Mutterländisches Ach, mein lieber Yves, dieser zunehmend anschwellende Bocksgesang, dieses tragedische Schuld-und-Sühne-Geschwafel, dieses letztendlich inhaltlose, ausnahmweise mal westjiddische Geseire um Vater-, meinetwegen auch Mutterländisches. Und dann diese immer neuen Mauern, die sie bauen. Da führen sie ein Welttheater auf, die Deutschen, um den sogenannten Fall der Berliner Mauer. Und was geschieht kurz danach? Sie errichten Wälle, wie sie alle Ulbrichts und Honeckers dieser Erde höher nicht hätten ziehen können. Nur eben ein paar Kilometer weiter weg. Das überlassen sie nun denjenigen, die sie vor ein paar Jahren noch überrannt haben. Sie geben es weiter an Europa, das sich nunmal abgrenzen muß, um nicht überrollt zu werden von allen diesen bis an die Zähne bewaffneten Attilas und Saladins. Aber auch Rom hat es nicht geschafft, sie abzuwehren, diese Goten und Kimbern und Teutonen und Vandalen aus dem Barbaricum. Der keltische Gallier Asterix hat es offensichtlich zu sehr in Atem gehalten. Ich hätte mit folgenden Pässen an den Asyl-Grenzen abgewiesen werden können: sowjetisch, heute also russisch, finnisch, bolivianisch, englisch republikanisch südafrikanisch, wieder finnisch; meinen Bruder hatte es zunächst polnisch erwischt. Dort überall haben meine Eltern Station gemacht, und überall hätte ich ausgeworfen werden können, hinein in eine mehr oder minder freudvolle Nationalität. Mein Vater hat es verursacht, ein Getriebener mit einem Treibmittel in den Genen, das mindestens so alt ist wie Marseille, zumindest so alt wie die Geschichte eines Volkes. Damals folgten Frauen züchtig gezüchtigt ihren Männern. Und sei es in die Hölle der Fremde, wo er eben fremd ist. Dort überall hätte ich zu einer Nationalitätsbestimmung kommen können. Aber da mein Vater die Fesseln von Religion und Ehe abgelehnt hat, bin ich aus dem Leib meiner elsässischen Mutter, die sich geographisch lagebedingt eher lothringisch fühlte, aber bisweilen auch gerne heftig pariserisch aufführte, heraus direkt erst einmal Deutscher geworden. 1870/71 mußte die französische Rheinarmee bei Metz, dem gallisch-römischen Mediomatricum, kapitulieren. Bis 1918 war es deutsch. Und dann wieder ab 1940. Das deutsche Reich hatte das durch die Annektion von Elsaß-Lothringen beschlossen. Meine Mutter war Deutsche geworden. Zwangsdeutsche. Das hat sie denen ein Leben lang nicht verziehen. Wohl deshalb handelte sie später nach der Prämisse des Bayern Herbert Achternbusch: Dieses Land hat mich kaputtgemacht. Jetzt bleibe ich solange hier, bis man es ihm ansieht. Meine ganz persönliche Deutschen-Hasserin hat’s ihnen gezeigt. Nach den langen Jahren überall im Ausländischen hat sie sich gerächt und einfach in diesem Land gelebt. Weshalb sie sich allerdings nach der Rückgabe von Lothringen und Elsaß Frankreich 1944/45 nicht schnurstracks wieder französisch gemeldet hatte, sollte mir auf ewig verborgen bleiben. Sie liebte das Rätselhafte. Vor allem ihrem Sohn gegenüber. Kinder müssen ja schließlich nicht alles wissen. Auch, wenn sie schon ein bißchen älter sind. Und hätte sie mit dem Auswurf meiner wenigstens noch ein bißchen gewartet und wäre ins Nachbarland umgezogen — am 2. Januar 1946 wurde das Saarland wieder der Grande Nation zugeschlagen —, bevor sie sich an meines Vaters Wanderleben beteiligt hat, nachdem Besatzungssoldaten ihn aus seiner kurz- und zwischenzeitlichen Behelfsunterkunft herausgeholt hatten, dann hätte ich später nicht zur Préfecture bittgehen müssen und mir die Kommentare dieses verbeamteten Generalabweisers ersparen können, die er ungefragt — auf deutsch! — ablieferte angesichts des höchstministeriellen Schreibens: Nun gut, Monsieur, nach den Gesetzen der République Française sind Sie von Abkunft her Franzose. Sie benötigen also lediglich eine Urkunde sowie einen Paß. Beides liegt hier vor mir, und es wird Ihnen ausgehändigt werden. Doch weshalb zieht es Sie so weit in, nenne ich es einmal so, in den Süden? Wäre für Sie Ihre eigentliche Heimat nicht genehmer? Diesen fonctionnaire administratif, quasi ein elsässischer «Landsmann» von mir, wie er nebenbei erwähnte, diesen mâitre d'hôtel der Gnade, hatten sie zu den métèques kurz vor Afrika abkommandiert. Er litt bereits seit zwanzig Jahren darunter. Wahrscheinlich hatten sie ihn wegen rechtsrheinischer Umtriebe strafversetzt. Jeder Deutsche sei ihm lieber als diese racaille, das sagte er dann doch lieber französisch, fast sah man den (Ab-)Schaum vorm Mund, vermutlich in vorauseilendem Gehorsam gegenüber seines späteren Monsieur le Président de la République, den er selbstverständlich wählen würde, der das Pack, nein, selbstverständlich lediglich die Cités würde auskärchern, das äußerte er nonverbal mit funkelnden Äuglein. Auch wenn die Boche seinem Großvater bei Verdun, da hatte er die Sprache wieder ingang gesetzt, nicht in sein Sitzfleisch getreten, sondern derart hineingeschossen hatten, daß man zuhause mal wieder eine ordentliche viande hachée zu essen bekam. Begleitet war das von mildem Lächeln. Man befand sich ja unter Männern, Landsmännern sozusagen. Ich habe es ihm nicht gesagt, daß ich gerade deshalb in den Süden ginge, in diesen riesigen städtischen Fischtopf, in dem seit 2600 Jahren das vorrömische Europa schwimmt, dorthin, wo alle gefüllte Weinblätter äßen, wie der italienischspanischstämmige Franzose Jean-Claude Izzo geschrieben hatte, und eben nicht, um Menschen wie ihn zu treffen, die doch besser in ihre handgehäkelte Fackwerkbiederkeit mit kleinstteilig romantisierender Deutschensehnsucht hineinpaßten. Ich habe mich ebenso duckmäuserisch verhalten, wie ich es an anderen hasse und es ihnen vorwerfe. Ich habe dazu geschwiegen, damals, wegen einer Urkunde und einem Paß, die er mir auch hätte aushändigen müssen, wenn ich ich ihn einen widerlichen salaud, einen Hundsfott geheißen hätte. Er solle doch wissen, hätte ich ihm noch sagen müssen, daß hier in dieser Stadt die Kanonen immer gen Festland gerichtet waren. Aber ich wollte einfach endlich zuhause angekommen sein. À bon entendeur, salut ! Jean
Wurzeln Ich bin Jahrgang 1944 und habe viele Gesichter und Wurzeln. Vielleicht aber auch gar keine. Es gibt Menschen, die deshalb meinen, es sei kein Wunder, daß ich ein haltloser oder gar — je nach ideologischer oder gänzlich geistfreier Positionierung — vaterlandsloser Geselle sei. Die Sache mit dem Vaterland sei ohnehin eine Sache der Mutter, sagt man dort, wo ich eine meiner Wurzeln habe. Oder eben ihretwegen keine. Was mein Problem wäre, wenn ich eines damit hätte. Ich versuche, in Lübeck Herrn Buddenbrock immerfort aus dem Weg zu gehen*, manchmal verstecke ich mich hier oder hier oder hier oder dort oben, darf mir dank der Ardennerin Madame Lucette mittels meines 51ers auch das nicht minder rauhe Holsteinische warmtrinken, genieße ihn jedoch besonders in der Bar Marengo am Cours Jean Ballard, benannt nach dem Verleger und Herausgeber der (von Marcel Pagnol als Fortunio gegründeten) Zeitschrift Les Cahiers du Sud, im 1. Arrondissement von Marseille, der Heiligen Stadt des Pastis und meiner kuscheligen Heimeligkeit am Cours Belsunce. Dort ist nicht Frankreich, dort aß man schon immer, wie Jean-Claude Izzo schrieb, die gefüllten Weinblätter der Levante, wer nur einen Spatenstich tut, stößt garantiert auf ein antikes Griechenklo, dort waren die Kanonen schon immer gen Festland gerichtet. Nicht, daß ich ein Krieger wäre. Alles Soldatische, Militärische war mir von jeher ein Greuel. Aber man kennt es ja: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Einige Jahrzehnte habe ich, zumindest teilweise, letztendlich dann doch verkehrt gelebt, indem ich (beruflich) Regeln eingehalten habe, die meinem eigentlichen Charakter zuwiderliefen. Damit ist nun Schluß. Ich besinne mich meiner Eigenschaften. Und sei's drum, daß ich keine habe. Nun bin ich Privatier. Nun darf ich('s) sein. Was ich hier an Geschriebenem öffentlich mache, ist meiner Eitelkeit geschuldet. In ganz jungen Jahren erreichte mich die Erkenntnis: Das Bißchen, das ich lese, kann ich mir auch selber schreiben. Doch dann erkannte ich, daß man dafür entweder ganz jung, ganz alt oder aber reich sein muß, will man davon auch noch leben. Also ging ich zwangsläufig zunächst diesen gefürchteten steinigen Weg: erst einmal etwas lernen, also mit wissenschaftlichen Assistenten im Keller Tischtennis zu spielen, Professoren zuhören und deren Bücher lesen. In logischer Folge eines sich daraus ergebenden konsequenten Nichtsuchens, aber trotzdem irgendwo Ankommens betätigte ich mich ein längeres Jahrzehnt journalistisch in Bereichen, in denen ich mich plan- und ziellos an den Universitäten herumgetrieben hatte. Als ich merkte, daß sich die Welt trotz meiner publizistischen Tätigkeit nicht nach meinen dann langsam erwachsenden Vorstellungen verändern wollte, setzte ich mich ab in den stillen elfenbeinernen Turm eines Verlages mit lauter Nachschlagewerken und Büchern von anderen, die keiner braucht und vielleicht deshalb im kleinen geschlossenen Kreis so beliebt waren und wurden. Allerdings hatte ich nicht bedacht, daß ich dort noch präziser sein mußte als im Journalismus. Harte zwanzig Jahre waren das. Aber die sind nun vorbei. Jetzt darf ich Wahrheit und Wirklichkeit endlich verquicken, zumal es in Reinheit weder das eine noch das andere gibt. Ich multikultiviere. Und das Liebste, das ich lese, darf ich mir jetzt wieder selber schreiben. * Das ging soweit, daß er mich mittlerweile nach Hamburg vertrieben hat. Aber es ist schließlich ohnehin die Schwesterstadt von Marseille. Seit den fünfziger Jahren. So passen wir auch sehr viel besser zusammen. Der zeichnerische Kommentar zu wurzelspezifischen Ritualen entstammt dem Stift des zu dieser Zeit vierzehnjährigen Moritz F.
Zustandsbeschreibung «Mächtig steht die Frage auf, wie dem Tag in die Knie zu verhelfen ist. Früher war das anders, da waren die Tage nicht so lang. Ungefragt vergingen sie wieder. Was bietet das Leben an Spannung, nicht viel. Die Dramaturgie ist schlecht, und wo man hinsieht Längen, fürchterliche Längen!»Johannes Muggenthaler
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