 1 & 2‹ unmittelbar bevorstand, ab. Der Besuch und die geplanten Konzerte wurden verschoben, waren dann aber ein grandioser Erfolg.
In Frankfurt (am Main, nicht fast in Polen) gaben einst die Taxifahrer über Funk durch, die Oper brenne, wenn die Lichter im Foyer angingen, weil Schluß war. In Ravensburg gehen die Lichter an, weil's losgeht mit der Musik. Auch der Gestalter des Flugblatts, nein, ich weigere mich, den neudeutschen Begriff zu verwenden, derjenige, der mir mittels eines Fuders Wein Schuberts Kunstlieder einzuschenken versuchte, brennt nach wie vor lichterloh. Er verwies in seiner Monographie innerhalb des Kritischen Lexikons der Gegenwartskunst auf den Schriftsteller, in dem es immer glüht:
Etwas haltbar machen in diesem endlosen
Flimmern, das einem den Blick verwirrt.
Federico García Lorca sagt: Kunst muß den
Dämon haben, nicht den Engel und nicht die Muße.

Die Ahnung von der anderen Seite, der abgewandten Seite, dunkel genug, und die lustvolle Beziehung zu den Dingen. Bruder Leichtfuß.

Ich behalte mir vor, mich anders zu entscheiden.
Das komplette Programm.
 
Mi, 22.08.2012 |  link | (2019) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: La Musica


enzoo   (23.08.12, 10:40)   (link)  
haben sie
das absichtlich gemacht, dass man für die lektüre dieses beitrages (ohne den links zu folgen) genau vier minuten dreiunddreissig benötigt?


jean stubenzweig   (23.08.12, 11:18)   (link)  
Wie kommen Sie
denn darauf? Habe ich irgendwo (ungewollt) meine Zeitberechnungsformel für den Hörfunk liegengelassen? Die nämlich lautet: 900 Zeichen inclusive den leeren = eine Minute. Das ergibt nachgerechnet allerdings exakt fünf Minuten. Wir haben es getestet, selbst schnelleres Sprechen erbringt kaum mehr Gewinn als zehn Sekunden pro Minute. Allerdings gilt das nicht für rasche Leser, sondern nur für diejenigen, die es via Mikrophon in den Äther senden. Man möchte ja auch für den Hörer verständlich bleiben, wenigstens phonetisch.


enzoo   (23.08.12, 12:23)   (link)  
das sollte ein witz sein
zu john cages stück "4:33", seiner vermutlich bekanntesten "komposition". ein witz der schlechteren sorte anscheinend, nachdem er so ins leere ging.


jean stubenzweig   (23.08.12, 12:45)   (link)  
Nein! Nicht ins Leere.
Ich stand nur weitaus länger auf der Leitung als 4'33. Großartig. Aber immerhin wissen's jetzt alle.


jagothello   (25.08.12, 23:52)   (link)  
Eher Aphrodite
Wie gut, dass ich seit Tagen mit einem Beitrag zu Bachs Suite for Solo Cello No. 6 in D Major, BWV 1012: IV. Sarabande, gespielt von Yo-Yo Ma, hinter dem Berg halte. Ein so... fantastisches, ach was, geiles Stück, zu dem zu sprechen es mich drängt, zu dem zu sprechen mir die Worte fehlen. Nicht Dämon, eher Aphrodite – jedenfalls etwas ganz anderes schwebt mir vor, wenn ich Musik höre!


edition csc   (26.08.12, 12:29)   (link)  
Mit Bach habe ich's
nicht unbedingt so, das ist, wie bei Ihnen vermutlich auch, von meiner Stimmung abhängig. Gleichwohl mich immerzu, wie Frau Braggelmann es nennt, «Depressionsmusik» begleitet. Das sind durchweg diese Töne, die viele irritieren. Was andere niederdrückt, macht mich eher fröhlich. Aber Bach gehört weniger dazu. Deshalb wohl kommen mir jetzt nicht sofort die Noten zu der von Ihnen erwähnten Cello-Suite ins Ohr. Die Klänge dieses Instruments sind überdies nicht das, nach dem ich mich sehne.

Aber das Cello an sich ist mir sicherlich oder auch wohlbekannt. Als noch etwas jüngerer Mensch hatte ich das Vergnügen, mit einer Cellistin befreundet zu sein. Durch sie kam ich in intensiven Kontakt mit einigen Streichern, ein unvergessenenes Hörerlebnis hatte ich, als man mir in einem Holzhaus des 17. Jahrhunderts, das an sich bereits ein Klang- ein Resonenzkörper war, in San Valentino alla Muta ein Ständchen gab. Sie hätte es mir jetzt vermutlich sofort vorgebrummt, aber sie umsummt, umstreicht nicht mehr mein Leben. Sie war es seinerzeit, die mir versicherte, dieses Instrument könne man auch noch in fortgesetztem Alter zu spielen erlernen. Hätte ich es vollbracht, mir erschiene vermutlich auch eher Aphrodite als ein Dämon. Na gut, ich bin auch nicht unbedingt derjenige, der ein teufelsartiges Wesen braucht, um bei unbekannteren Klängen zuhören zu können. Qua Unglaubens bin ich der Teufel selber. Ich benötige nicht einmal den Gedanken an ein Schaumbad, um Lust zu bekommen.

Weshalb halten Sie hinterm Berg mit einem Beitrag dazu? Wegen fehlender Worte. Das kann ich mir bei Ihnen nur unter Schwierigkeiten vorstellen. Andererseits verstehe ich's dann auch wieder. Über Musik zu schreiben, das gelingt nur wenigen. Ich kann's gleich überhaupt nicht. Es kämen nur Hilflosigkeiten heraus, geschwollene Sinnfreiheiten.

Haben Sie denn ein Hinweis darauf, wo ich ich Yo-Yo-Ma im Netz lauschen könnte? Meine EiTöne bieten lediglich Alain Meunier für neunundneunzig Centimes an. Herr Casals verlangt gar ab achtzehn Dollar aufwärts. Aber nach einer kompletten CD mit den Cello-Suiten ist mir ohnehin nicht. Und Ihr Favorit bietet sich in meiner Suchmaschine ausschließlich via China an. Und seinetwegen extra guckeln mag ich nicht. Da muß ich ständig die LSO-Cookies wegschaufeln, da man in diese Apparatur obendrein nur hineingelangt, wenn man Javascript freigibt und somit alle Deichtore sperrangelweit zum Landunter öffnet.


jagothello   (26.08.12, 20:32)   (link)  
Etwas neidisch
macht mich das... Ein solches Ständchen brachte mir noch niemals niemand dar und ich kenne auch, ehrlich gesagt, niemanden, der es könnte. Vielleicht einen, aber von dem will ich keine Liebesbeweise. Gut für mich also, dass es itunes gibt und dort gleich mehrere Versionen der Sarabande- ich kenne zwei und besitze diese. Ich halte übrigens itunes und auch amazon für recht faire Geschäftsmodelle, so dass ich mir in Sachen Musikkonsum die Bequemlichkeit erlaube, keine weiteren Quellen aufzutun. Wahrscheinlich gibt es sie, ich kenne sie aber nicht.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5808 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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